Pfeilgerade verläuft die Stanserstrasse in Ennetbürgen NW quer durch das Dorf. Nördlich davon am Hang liegen die neuen Siedlungen, südlich davon steht das Schulhaus. Es ist eine Strasse, die geradezu einlädt, zu schnell zu fahren. Dutzende Kinder überqueren sie täglich auf dem Weg zur Schule.
Karin Cornell beobachtet hier immer wieder heikle Situationen. Die Mutter von sechsjährigen Zwillingen hat die Gefahr im September bei der Aktion «Achtung Schulweg» des Beobachters und der Rechercheplattform Correctiv Crowd Newsroom gemeldet. Ihre grösste Sorge teilt sie mit rund 70 Prozent der 585 Teilnehmerinnen und Teilnehmer: überhöhte Geschwindigkeit.
Nicht in allen Fällen lässt sich die subjektive Wahrnehmung belegen, doch immer wieder zeigen Unfalldaten oder Gespräche mit der Polizei, dass tatsächlich zu schnell gefahren wird. Auf der Stanserstrasse in Ennetbürgen ereigneten sich allein in den letzten zehn Jahren fünf Fussgänger- und sechs Auffahrunfälle im Bereich von Fussgängerstreifen.
Selbst die Gemeinde weiss um die Tempoüberschreitungen und spricht von einem «Highway». «Das hohe Tempo und die Ungeduld der Autofahrer machen die Strasse extrem gefährlich», sagt Karin Cornell. Das Problem lasse sich nur mit einer Temporeduktion lösen.
Tatsächlich soll hier 2024 im Rahmen eines Gesamtmobilitätskonzepts auch Tempo 30 zur Debatte stehen. «Der Langsamverkehr nimmt stark zu, dem wollen wir in unserer Gemeinde entsprechend Platz geben», sagt Thomas Kempf, Leiter Hoch- und Tiefbauamt. Mit dieser Haltung dürfte die Gemeinde einen Nerv treffen: Jede dritte Person hat in der Beobachter-Umfrage angegeben, sie wünsche sich in der Nähe von Schulen Tempo 30.
Ein anderes Thema, das viele Eltern beschäftigt, sind unübersichtliche Stellen auf Schulwegen. Eine befindet sich in Goldach SG am sogenannten Küenzlerpass. Die Autos kommen aus einer Rechtskurve direkt auf einen Bahnübergang zu – oft ohne abzubremsen. Wenige Meter unterhalb der Gleise und erst spät zu erkennen ist die offizielle Querungsstelle für Kindergartenkinder. Eltern fordern seit Jahren Verbesserungen.
«Einen so grossen Unwillen, eine gefährliche Situation zu entschärfen, habe ich noch nie erlebt.»
Richi Faust, Koordinator der VCS-Regionalgruppe Rorschach
Nachdem dort der Freund ihres Sohnes angefahren worden war, nahm die Goldacherin Désirée Bösch einen neuen Anlauf. «Die Kinder können die Autos nicht sehen – und die Autofahrer wissen nicht, dass hier ein Schulweg durchführt, weil er nicht rechtzeitig signalisiert ist.» Auf ihr Anliegen, den Schulweg zu verlegen, ging die Gemeinde nicht ein. Der Bahnübergang werde in 10 bis 15 Jahren geschlossen, darum lohnten sich grössere bauliche Massnahmen dort nicht mehr, argumentierte Gemeindepräsident Dominik Gemperli. Und die Verantwortung für das richtige Verhalten auf dem Schulweg liege auch bei den Eltern.
Darum holte Désirée Bösch den VCS ins Boot und sammelte Unterschriften. Sehr zum Missfallen des Gemeindepräsidenten, der Ton wurde gehässig. «Wir sind häufig mit Gemeinden in Kontakt, und nicht immer wurden alle Verbesserungspunkte berücksichtigt», sagt Richi Faust, Koordinator der VCS-Regionalgruppe Rorschach. «Aber einen so grossen Unwillen, eine gefährliche Situation zu entschärfen, habe ich noch nie erlebt.»
