Das alte Bern ereilte die Jost-Töchter am «Chotzibrünneli». Hier, unweit des Schlosses Rümligen, knipsten die zwei Schwestern Bilder für einen Fotokurs. Bis die Schlossherrin erschien. «Frau von Stockar forderte die beiden auf, ihren Namen zu nennen», erzählt Vater Heinz Jost, «und bei diesem Wortwechsel entwendete sie den Fotoapparat.»

Die beiden jungen Frauen waren auf Privatboden erwischt worden. Das riesige Gelände mit 70 Hektaren Garten, Park, Wald und Weiden – ein Sechstel der ganzen Gemeindefläche – ist zwar von allen Seiten frei zugänglich. Mit dem Segen der lokalen Gerichtspräsidentin wird aber «jedes unbefugte Betreten und Befahren mit Busse bis zu 1000 Franken bestraft».

Hoch über dem Dorf thront das Schloss. Hier residiert während der Sommermonate Sibylle von Stockar, die Grosstochter der legendären Madame de Meuron. «Das bernische Patriziat war nicht von Zweifeln an der Legitimation seiner Herrschaft geplagt», heisst es in einem historischen Rückblick auf das 18. Jahrhundert.

Der Adel verteidigt sein Erbe
Viel von ihrem Einfluss konnten die von Graffenrieds oder von Wattenwyls in die Neuzeit retten. Auch in Rümligen wurden schon Bundesräte und hohe Offiziere empfangen. Und auf dem Reitplatz unterhalb des Schlosses preschten die Kavalleristen hoch zu Ross noch in den siebziger Jahren um die Wette. Dieses Erbe verteidigt die De-Meuron-Grosstochter mit Fleiss und Akribie. Wer seinen gemeinen Fuss oder einen unedlen Autoreifen auf ihr Land setzt, muss mit verbalen Attacken oder einer Anzeige rechnen.

Auch die Fotoepisode eskalierte. Sibylle von Stockar wollte die Kamera nur ohne Film herausrücken. Davon konnten sie auch die alarmierten Polizisten nicht abbringen. Schliesslich erhielten Josts von der Polizei wenigstens jene Fotos, «auf welchen nicht klar ersichtlich ist, dass sie auf dem Grundstück von Frau Stockar aufgenommen worden sind». Und: Josts volljährige Tochter wurde mit 40 Franken gebüsst, die jüngere erhielt einen Verweis.

Für Revierförster und Naturfreund Jost ist die Sache nicht erledigt. «Ein Betretungsverbot für eine derart grosse Fläche ist widersinnig.» Er und seine Familie möchten sich in Rümligen «im ortsüblichen Sinn frei bewegen können – ohne ständige Angst vor einer Anzeige oder unangenehmen Situationen».

«Dieser Zustand ist eine Sauerei»
Ähnlich dachte ein früherer Gemeindeschreiber. «Ein solches Verbot über ganze Landstriche mag während des Ancien Regime als gottgegeben hingenommen worden sein», schrieb er in einer Notiz, «zum Rechtsempfinden in unserem Land steht es aber in krassem Widerspruch.»

Anders sieht es Sibylle von Stockar. Mit Ancien Regime habe das nichts zu tun. «Jede Privatperson hat das Recht, ihren Grund und Boden zu schützen.» Sie wolle weder Lagerfeuer noch Abfallberge oder spielende Familien auf ihrem Areal. «Ich habe keine Toleranz gegenüber der Öffentlichkeit und setze mein Recht konsequent durch – da kann sogar der König von China kommen.» Mindestens ein halbes Dutzend Anzeigen lanciert sie nach eigenen Aussagen jedes Jahr.

Alle im Dorf kennen Geschichten von weinenden Kindern und anderen unschönen Szenen. Manche haben sich arrangiert, andere bezeichnen das Verbot als «ärgerlich» oder «übertrieben» und machen die Faust im Sack. Doch Heinz Jost und ein paar Bekannte möchten etwas bewegen. «Der heutige Zustand ist einfach eine Sauerei», sagt Walter Blatter, der auch schon gebüsst wurde. «Eine externe Stelle müsste das Betretungsverbot überprüfen und auf eine Kernzone um das Schloss reduzieren», fordert Jost.

