Karin Alder, 30, Sekundarlehrerin in Bischofszell TG, erlebte vor den Sommerferien turbulente Tage. Ihre Kollegin, eine Lehrerin aus Deutschland, mit der sie parallel die erste Sekundarklasse unterrichtete, hatte den Bettel hingeschmissen und ihre Stelle von einem Tag auf den anderen gekündigt. «Sie kann in Deutschland unter besseren Bedingungen arbeiten», erklärt Alder den abrupten Abgang.

Die Schulleitung sah sich gezwungen, so schnell wie möglich einen Ersatz ins Schulzimmer zu stellen derzeit nicht einfach, denn der Markt ist ausgetrocknet. Kurzfristig sprang für zwei Wochen eine Primarlehrerin ein, danach begleitete eine Studentin der Pädagogischen Hochschule die Schüler bis zu den Ferien. «Mit ihr hatten wir Glück, weil sie die Klasse von Anfang an im Griff hatte.» Doch Karin Alder erinnert sich auch an überforderte Aushilfen: «Im letzten Jahr unterrichtete ein Student, der an seine Grenzen stiess», weil es ihm an pädagogischen Kenntnissen gefehlt habe.

Das Beispiel aus Bischofszell ist bezeichnend und an Schweizer Volksschulen längst an der Tagesordnung. In den Klassenzimmern mangelt es an ausgebildetem Personal, weil sich immer mehr bestandene Lehrpersonen von ihrem einst aus Überzeugung ergriffenen Beruf abwenden. In der Not werden unqualifizierte Nachwuchskräfte als Pädagogen angeheuert. Dass bei solchen Schnellverfahren die Qualität des Unterrichts leidet, liegt auf der Hand. «Nicht jeder Mathematikstudent kann dieses Fach auch unterrichten», sagt Beat W. Zemp, Präsident des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH). «Ein guter Lehrer verfügt über fundiertes pädagogisches Wissen und muss sich Erfahrung aneignen.»

Was sich Zemp wünscht, ist jedoch oft weit entfernt von der Wirklichkeit. Das zeigt sich derzeit im Kanton Schwyz: «Mangels Alternativen haben wir drei Maturanden mit einem befristeten Lehrvertrag angestellt», sagt Markus Probst, Chef des kantonalen Volksschulamts. Zudem werde vermehrt Personal aus Deutschland und Österreich geholt, da es gegenwärtig zu wenig Real- und Sekundarlehrer gebe. «Pädagogen, die im Ausland ausgebildet werden, verfügen aber nicht über die breite Bildung, die in der Schweiz vermittelt wird», meint Probst.

Die Lage ist bitter Ernst

Allein im Kanton Aargau standen letztes Jahr 52 junge ausländische Lehrkräfte das erste Mal vor Schulklassen. «Wir mussten regelrechte Sammeltransporte arrangieren, um sie zu holen», erinnert sich Urs Kaufmann vom Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverband. Die Situation hat sich heuer nicht verändert: «Es gab 500 Kündigungen, etwa gleich viele wie im Vorjahr», so Kaufmann. Doch neu zeichnet sich in Deutschland ebenfalls ein Lehrermangel ab. «Ob wir weiterhin auf Hilfe aus dem Ausland zählen können, ist noch unklar.»

In der Zwischenzeit hat das Schweizer Bildungswesen reagiert: Umschulungen sollen helfen, die Lücken zu stopfen. So meldeten sich im Kanton Bern mehr als 200 Kindergärtnerinnen für eine Lehrer-zusatzausbildung an. Zudem beginnen gerade die ersten 110 Absolventen von Wiedereinstiegskursen mit dem Unterrichten. «Leute holen, wo noch etwas Reserve ist ein cleverer Schachzug», urteilt Lehrerausbilder Stefan Herrenschwand. Diese Sofortmassnahme hat für ihn aus pädagogischer Sicht jedoch den Haken, dass damit fast nur Frauen nachgezogen werden, während sich die Männer zusehends aus dem Lehrerberuf verabschieden. «Das ist erzieherisch problematisch, weil dadurch einseitige Rollenbilder gepflegt werden.»

