«Weshalb ich das tue?» Marianna Iff ist durchaus redegewandt, jetzt aber stutzt sie. Offenbar hat sich ihr diese Frage noch nie gestellt. Dann sagt die 54-Jährige: «Es musste einfach sein.» So konnte es zumindest nicht weitergehen, fand die Spitex-Leiterin in der Berner Vorortsgemeinde Urtenen-Schönbühl. Immer mehr ältere Menschen mussten aus dem Dorf wegziehen, weil «es an zweckmässigem und günstigem Wohnraum» gefehlt hat, so Marianna Iff. Eine Lösung? Die gab es - theoretisch. Aus ihrer täglichen Arbeit wussten sie und ihre Mitarbeiterinnen ganz genau, was sich betagte Menschen eigentlich wünschen: möglichst lange in den eigenen vier Wänden bleiben zu können. «Uns war klar, was wir wollten, hatten ein fixfertiges Projekt praktisch schon im Kopf, und daran hat sich nichts geändert», sagt Marianna Iff.

Heute, fünf Jahre später, gibt es in der Gemeinde 29 preiswerte und rollstuhlgängige Zweieinhalb-Zimmer-Wohnungen, Studios und Aufenthaltsräume, die alle zur Überbauung Burgerfeld gehören, einer Siedlung direkt neben dem Bahnhof. Wie vorgesehen leben neben älteren Menschen auch jüngere körperlich Behinderte sowie psychisch Kranke hier (siehe «Genossenschaft Begleitetes Wohnen»).

Erzählt Marianna Iff aus der Anfangszeit, schmunzelt sie, als könnte sie es selber kaum glauben. Ins Rollen kam das Ganze nämlich mit einem Geistesblitz, wenn man so will. Täglich lief sie am Land neben dem Bahnhof vorbei, sah auf einmal die Bauprofile, und es machte klick: «Mir war plötzlich klar, wir bauen einfach selber, und zwar genau da, mitten im Dorf.»

In guter Gesellschaft
Noch am Abend rief sie den Generalunternehmer an, der auf dem Land Alterswohnungen im Eigentum plante, und schlug ihm vor, anstelle seiner Pläne die ihren umzusetzen. «Er sagte, wenn ich ihm bis am nächsten Tag ein Projektkonzept vorlegen würde, lasse er sich die Sache durch den Kopf gehen.» Vorstellig wurde Iff auch bei der Burgergemeinde, der ein Teil des Landes gehörte und die ihr zusicherte, den Boden zu günstigen Bedingungen im Baurecht abzutreten - sofern ein überzeugendes Wohnkonzept vorliege und Eigenmittel für den Bau organisiert werden könnten. Der Rest ist schnell erzählt, die gegründete Genossenschaft erfüllte beide Bedingungen.

Die Lyssstrasse. Hier ist zu sehen, was aus Iffs spontanem «Wir bauen selber» entstanden ist. Und es zeigt sich die Vielschichtigkeit des Projekts. Zum Beispiel am Mittagstisch, den die Spitex in einem der Aufenthaltsräume sowohl Bewohnern als auch Externen wie Vreni Bärtschi anbietet. Die gebürtige Schönbühlerin kommt oft, weil sie es «geniesse, hier in Gesellschaft essen zu können». Das schätzt auch ihr Visavis: Ursula Guggisberg wohnt im unteren Stock des zweigeschossigen Gebäudes, ist 55 und leidet an multipler Sklerose, so dass sie - wenn ihr Mann arbeitet - auf Hilfe angewiesen ist. «Uns gefällt es hier sehr gut», sagt die IV-Bezügerin, die anderen nicken zustimmend. Einzig die Küche - oder besser die Kochnische - könnte etwas grösser sein in der Wohnung, findet Hugo Kuhn. Doch mäkeln will auch der 77-Jährige nicht.

«Ja, ich habe es recht hier»
Der gebürtige Zürcher aus Effretikon lebt «schon ewig» in Schönbühl, täte es aber wohl nicht mehr, hätte er nicht an die Lyssstrasse ziehen können. Er ist physisch wie psychisch nicht ganz auf dem Damm. Seine Frau ist schon lange gestorben.

Die Kaffeetasse ist leer, Hugo Kuhn zieht sich in die eigenen vier Wände zurück. Seit nun bald mehr als einem Jahr lebt der ehemalige Kältemonteur in seinen zweieinhalb Zimmern - eine Eckwohnung, für die er 1250 Franken zahlt. Der Rentner verliert nicht gerne viele Worte, sitzt auf dem Sofa und blickt sich um, zum Buffet mit der goldenen Standuhr und dann zum Flachbildfernseher. «Der ist neu, den Rest habe ich aus der alten Wohnung mitgenommen. Ja, ich habe es recht hier.»