Gemeindepräsident Gemperli spricht dagegen von lösungsorientiertem Handeln. «Wir nehmen das Anliegen sehr ernst.» Er sehe das Problem zwar nicht ganz. Dennoch habe man die Situation durch drei Fachexperten prüfen lassen und nun beim Kanton einen Antrag gestellt, dass die Gemeinde eine alternative Querungsmöglichkeit testen darf. «Wir hoffen, die Situation so verbessern zu können», sagt er.
Alternative Möglichkeiten, die Strasse zu überqueren, hat auch der Verein Rägeboge in Dintikon AG markiert. An mehreren Stellen in der 2360-Seelen-Gemeinde sind farbige Blumen auf das Trottoir gemalt. Sie sollen Schulkindern zeigen, wo sie einigermassen gefahrlos über die Strasse gehen können. «Eigentlich wäre es nicht unser Job, für sichere Übergänge zu sorgen», sagt Vereinspräsidentin Nadja Deflorin. Doch der einzige Fussgängerstreifen im langgezogenen Ort befindet sich fernab des Schulwegs der meisten Kinder. Selbst beim Schulhaus gibts nur auf der einen Strassenseite ein Trottoir. Fussgängerstreifen ins angrenzende Wohnquartier fehlen.
An der Gemeindeversammlung im Juni stimmte Dintikon über einen Kommunalen Gesamtplan Verkehr (KGV) und einen Kredit für eine Analyse des Langsamverkehrs ab. Den KGV empfahl der Gemeinderat zur Ablehnung. Für ein kleines Dorf wie Dintikon sei das «zu überzogen und nicht zielführend», sagt Gemeindeammann André Meyer. Das Resultat: Beide Geschäfte wurden abgeschmettert. «Vor allem ältere Leute, die hier aufgewachsen sind, sehen das Problem nicht», sagt Nadja Deflorin. «Da heisst es dann, früher sei man auch ohne Fussgängerstreifen ausgekommen.»
Weniger Hürden für Tempo 30
Ob Ennetbürgen, Goldach oder Dintikon: Die Probleme gleichen sich – und sind oft hausgemacht. Dass Kinder auf ihrem Schulweg gefährliche Situationen erleben, hat auch mit einem aufs Auto ausgerichteten Lebensstil zu tun. Er bringt immer mehr Verkehr – und damit mehr Gefahren für die schwächsten Verkehrsteilnehmer: überhöhte Geschwindigkeit, stark befahrene Strassen, zu wenig Platz auf den Strassen.
Auch werden die Probleme vielerorts ähnlich angegangen: Eltern nehmen primär die Gefahren wahr und rufen nach schnellen Lösungen, Behörden müssen Normen einhalten und möchten hohe Kosten vermeiden. Und während die Behörden Gutachten in Auftrag geben und die Machbarkeit von Bauvorhaben prüfen, werden aus Kindergartenkindern junge Erwachsene.
Was hilft? An manchen Orten vielleicht der Bundesrat. Er hat Ende August beschlossen, dass künftig auf Nebenstrassen und in Siedlungen viel einfacher Tempo 30 eingeführt werden kann als bisher. Für Zehntausende Kinder bedeutet dies, dass die Gefahren auf ihrem Schulweg massiv verringert werden könnten, da in Tempo-30-Zonen bis zu 40 Prozent weniger Unfälle passieren. Der Ball liegt jetzt bei den Gemeinden – sie müssen nur wollen.
Der Beobachter und Correctiv Crowd Newsroom haben bei der Recherche «Achtung Schulweg» gemeinsam dokumentiert, wo es gefährliche Stellen auf einem Schulweg gibt. Schweizweit haben 585 Personen zwischen dem 18. August und dem 25. September an der Datenerhebung teilgenommen, diese ist abgeschlossen. Der Beobachter hat Strassennamen, Tempolimit und gemeldete Unfälle überprüft. Eine Begehung vor Ort fand nicht statt.
