Wo ist der Stift? Und wo das Mathebuch? Leo* (Name geändert) schlurft in die Garderobe, um im Thek nachzusehen. Die Lehrerin quittiert es mit einem genervten Blick, denn die anderen haben längst zu arbeiten begonnen. Leider nichts gefunden – und der Banknachbar will seine Stifte heute auch nicht ausleihen.

Leo schubst, der Nachbar wird laut. Ein Etui fällt klimpernd zu Boden. Jetzt schimpft die Lehrerin. Auch wegen der Finken, die Leo schon wieder nicht trägt. Er hatte die Lehrerin ja noch fragen wollen, wo im Wochenplan er weiterarbeiten muss. Doch das hat er vergessen. Wütend rennt er aus dem Zimmer. Leo hat ADHS. Solche Situationen sind für ihn Schulalltag.  

Heute haben alle Kinder ein Recht darauf, in die öffentliche Schule zu gehen. Auch Leo. Für die Lehrer ist das Unterrichten damit noch anspruchsvoller geworden. Sie können verhaltensauffällige Kinder nicht mehr einfach in die Sonderschule schicken, weil sie im Unterricht nicht tragbar sind. Separiert wird nur noch in Ausnahmefällen, wenn es für das Kind besser ist.

Der Lehrer, Psychologe und Heilpädagoge Markus Matthys findet das richtig. «Es geht um Menschenrechte», sagt er. Allerdings würden die Bedingungen für die inklusive Schule noch nicht überall stimmen. Mit der Weiterbildung «Verhalten und schwierige Situationen in der Schule», die er an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik anbietet, will er das ändern. «Die Lehrer müssen für diese Herausforderungen fit gemacht und unterstützt werden.» 

«Heute gibt es selten eine Klasse, in der man sich auf die Vermittlung des Schulstoffs konzentrieren kann.»

Andrea Furrer*, Heilpädagogin

Diese Erfahrung macht auch die Heilpädagogin Andrea Furrer*, die ihren richtigen Namen nicht preisgeben möchte, um ihre Schüler zu schützen. «Heute gibt es selten eine Klasse, in der man sich einfach auf die Vermittlung des Schulstoffs konzentrieren kann.» Sie arbeitet in Regelklassen, in denen drei bis vier Kinder ADHS haben, was keine Seltenheit ist. Vielen Lehrern fehle die Handhabe für den Umgang mit ihnen, gerade wenn sie frisch vom Studium kämen. Aber sie seien meist offen für Anregungen, betont sie. «Nur einmal wollte mich ein Lehrer nicht im Klassenzimmer haben.» 

Oft ist schon viel gewonnen, wenn Lehrerinnen anerkennen, dass Kinder mit ADHS nicht absichtlich stören. Sie leiden an einer dauernden Reizüberflutung, weil das Gehirn Impulse nicht genügend filtern kann. Deshalb fällt es ihnen auch schwer, sich zu konzentrieren. Sie können sich nicht einfach zusammenreissen. «Wenn man das verstanden hat», so Furrer, «geht vieles einfacher. Man ist nicht mehr so leicht genervt.» 

Zu viel Ablenkung

Oft muss die Heilpädagogin Schülern wie Leo zuerst einmal beim Suchen des Arbeitsmaterials helfen. Das klingt banal, kann aber, wie das eingangs genannte Beispiel zeigt, Störungen im Klassenzimmer verhindern. Und Leo helfen, mit dem Lernen zu beginnen. Sie zeigt den Kindern Tricks für mehr Ordnung und Übersicht, etwa Farbstifte und Bleistifte im Etui mit einem Gümmeli zusammenzubinden.

Auch die Schulaufgaben Primarschule «Ufzgi sind meistens sinnlos» sind ein Dauerbrenner: Sie sorgen zu Hause für Zoff und gehen oft vergessen. Schulagenden voller Rätsel und Witze lenken ADHS-Kinder zu sehr ab, und in die kleinformatigen Aufgabenhefte können sie kaum Notizen machen, weil sie wegen motorischer Schwierigkeiten oft gross schreiben. Furrer führt mit ihnen einen Aufgabenordner im A4-Format. 