Handeln statt reden
Alexander Liechti hingegen hatte nichts - ausser seinen Erinnerungen an Amerika und einer Wohnung im Kellergeschoss. «Ein feuchtes Loch», sagt Spitex-Leiterin Marianna Iff. Deshalb kam der 82-Jährige auch sehr schnell zu einem Studio für knapp 900 Franken. Die Mieter müssen nämlich nicht Genossenschafter sein. Bei der Zuteilung der Wohnungen gilt die Dringlichkeit als wichtigstes Kriterium, und die war in diesem Fall gegeben: «Herr Liechti hatte keine Pension, nicht genug Geld zum Leben, kaum Möbel.» Der Grund: Fast 40 Jahre lebte er in den USA hatte verschiedene Jobs und auch vor, dort oder in Kanada zusammen mit seiner Frau zu bleiben. Doch sie wurde schwer krank. Bevor sie starb, hat sie ihrem Mann geraten zurückzukehren. Inzwischen hat er sich in der alten Heimat eingelebt und sagt: «Ich bin zufrieden.»

Und das ist auch Marianna Iff mit den Mietern: Natürlich gebe es Spannungen untereinander. «Aber nicht mehr als anderswo.» Ein Grund dafür sieht sie darin, dass ihr Spitex-Team ganz bewusst darauf achtet, dass auf jedem Stockwerk möglichst solche Charaktere leben, die sich ergänzen. Denn neben älteren, physisch angeschlagenen Menschen bekommen auch psychisch Kranke hier eine Wohnung. «Sofern sie allein wohnen können», fügt die diplomierte Pflegefachfrau hinzu. Das sei die Grundvoraussetzung. Eine für diese Menschen wichtige Tagesstruktur oder kleinere Arbeiten könne die Spitex in Zusammenarbeit mit einem Psychiater ihnen bieten. «Es ist vieles möglich, wenn man es einfach versucht», findet Iff. Dann sagt sie noch: «Und manches mehr gäbe es, wenn man, anstatt ein Projekt zu zerreden, es einfach umzusetzen beginnen würde.»

«Genossenschaft Begleitetes Wohnen»

Auf Initiative der Spitex Urtenen-Schönbühl wurde im Jahr 2002 die «Genossenschaft Begleitetes Wohnen» gegründet. Das Ziel war es, betagten Menschen, jüngeren körperlich Behinderten sowie psychisch kranken Menschen eine neue Wohnform zu bieten.

Die Genossenschaftsgründer wurden vom jetzigen Präsidenten und ehemaligen Gemeinderat Robert Lüthi angeworben; es sind durchwegs einflussreiche Personen aus der Gemeinde.

Gestartet wurde das Projekt «Begleitetes Wohnen» mit dem Bau von zwölf Wohnungen in der Überbauung Burgerfeld. In mehreren Etappen sind 23 hinzugekommen, im Jahr 2006 die letzten sechs davon in Jegenstorf. Die 39 Mieterinnen und Mieter werden von 7 bis 23 Uhr je nach Bedarf punktuell durch das örtliche Spitex-Fachpersonal betreut. Im insgesamt 40-köpfigen Team befinden sich auch Psychiatrie- und Krankenschwestern. Dadurch steigen zwar die Personalkosten des Vereins, die jedoch unter anderem durch wegfallende Fahrten zu den Einzelhaushalten kompensiert werden können.

Das nötige Startkapital von knapp 2,7 Millionen Franken kam wie folgt zusammen:

  • Rund 400 Personen kauften Anteilscheine der Genossenschaft (Private, Spitex, Institutionen, Gemeinde)
  • zinsgünstige Privatdarlehen


Eine Bauetappe konnte dank einem Investitionsbeitrag von 520'000 Franken der Age-Stiftung für gutes Wohnen im Alter realisiert werden. Die Kosten des Gesamtprojekts belaufen sich bisher auf rund 8,5 Millionen Franken.

Ausgezeichnete Projekte: Zur Nachahmung empfohlen

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Die Erhaltung tragfähiger sozialer Netze war dem Beobachter von jeher ein Anliegen. Dafür braucht es nicht nur starke staatliche Einrichtungen, sondern auch private Initiative und Kreativität, um die Nischen zu füllen, die der institutionelle Sozialapparat nicht abdeckt. Solche Angebote werden in einer sechsteiligen Serie anlässlich des 80. Geburtstags des Beobachters vorgestellt. Wir würdigen privat initiierte Sozialprojekte aus den Bereichen Familie, Arbeit, Pflege, Nachbarschaftshilfe, Jugend und Ausländerintegration - auch als Muster zur Nachahmung. Die mit einem Diplom ausgezeichneten Projekte weisen ein eigenständiges Profil auf und ermöglichen nachhaltige Lösungen. Als Fachjury wirkt die HSA Hochschule für Soziale Arbeit Luzern.

Bereits erschienen:

  • Projekt «Grossfamilie»: Eine gute Kinderstube (siehe Artikel zum Thema)
  • Sozialfirma: Wo Wolle ist, ist auch ein Weg (siehe Artikel zum Thema)