Angesprochen fühlen müsste sich eigentlich die Gemeinde. «Kein Thema», wehrt Gemeindepräsident Fritz Zahnd ab. Die Verbote müssten «von allen akzeptiert werden». Eine erstaunliche Haltung angesichts folgender Fakten:

  • Weiden und Waldparzellen, ob öffentlich oder privat, dürfen laut Gesetz grundsätzlich von jedermann betreten werden. Genau das hat Sibylle von Stockar aber verbieten lassen. Mitte der achtziger Jahre machte der Rümliger Gemeinderat die Schlossherrin darauf aufmerksam: Sieben Parzellen seien «als Wald eingetragen» – ein Verbot somit nicht durchsetzbar. Er sehe «keinen Handlungsbedarf», sagt der heutige Gemeindepräsident Fritz Zahnd.

  • Die rund 15 Tafeln mit der Aufschrift «Verbot» sind auch für Einheimische kaum verständlich. Nicht etwa eine übersichtliche Planskizze umreisst das verbotene Land, sondern ein juristisch abgefasster Text mit Flurnamen und Nummern von gesperrten Parzellen. Und wer sich durch Wald und über Weiden dem Schloss nähert, sieht weder Zaun noch Verbotstafel – und tappt ungewarnt in die Falle.

  • Ein Stück der Schlosszufahrt darf vom gemeinen Fussvolk betreten werden – das Wegrecht ist im Grundbuch festgeschrieben. Ausgerechnet hier stehen aber diverse Schilder mit der Aufschrift «Privat», «Zutritt verboten» oder «Kein Durchgangsrecht». Das ist nicht nur «irreführend», wie ein früherer Gemeindeschreiber schon vor Jahren protokollierte, sondern schlicht falsch. Dem Gemeindepräsidenten ist diese Tatsache egal. «Ortskundige Personen kennen das Wegrecht», sagt Fritz Zahnd.

  • Der Platz beim Schulhaus gehört hälftig der Gemeinde, hälftig der Schlossherrin – Granitsteine im Teer markieren die Grenze. Eine Parkverbotstafel ist nicht zu sehen. Doch wer sein Auto auf der Schlossseite abstellt, muss mit einer Anzeige rechnen. «Pech gehabt», kommentiert Zahnd.

Im Dorf wird gemunkelt, Sibylle von Stockar werde aus Angst vor Konflikten «wohlwollend behandelt». Die Gemeinde sei schon froh, wenn die Frau ihre Bäche unterhalte und entlang den Strassen die Bäume und Sträucher zurückschneide. Vermutet wird weiter, das finanzschwache Dorf möchte die Adelige als Steuerzahlerin von Bern nach Rümligen locken.

Keiner wagt den Hosenlupf
Wie auch immer – sogar Gerichtspräsidentin Franziska Bratschi bezeichnet die heutige Situation als «unbefriedigend»; die Richterin musste sich vor ein paar Jahren mit der Angelegenheit befassen. Wenn die Gemeinde nicht für einen vernünftigen Umgang mit dem Verbot sorgen wolle, müsse «der Regierungsstatthalter aktiv werden», sagt sie.

Auf dem Aussenposten der Berner Regierung sitzt Marc Fritschi. Auch der Statthalter bezeichnet die Lage als «nicht glücklich». Doch er zweifelt, ob eine Debatte am runden Tisch eine für alle akzeptable Lösung bringt. Zu starr seien die Fronten. «Vielleicht sollte jemand gegen eine Busse Rekurs einlegen», sagt Fritschi, «dann müsste ein Gericht feststellen, wie tragfähig die Verbote sind.»

Dieser «Jemand» muss ein Winkelried sein. Denn Sibylle von Stockar scheut vor Gericht weder Kampf noch Kosten. Das hat sie auf ihrer Emmentaler Alp Rämisgummen bewiesen. Die Zufahrt zu einer Gastwirtschaft führt 80 Meter über ihr Land. Gegen ein Wegrecht sträubte sie sich hartnäckig. Verbotstafeln wehrten die Ausflügler ab. Erst nach zwölf Jahren, zahllosen Verfahren und massivem Druck des Kantons krebste sie zurück.

Eine Privatperson zum Prozess aufzufordern erachten die Rümliger deshalb als Zumutung. «In diesem Fall wägt der einfache Bürger das Risiko ab und verzichtet», sagt Walter Blatter. Auch Heinz Jost möchte sich nicht mit Anwaltskosten ruinieren. Der Ball geht zurück an die Gemeinde. Und weil diese mauert, weiter zum Statthalter. Ob er etwas unternehmen werde, hat sich Marc Fritschi allerdings «bisher nicht überlegt».