Die Datenauswertung der «Achtung Schulweg»-Umfrage zeigt, dass einige Probleme an mehreren Orten auftauchen. In diesen Gemeinden zeigen sich die Probleme stellvertretend:
1: Aegerten BE
Auf der Strasse von Aegerten nach Schwadernau haben Lastwagen kaum Platz zum Kreuzen und weichen deshalb oft auf das Trottoir aus, Häuser stehen teils direkt an der Strasse. Besorgte Eltern wünschen sich deshalb Tempo 30 oder Massnahmen, damit zumindest Tempo 50 eingehalten wird. Der Kanton verspricht, demnächst Tempomessungen durchführen zu lassen und allenfalls entsprechende Massnahmen zu ergreifen.
2: Einigen BE
Der Fussgängerstreifen am Gwattstutz oberhalb von Einigen ist nichts für schwache Nerven! – und schon gar nichts für Kinder. Von der nahen Kurve aus sind Personen auf dem Übergang erst im letzten Moment zu sehen. Einst wollte der Kanton gar den Fussgängerstreifen aufheben, da er zu gefährlich sei. Tempo 30, das die Anwohner gern hätten, lehnt der Kanton ab. Die «verkehrsorientierte Strasse» erfülle die Anforderungen dafür nicht, schreibt der Kantonsingenieur. Man prüfe jedoch, «ob weitere Verbesserungen vorgenommen werden können.»
3: Schlierbach LU
Die Strasse von Schlierbach nach Triengen ist schmal, unübersichtlich und führt teils durch den Wald. Ein Auto und ein Velo können hier kaum kreuzen. Diesen Sommer fiel ein Knabe einen Hang hinunter, weil er einem entgegenkommenden Auto ausweichen musste. Eltern wünschen sich hier maximal Tempo 40.
4: Eschenbach SG
Der Kirchweg in Eschenbach ist längst kein Weg mehr, sondern ein ausgewachsener Parkplatz. Wenn sie in die Schule gehen, müssen die Kinder hinter ein- und ausparkenden Autos durch gehen. Gefährliche Situationen sind an der Tagesordnung. Die Gemeinde erklärt, die Parkplätze würden grösstenteils bei kirchlichen Veranstaltungen ausserhalb der Schulzeiten genutzt. Man gehe deshalb von einem «geringen Gefährdungspotenzial» aus.
5: Davos GR
Davos erstreckt sich über 26 Kilometer. Für den Weg zur Schule nehmen Kinder der äusseren Ortsteile den öffentlichen Bus, steigen im Dorf aus und überqueren die Kantonsstrasse – wo täglich bis zu 15’000 Fahrzeuge verkehren. Einige Kinder gehen über den viel genutzten Parkplatz der Parsennbahnen. 2021 wurde ein Sechsjähriger auf dem Schulweg von einem Auto erfasst und mittelschwer verletzt. Eine Mutter aus Laret, die täglich vier Mal mit ihrem Fünfj.hrigen im Bus mitfährt, bat die Behörden diesen Sommer um Verbesserungen. Die Schule sucht nun mit dem Sozialdienst nach Lösungen. Einen Lotsendienst gibts nicht.
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In diesem Forum diskutieren Eltern, Anwohnerinnen und weitere Betroffene über gefährliche Schulwege und was man dagegen unternehmen kann. Die Beobachter-Redaktorinnen Corinne Strebel und Daniela Bleiker beantworten hier allgemeine Fragen zum Thema. Für spezifische Probleme und Fragen kontaktieren Sie bitte die Hotline des Beobachter-Beratungszentrums unter der Nummer 058 510 73 76.
1 Kommentar
Bei der heutigen Verkehrsdichte sind viele erlaubten Höchstgeschwindigkeiten zu hoch. Denn die werden auch gefahren, obwohl das so vom Gesetz nicht gemeint ist. Meine Frau und ich machen die Erfahrung mit unserem 0815-Auto, dass uns bei jeder Geschwindigkeit, ob 50 oder 80, ein Hoch-PS-Bolide am Heck klebt. Auch wenn wir diese Maximalgeschwindigkeit fahren. Das ist vermutlich ein psychologisches Problem. Da muss man sich über die vielen Auffahrunfälle nicht wundern. Bei 30 km/h würden die Bremswege deutlich kürzer.