Das Wichtigste hier in der Klinik ist im Moment die Physiotherapie. Pro Tag eine halbe Stunde. Ich muss ja mit der Beinprothese den Automatismus des Gehens neu erlernen. Das ist eine immense Konzentrationsarbeit. Nach einer Lektion bin ich immer völlig erledigt. Ich übe verschiedene Gehtechniken. Bis vor kurzem konnte ich noch keinen Schritt machen, ohne dass mich mein Physiotherapeut stützen musste. Jetzt geht es schon viel besser.

Bald versuchen wir es sicher mal draussen, damit ich das Gehen an Steigungen üben kann. Klar, mein Gehrhythmus ist noch etwas holprig, aber mit der Zeit werde ich sicher Routine bekommen. Zweimal bin ich schon hingefallen, weil mir in Schrecksekunden meistens das Bewusstsein fehlt, dass das Bein nicht mehr da ist. Manchmal bin ich ein ungeduldiger Mensch, lasse mir nicht die Zeit, etwas zu lernen, meine, es müsse alles sofort gehen. Aber in der Physiotherapie habe ich Geduld, ich sehe ja auch die Fortschritte.

Nein, mein Körper kommt mir nicht fremd vor, auch wenn jetzt mein linker Unterschenkel fehlt. Phantomschmerzen habe ich manchmal schon. Heute ist so ein blöder Tag, wahrscheinlich wegen des Wetters. Ich musste morgens um sechs Uhr die Schwester für eine Spritze rufen. Aber die Laune verderben mir die Schmerzen nicht, die Mittel wirken ja gut.

Verhängnisvoller Irrtum
Der 14. März war eigentlich ein ganz normaler Abend. Ich war mit meinem Freund im Ausgang, im Niederdorf, zuerst in der Pigalle-Bar, dann noch im «T&M». Kurz vor zwei Uhr brachen wir auf. Mein Freund war mit dem Velo da, ich mit dem Auto. Ich wollte unbedingt vor ihm zu Hause sein, und ich weiss, wie schnell er mit dem Rad ist. Deshalb rannte ich zu meinem Auto, das ich in der Nähe parkiert hatte. Da kam mir das Polizeiauto entgegen.

Die Polizisten hielten mich für einen Einbrecher, der in ein Elektronikgeschäft in der Gegend eingestiegen war. Ich nahm zwar Notiz vom Einsatzfahrzeug, kümmerte mich jedoch nicht weiter darum – warum auch? Dennoch registrierte ich instinktiv, dass der Wagen nicht bremste; ich wich auf die rechte Strassenseite aus. Und dort, an einem Fenstersims, erwischte mich das Auto, das mir den Weg abschneiden wollte, und zerquetschte mir das Bein.

Viel öffentliche Anteilnahme
Der Fahrer setzte zurück, und als ich das Bein wieder belastete, knickte ich ein. Schmerzen spürte ich in diesem Moment keine. Ich war ganz ruhig, als ich da an der Unfallstelle lag, rief sogar noch meinen Freund an. Ein paar Minuten später, als man mir den Kopf abstützte, sah ich, dass mein Bein ins «Juchhe» hinausragte. Eine innere Stimme sagte mir: «Kurt, dieses Bein wirst du nicht mehr lange haben.»

Ja, das war ein Scheissgedanke. Als die Ärzte im Unispital mir die Hosen aufschnitten und mein Bein sahen, verzogen sie ihre Gesichter. Sie sagten mir, sie müssten es amputieren. Das zertrümmerte Knie sei nicht mehr zu retten. Da musste ich schon leer schlucken. Ich sagte: «Wenn ihr es tun müsst, dann macht es rasch.»

Wie mein Leben in einem halben Jahr aussehen wird? Keine Ahnung. Ich lasse es auf mich zukommen. Mein Freund hält zu mir. Wir sind seit drei Jahren zusammen, und der Unfall hat uns noch mehr zusammengeschweisst. Beruflich wird es weitergehen wie vorher, ich werde wieder bei der Versicherung arbeiten. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass mein Unfall eine Wende bedeutet. Ich bemerke, dass ich eine gewisse Popularität gewonnen habe, dass ich offenbar eine Ausstrahlung besitze, eine Wirkung auf die Leute – in einem Ausmass, das mich erstaunt.