Was Stefan Herrenschwand am meisten stört, ist die Kurzlebigkeit solcher Aktionen: «Einmal erzielt man damit vielleicht Wirkung. Doch was kommt dann?» Wohin allzu hektischer Aktivismus in der Bildungspolitik führen kann, hat der Dozent für Musik am eigenen Leib erfahren: Herrenschwand verlor am Ende des abgelaufenen Schuljahrs seinen Job, weil das Institut für Lehrerinnen- und Lehrerausbildung in Biel per Regierungsbeschluss geschlossen wurde weniger als ein Jahr nach der Eröffnung.

Die Reform der Reform, zurück zu einer Zentralisierung der bernischen Lehrerbildung, hat dramatische Folgen: 2003 wird wegen der organisatorischen Umstellung keine einzige neue Primarstufenlehrkraft ihr Diplom erhalten, 2004 dürfte im besten Fall die Hälfte der im Kanton benötigten Pädagogen ihre Ausbildung abschliessen. «Da bahnt sich», sagt Herrenschwand, «eine Katastrophe an, die von den Verantwortlichen verdrängt wird.»

Tatsächlich weigern sich die Politiker beharrlich, von einem Lehrermangel zu sprechen. «Es stimmt nicht, dass uns die Lehrer davonlaufen», sagt Hans Ulrich Stöckling, Präsident der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Die Zahl der Rücktritte sei ähnlich hoch wie in den vergangenen Jahren (siehe Interview Seite 22).

Stimmung auf dem Tiefpunkt

Quantitativ mag diese Aussage zutreffen an den Vorbehalten in qualitativer Hinsicht ändert sie nichts: «Sicher, am Ende hat man es immer noch knapp geschafft, dass jemand vor der Klasse steht», sagt Ruedi Hofmänner, Kopräsident des Kantonalen Lehrerinnen- und Lehrerverbands St. Gallen. «Jemand! Das ist aber bei weitem nicht das, was wir uns wünschen.» Hofmänner ärgert es, dass von offizieller Seite mit allen erdenklichen Mitteln versucht werde, die Schwächen des Systems zu übertünchen. Das komme einer «Pflästerlipolitik» gleich, meint er.

Auch Urs Loosli, Präsident des Verbands Sekundarlehrkräfte Kanton Zürich, ist mit der gegenwärtigen Lage nicht zufrieden. Dem Aufkommen von Kurzlehrgängen für Quereinsteiger, wie sie an den neuen Pädagogischen Hochschulen angeboten werden, steht er skeptisch gegenüber. Gärtner, Sachbearbeiter oder ausgemusterte Swissair-Piloten können nach einem zweijährigen Grundkurs bereits vor einer Klasse stehen. «Eine solche Entwick-lung läuft der geforderten Erhaltung der Schulqualität zuwider und ist ein Affront gegenüber den stufengerecht ausgebildeten Lehrpersonen», sagt Loosli.

Als ob die Stimmung innerhalb der Lehrergilde nicht schon angeschlagen genug wäre. Deutlich zeigt dies eine aktuelle Befindlichkeitsumfrage des Dachverbands LCH (siehe Grafik Seite 23). Die Schlussfolgerung lässt sich auf einen kurzen Nenner bringen: Die Schweizer Lehrer wünschen sich vor allem, wieder mehr Lehrer sein zu dürfen.

«Ich kann nicht Mami und Papi sein, Probleme von Teenagern lösen und zugleich noch kompetent unterrichten», sagt René Esposito, ehemaliger Reallehrer aus Zürich. Die Überforderung der Pädagogen hat ihre handfesten Gründe: Zum einen werden die Klassen grösser, gibt es immer mehr Kinder mit sozialen Problemen und wächst der Anteil fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler. Zum anderen stellt die Wirtschaft verschärfte Ansprüche an die Grundausbildung, worauf die verunsicherten Bildungspolitiker mit einem Bombardement von Reformen gesamtschweizerisch laufen über 200 und ständig neuen Lehrmitteln reagieren.

