Er muss wohl besonders charmant gewesen sein, vielleicht speziell hilfsbereit. Warum sonst hätte eine heute 88-jährige Witwe ihrem Treuhänder über eine Million Franken bezahlen sollen? Oder hat er das Geld einfach abgezweigt?

Erika S. sitzt auf dem Balkon ihrer Einzimmerwohnung. Das Altersheim in Bad Ragaz verlässt sie kaum noch. «Ich kenne diesen Mann nicht.» Sie schliesst die Augen, geniesst die warmen Sonnenstrahlen, die ihr kleines Refugium erreichen. «Wie, sagten Sie, heisst er? – Nein, den kenne ich wirklich nicht.»

Erika S. kann sich nicht erinnern. Sie vergisst immer mehr. Was in den letzten drei Jahren geschehen ist, wird ihr wohl schleierhaft bleiben. Es waren Angehörige, die Unregelmässigkeiten entdeckten, und die St. Galler Staatsanwaltschaft, die weiter ermittelte. Ihre Erkenntnis ist erschreckend: Der Treuhänder nahm die überforderte Witwe über zwei Jahre hinweg schamlos aus. Das Bankvermögen der früheren Wirtin schrumpfte von rund 1,5 Millionen so weit, dass sie das Altersheim bald nicht mehr bezahlen kann.

Mitte 2009 räumte Erika S. dem Treuhänder Bankvollmachten ein, mit denen er über Guthaben frei verfügen konnte. Über Aufgaben und Kompetenzen wurde bezeichnenderweise nichts Schriftliches vereinbart. Der Treuhänder stand zudem in engem Kontakt mit einer Bekannten, die auch eine Vertraute des Ehepaars S. war. Sie hatte als Schulmädchen in deren Restaurant und Hotel gearbeitet. Heute lebt sie in den USA, besuchte Erika S. aber fleissig, wenn sie in Bad Ragaz weilte.

Im November 2009 überwies der Angeklagte dieser Frau 500'000 Franken vom Konto seiner Mandantin. Die Beschenkte bezahlte sofort 150'000 Franken an den Treuhänder. Wofür, ist unklar. Denn selbst um die Schenkungssteuer zu zahlen, belastete der Treuhänder einfach erneut das Konto seiner Klientin.

Im selben Monat verfasste er auf seinem Computer einen Zahlungsauftrag über monatlich 20'000 Franken – zu seinen Gunsten. Erika S. unterschrieb wie immer. Weitere Zahlungsaufträge über mehrere 10'000 Franken unterzeichnete der frühere Bankangestellte gleich selbst. Er verfügte ja über entsprechende Vollmachten.

Konto geleert, bis die Bank stutzig wurde

Das Ehepaar S. lebte kinderlos und zurückgezogen in Bad Ragaz. Der Mann hatte die Kontakte zu den Verwandten abgebrochen; 2009 starb er. Seine in bürokratischen und finanziellen Dingen überforderte Frau suchte Unterstützung beim ehemaligen Steuerberater ihres Mannes. Jules Egger, 91, der rüstige Bruder von Erika S., begann nach dem Tode seines Schwagers, die Schwester wieder zu besuchen. Er wurde misstrauisch gegenüber diesem Treuhänder, der zweimal die Woche da war und ungeöffnete Bankkuverts abholte, «weil er sie für die Buchhaltung brauche», wie ihm Erika S. erzählte. Zudem mache er die Steuererklärung gratis.

Als Jules Egger wieder einmal zu Besuch war, klingelte das Telefon. Ein Bankangestellter wollte wissen, ob es richtig sei, dass ihr Konto zugunsten des Treuhänders fast vollständig geleert werden sollte. Erika S. rief in den Hörer, er werde sicher kein Geld mehr bekommen. Jules Egger wurde unverzüglich bei der Bank vorstellig, worauf die Bankdirektorin Erika S. persönlich besuchte. Das Konto wurde gesperrt, doch das meiste Geld war schon weg. Erika S. erhielt einen Beistand, und nach Durchsicht der Bankauszüge erstattete die Vormundschaftsbehörde Strafanzeige gegen den Treuhänder. Die Untersuchung der Staatsanwaltschaft bringt jetzt Machenschaften an den Tag, die eine zurechnungsfähige Person kaum dulden würde und die von einem seriösen Treuhänder nicht zu verantworten sind.

200 Franken für «Posten im Coop»

Die bei Hausdurchsuchungen gefundenen Rechnungen – soweit überhaupt vorhanden – sind laut Anklage weitgehend fiktiv. Erwähnt werden «Botengänge», wöchentliche Besuche oder «Steuererklärungen auf Lebzeiten» für die schon betagte Frau. Zudem verrechnete der 71-jährige Treuhänder einen Stundenansatz von 200 Franken, zum Beispiel für «Posten im Coop».

Noch dreister wurde er Anfang 2011. Er liess Erika S. zwei «Darlehensverträge» über 300'000 und 100'000 Franken zu seinen Gunsten unterschreiben. Kurios: «Das Darlehen ist nicht zu verzinsen und auch nicht zurückzuzahlen», heisst es in den Verträgen. Es sind damit nur weitere, als Darlehen kaschierte Zahlungen.