Nicht selten regt sie eine neue Sitzordnung an. Die bei den Lehrern beliebten Gruppentische oder die U-Form erschweren es Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen, sich zu konzentrieren. Dauernd prasseln Eindrücke auf sie ein, da gehen die Anweisungen des Lehrers leicht unter. Furrer empfiehlt Trennwände zwischen den Arbeitsplätzen, die klassische Reihensitzordnung oder ruhige Arbeitsplätze als Ausweichmöglichkeit.

In der ersten Reihe, in der Nähe des Lehrers, können ihre Schützlinge fokussierter arbeiten. «Und der Lehrer muss nicht über die ganze Klasse hinweg ermahnen. Er kann dem Kind etwas zuflüstern oder ihm die Hand auf die Schulter legen, damit es ruhig werden kann.» 

Abgeschirmt lernen

In Furrers Klassen ist der Pamir-Kopfhörer Standard, viele Kinder benutzen ihn für das konzentrierte Arbeiten. Zudem hat sie einen Gruppenraum eingerichtet, der den Bedürfnissen von ADHS-Kindern entgegenkommt: Man kann sich an abgeschirmte Arbeitsplätze und in Lernwaben zurückziehen.

Die Farben sind ruhig, Dekoration gibt es keine. In einer Wandhalterung stehen Stifte, Gummis und Lineale bereit. Manchmal merkt ein Kind mitten im Unterricht, dass es sofort aus dem Klassenzimmer muss, weil es sonst explodiert. Es hebt einen farbigen Zettel hoch, und der Lehrer braucht nur mit dem Kopf zu nicken, um das kleine Time-out zu erlauben.  

«Oft stören Kinder auch einfach, weil der Unterricht nicht gut ist.»

Markus Matthys, Lehrer, Psychologe und Heilpädagoge

Spezifische pädagogisch-therapeutische Ansätze wie Teacch oder Sozialkompetenztraining nach Petermann finden dagegen nur zögerlich Eingang in die Schulstuben. Bei Ersterem geht es darum, den Unterricht mit akustischen und visuellen Signalen räumlich und zeitlich besser zu strukturieren. Das Zweite ist ein verhaltenstherapeutischer Ansatz, der davon ausgeht, dass Kinder lernen können, sich angemessen zu benehmen.

Solche Interventionen hätten einen gewissen Effekt, meint Matthys, aber er sieht sie auch kritisch, weil sie dem Kind signalisieren: Bei dir stimmt etwas nicht, du musst dich ändern. «Wir müssen immer das Ganze anschauen. Oft stören Kinder auch einfach, weil der Unterricht nicht gut ist.»

Regeln können kontraproduktiv sein

So sind lange Erklärungen und Anweisungen für ADHS-Kinder keine Hilfe, im Gegenteil, sie verwirren sie. Regeln sind für die Klassenführung wichtig, doch nicht alle Regeln sind gleich gut. Ein ADHS-Kind – und seine Lehrerin – kostet der Versuch, das Finkentragen durchzusetzen, oft nur unnötig Nerven. Und in vielen Schulhäusern gebe es schlicht zu viele, manchmal sogar widersprüchliche Regeln, sagt Matthys.

Er findet es wichtig, dass Regeln gemeinsam mit den Kindern erarbeitet werden: Findet ihr auch, dass es zu laut ist? Was können wir tun? Wenn die Klassenregeln dann als Resultat einer gemeinsamen Auseinandersetzung in Kinderschrift an der Wandtafel hängen und die Lehrerin vielleicht auch noch eine Belohnung für ihre Einhaltung in Aussicht stellt – etwa einen Klassenausflug in den Kletterpark –, stehen die Zeichen auf Erfolg. «Das schafft eine neue Kultur», ist Matthys überzeugt, «weg von der Idee: Du bist ein schwieriges Kind und wirst bestraft.» 