Lehren schadet der Gesundheit

Nicht zu vergessen sind die Eltern, die das Tun in den Klassenzimmern mit Argusaugen beobachten mehr denn je um das Wohlergehen ihrer Sprösslinge besorgt. «Dauernd stehen die Eltern vor der Tür und verlangen eine Rechtfertigung für den Unterrichtsstil», erzählt Sonja Luger, ehemalige Sekundarlehrerin aus Winterthur. Höhepunkt war, als eine Mutter auf eigene Faust auf Besuch kam, in Begleitung einer Psychologin. Diese sollte die Qualität der Schulstunde beurteilen. Kein Wunder, räumen Lehrer nach solchen Erlebnissen entnervt das Feld.

Der Druck von allen Seiten schlägt ihnen nicht nur auf die Laune, sondern auch auf die Gesundheit. Anfang Jahr hat eine Untersuchung des Arbeitsforschers Eberhard Ulich unter 3000 Lehrpersonen in Basel-Stadt ergeben, dass fast ein Drittel unter emotionaler Erschöpfung leidet. Lustlosigkeit, Verunsicherung und Überforderung bis hin zu Suizidgedanken sind die Symptome, die sich unter dem Schlagwort Burnout-Syndrom vereinigen.

Für ausgebrannte Lehrer, die sich dem Druck des Unterrichtens nicht mehr gewachsen fühlen, wurden in Zürich, Bern, Basel und St. Gallen eigene Beratungsstellen gegründet. Am meisten Erfahrung auf diesem Gebiet hat Martin Vatter, der seit 1994 Berner Pädagogen in Krisensituationen berät. Allein seine Statistik spricht Bände: Hatte er im ersten Jahr noch elf Konsultationen, so waren es 2001 bereits 400. Und die Zahl der Lehrer, die im Kanton Bern aufgrund psychischer Probleme frühpensioniert werden mussten, stieg in der gleichen Zeitspanne von 90 auf über 600. «Diese Entwicklung ist dramatisch und alarmierend», sagt der Psychologe.

In Vatters Beratungstätigkeit hat sich als Hauptproblem herauskristallisiert, dass sich die Lehrer allein gelassen fühlen: Die Gesellschaft delegiert immer mehr Aufgaben an die Schule, ohne ihr entsprechende Mittel zu geben. Hier machen Lehrerorganisationen denn auch Vorschläge, wie die schwierige Situation entschärft werden könnte. So plädiert der LCH dafür, die Pädagogen von der Stoffmenge zu entlasten, ihren Berufsauftrag klarer abzugrenzen, die Laufbahnmöglichkeiten auszubauen und bessere Löhne zu zahlen. Erziehungsdirektor Stöckling doppelt nach: «Lehrer müssen mehr Unterstützung von aussen bekommen.» Das kostet und Bund und Kantone müssen den Tatbeweis erst noch erbringen, dass der Wunsch nach guter Bildung grösser ist als der Sparwille.

Gesucht: 25'000 Pädagogen

Unbestritten herrscht Handlungsbedarf, das Berufsbild und die soziale Stellung der Lehrer zu stärken. Denn eines ist klar: Es wird künftig in der Schweiz mehr Pädagogen brauchen. Das liegt zum einen daran, dass die gestiegenen Anforderungen an den Unterricht generell mehr Personal erfordern. Hinzu kommt nach Angaben der Erziehungsdirektorenkonferenz das Problem, dass in den nächsten zehn bis 15 Jahren je nach Stufe zwischen 20 und 35 Prozent der Lehrkräfte in Pension gehen das sind gegen 25000 Berufsleute, die zu ersetzen sind.

Ein immenser Rekrutierungsauftrag, zumal für eine Berufsgattung, die mit einem dramatischen Imageschwund kämpft. Im öffentlichen Ansehen sind die einst geachteten Autoritätspersonen zu Prügelknaben geworden, die sich ständig gegen das Klischee des gut verdienenden Ferientechnikers wehren müssen. Das führt bis zur Selbstverleugnung, wie der Berner Psychologe Martin Vatter in seiner Beratungsstelle feststellt: «In der Öffentlichkeit nenne ich meinen Beruf nicht mehr, sonst werde ich nur schräg angeschaut», gestand ihm kürzlich eine geknickte Lehrerin.

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