Der Staatsanwalt beantragt nun viereinhalb Jahre Gefängnis unbedingt für den Treuhänder. Er wirft ihm Delikte wie ungetreue Geschäftsbesorgungen, Veruntreuung, gewerbsmässigen Betrug und Steuerbetrug vor. Er soll die Hilflosigkeit seiner Klientin ausgenutzt haben.

Der Treuhänder ist nicht geständig. Es gilt die Unschuldsvermutung. Gegenüber dem Beobachter wollte er sich nicht äussern. Sein Anwalt weist die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zurück. Die Klientin sei zum Zeitpunkt der Zahlungen keineswegs dement gewesen. Über diese zentrale Frage wird man sich vor dem Richter streiten.

Auch Gattin des Treuhänders angeklagt

Ebenfalls angeklagt ist die Ehefrau des Treuhänders. Auch sie weist die Beschuldigungen zurück. Sie hatte zwar keinen direkten Kontakt zum Opfer, zeichnet aber seit Anfang 2011 als Inhaberin des Treuhandbüros verantwortlich.

Sie soll gemäss Anklage Einnahmen und Geschenke für die Buchhaltung aufbereitet und die Bilanz- und Erfolgsrechnung gefälscht haben. Auf diese Weise gelangte das Paar an die Hypothek für seinen Hauskauf in Amden. Zudem konnten sie die Schenkungssteuer umgehen. Obwohl damit die Gemeinde geschädigt wurde, liess sich die CVP-Frau im September des laufenden Jahres wieder in die Geschäftsprüfungskommission der Gemeinde Amden wählen. Sie habe den Gemeinderat über das hängige Verfahren informiert, versicherte sie. Dort zeigt man sich allerdings erstaunt. «Wir wurden wohl über eine Untersuchung gegen den Treuhänder in Kenntnis gesetzt», sagt Gemeindepräsident Urs Roth. Dass die Ehefrau jetzt angeklagt wird, habe man erst vom Beobachter erfahren.

Kassierin einer Altersstiftung

Auch im regionalen Hauseigentümerverband und in einer sankt-gallischen Genossenschaft für Wohnen im Alter, wo die Treuhänderin im Vorstand sitzt und als Kassierin amtiert, zeigte man sich überrascht über die Vorwürfe. Man werde jetzt eine Aussprache verlangen.

Erika S. bedankt sich für den Besuch. Die letzten Sonnenstrahlen streichen über ihr entspanntes Gesicht. «Ich glaube, er ist kein Guter», sagt sie plötzlich. Vielleicht tut sich ein Fenster zur Erinnerung auf. Warum? Sie weiss es nicht mehr.

Update November 3013: Gefängnis für Amdener Treuhänder

Der Treuhänder, der einer dementen Kundin rund eine Million Franken abgeknöpft hat, wird jetzt vom Gericht wegen Veruntreuungen, Steuerbetrugs und Urkundenfälschungen mit 3,5 Jahren Gefängnis unbedingt bestraft. Seinem Opfer muss er zudem 912'000 Franken zurückbezahlen. Die 53-jährige Ehefrau des Haupttäters erhält eine bedingte Geldstrafe von 360 Tagessätzen zu je 25 Franken und 500 Franken Busse.

Die Ehefrau des Treuhänders, eine ehemalige CVP-Politikerin, war an den Veruntreuungen nicht direkt beteiligt. Sie bereitete die ergaunerten Einnahmen aber für die Bilanz- und Erfolgsrechnung des Treuhandunternehmens auf. Dazu hatte sie Urkunden gefälscht und die Gemeinde Amden um Steuereinnahmen betrogen. In der selben Gemeinde liess sie sich später in die Geschäftsprüfungskommission wählen.

In einem zweiten Fall sprach das Gericht die beiden Angeklagten frei. Es ging um eine inzwischen verstorbene, behinderte Frau, für die der Treuhänder ebenfalls Bankvollmachten hatte. Gemäss Anklage unterliess er es aber, Rechnungen für das Pflegeheim zu bezahlen und soll Bezüge für sich abgezweigt haben. Dem Pflegeheim ist dadurch ein Schaden vor rund 55'000 Franken entstanden. Das Gericht hat diese Forderung auf den Zivilweg verwiesen.

Beide Angeklagten wiesen vor Gericht alle Vorwürfe zurück. Die Zahlungen der alten Frau hätten durchaus ihrem Willen entsprochen, betonten die Verteidiger. Etwas Vergesslichkeit bedeute nicht, zu Rechtsgeschäften grundsätzlich nicht mehr fähig zu sein. Auf detaillierte Fragen der Richterin antworteten die Angeklagten meist mit einem «No comment». Das Ehepaar hat die Schweiz inzwischen verlassen und lebt heute in Ungarn.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, es gilt darum weiterhin die Unschuldsvermutung. Die Anwälte der Angeklagten wollen einen Weiterzug prüfen. Der Staatsanwalt zeigte sich dagegen zufrieden, obwohl er für den Treuhänder eine vierjährige, unbedingte und für dessen Frau eine zweijährige, bedingte Freiheitsstrafe beantragt hatte.