Die besten Regeln nützen aber nichts, wenn die Lehrerin nicht präsent ist. «Sie muss ein echtes Interesse an den Bedürfnissen und der Entwicklung von Kindern haben», sagt Matthys. Die Beziehung zwischen Lehrerin und Kind ist entscheidend. Es macht einen grossen Unterschied aus, ob sie am Morgen jedes Kind begrüsst oder am Pult sitzt und korrigiert und beim Klingeln aufsteht und erwartet, dass alle parat sind. Ohne die Freude am Lebendigen und ja, wohl auch die Einsicht, dass es keinen Unterricht ohne Störungen gibt, geht es nicht. 

Das ist einfacher gesagt als gelebt. Nur allzu oft werden ADHS-Kinder in der Schule als Nervensägen wahrgenommen, die das Unterrichten erschweren. Das spürt natürlich auch das Kind, und es ist nicht erstaunlich, wenn es dann noch weniger kooperativ ist. Wenn die Beziehung zwischen Lehrerin und Kind derart vergiftet ist, braucht es manchmal ein Gegengewicht: verbindlich festgelegte Einzelsettings, in denen die Lehrerin nur für das Kind da ist und sich für dessen Tun interessiert, ohne es zu bewerten. «Banking Time» nennt sich diese Methode. 

Enge Zusammenarbeit

Die heutige Schule ist ein komplexes Geschehen. Für einen gelingenden Unterricht müssen Heilpädagogen, Schulpsychologinnen und Lehrer eng zusammenarbeiten. Furrer bereitet den Unterricht gemeinsam mit den Lehrerinnen vor, übernimmt auch mal einen Einstieg in die Mathestunde. So kann sie manchen Stolperstein aus dem Weg räumen. «Das ergibt mehr Sinn, als wenn ich im Nachhinein alles für ‹meine› Schüler anpassen muss», so Furrer. «Wenn es in einer Klasse schlecht läuft», sagt Matthys, «liegt es oft an der fehlenden Kooperation, nicht an einzelnen Kindern.» 

Die Heilpädagogin Andrea Furrer arbeitet 13 Lektionen pro Woche in einer Klasse. Davon kann manche Klassenlehrerin nur träumen. Möglich macht diese entspannte Situation ausgerechnet die Tatsache, dass bei einigen ihrer Schüler eine ausgeprägte Verhaltensstörung diagnostiziert wurde. Was zu vielen heilpädagogischen Förderstunden führt.

Tipps: Das können Eltern tun
  • Achten Sie darauf, dass Ihr Kind im Klassenzimmer einen geeigneten Sitzplatz erhält.
  • Bitten Sie die Lehrerin, Aufgaben wie einen Wochenplan zu priorisieren. Grosse Aufgabensammlungen überfordern ADHS-Kinder oft.
  • Besprechen Sie, wie sich Reize minimieren lassen: Steht ein Pamir zur Verfügung? Gibt es ruhige Gruppenräume?  
  • Schulaufgaben sind in der Verantwortung der Schule und dürfen daheim nicht zu Dauerstress führen. Wenn der Druck weg ist, klappt es oft besser. 
  • Es ist hilfreich, wenn der Lehrer das Aufgabenheft kontrolliert. Oder die Aufgaben und Prüfungen (zusätzlich) digital erfasst – so sind die Eltern auf dem aktuellen Stand.
  • Besprechen Sie anstehende Ausflüge mit Ihrem Kind und bereiten Sie es auf allfällige Schwierigkeiten vor.
  • Stellen Sie Regeln, die Stress verursachen, in Frage.
  • Fragen Sie, ob Ihr Kind Tests in einem ruhigen Raum und ohne Zeitdruck schreiben kann. 
  • Fokussieren Sie auf die Stärken Ihres Kindes statt auf seine Schwächen. 
Die besten Artikel – Woche für Woche
«Die besten Artikel – Woche für Woche»
Julia Hofer, Redaktorin
Der Beobachter Newsletter