In den ersten zwei Wochen nach dem Unfall, als die Geschichte in den Zeitungen und im Fernsehen kam, erhielt ich sehr viel Post. Auch von Leuten, die ich nicht kannte. Zum Teil waren es sehr persönliche Briefe, in denen sie mir von ihrem Leben erzählten, in denen sie mir auch schrieben, ich sei ein Vorbild für sie. Vielleicht werde ich einmal beruflich etwas machen, bei dem ich mehr mit Menschen zu tun habe. Möglicherweise wird sich etwas ergeben, oder ich sage mir plötzlich: «Kurt, jetzt packst du es mal so und so an.» Aber überstürzen will ich da nichts, so etwas will wohl überlegt sein.

Den Fahrer des Polizeiautos, das mir das Bein zerquetscht hatte, wollte ich so bald wie möglich kennen lernen. Er kam mich besuchen. Das erste Treffen war ein emotionaler Moment, es gab natürlich Tränen. Er kam schon mit wässrigen Augen ins Zimmer, wie ein geschlagener Hund. Die Sache macht ihm zu schaffen. Aber es hat ihm sicher etwas gebracht, dass ich – Gott sei Dank! – mit der Situation gut umgehen kann. Seither hat er mich zwei-, dreimal zum Essen ausgeführt.

Ich habe keine Ressentiments gegen ihn, wirklich nicht. Andere hätten vielleicht mit Hass und Depressionen reagiert. Aber mir bringt das nichts. Ich schlafe gut, ausser wenn ich Schmerzen habe; von Albträumen bleibe ich glücklicherweise verschont. Dunkle Momente hat es bis jetzt nicht gegeben.

Von jeher voller Tatendrang
Woher ich diese Kraft nehme? Das hat mich meine Mutter auch früher schon gefragt, wenn ich zum Beispiel neben meinem Fulltimejob noch irgendwo als Barkeeper arbeitete und sonst noch dieses und jenes machte, wochenlang wenig schlief und trotzdem noch Power hatte. Ich weiss keine Antwort. Wahrscheinlich bin ich einfach ein Energiebündel.

Früher war ich im Ausgang meistens auf der Tanzfläche. Aber mit 25 machte es auf einmal «klick». Ich veränderte mich. Ich begann, mich vor allem für Menschen zu interessieren, hockte mich mehr an die Bar, wo ich Leute kennen lernte. Ich diskutiere gern. Früher war ich manchmal etwas rechthaberisch, aber heute kann ich jedem seine Meinung lassen.

In den vergangenen sieben Jahren hat sich auch meine jetzige Lebenshaltung entwickelt. Ich bin sicher, es geschieht nichts ohne Grund auf der Welt. Zufall ist ein Begriff, den die Menschheit erfunden hat für Vorkommnisse, die sie sich nicht erklären kann. Für mich ist klar, dass mein Leben vorbestimmt ist.

Dieser Unfall hat in meinem persönlichen «Rucksäckli» bereitgelegen. Der Fahrer war einfach das Werkzeug dazu. Was jetzt passiert ist, bedeutet eine Wende; es ist eine Verwandlung im Gang. Es geht um eine Aufgabe, die ich meistern muss. Wenn ich sie nicht bewältige, wird sie mir irgendwann in einem anderen Leben wieder auferlegt.

Ich gehöre nicht einer bestimmten Religion an. Aus der Kirche bin ich ausgetreten, denn der Kult, der dort betrieben wird, ist nicht meine Welt. Aber ich bin überzeugt, dass es eine höhere Macht gibt, in welcher Gestalt auch immer. Und ich bin absolut sicher, dass man mehrere Leben hat. Ich glaube nicht, dass ich jetzt zum ersten Mal lebe. Ich denke sogar, dass meine Seele schon relativ alt ist.