DDR-Schweizer: Freiwillig im Stasi-Staat
Tausende von DDR-Bürgern wollten zwischen 1961 und 1989 in den Westen fliehen. Einige Schweizerinnen und Schweizer zog es in die entgegengesetzte Richtung: Was reizte sie an einem Leben im «Arbeiter- und Bauernstaat»?
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Schon meine ich, Berlin hinter mir gelassen zu haben, da tauchen wieder Wohnblocks auf. Grosse Kästen, Platz für 175000 Leute: Berlin-Marzahn. Kein schöner Bahnhof, nicht so zurechtgemacht wie die Bahnhöfe an den touristischen Brennpunkten der neuen, alten deutschen Hauptstadt. Ich stelle mir vor, wie hier im Winter die Leute frierend auf die S-Bahn warten. Es braucht nicht viel Phantasie.
In der Gleisüberführung ruft ein schwarzes Plakat zur «Fanparty» der rechtsradikalen Rocker «Böhse Onkelz». Ich blicke auf einen Betonplatz, ein paar Läden, einen Früchtestand, Bauabschrankungen. Die Plattenbausiedlung wird saniert, die neuen Aussenisolationen farbig verputzt. Als ob nichts mehr an das Grau der einstigen Vorzeigesiedlung der DDR mahnen soll.
«Klar, kommen Sie vorbei», sagte Marcel Bähler am Telefon, «ich kann Ihnen einiges erzählen.»
Ich war überrascht. Für meine Suche nach Schweizerinnen und Schweizern, die freiwillig in der DDR gelebt hatten, war ich auf Widerstände gefasst gewesen. Ich hatte nicht erwartet, ohne viele Fragen nach dem Warum und Wie empfangen zu werden. Ich hatte mit Misstrauen gerechnet. Schliesslich waren es persönliche, politische Geschichten, die ich von meinen Gesprächspartnern hören wollte. Geschichten von Leuten, so stellte ich mir vor, die mit allem Schweizerischen nicht mehr viel zu tun haben wollten – schon gar nicht mit einem Schweizer Journalisten.
Meine Sorgen waren unbegründet. Bereits ein paar Wochen zuvor hatte mir Aenne Goldschmidt in Riehen bei Basel einen Nachmittag lang aus ihrem Leben in der ehemaligen DDR erzählt. Und auch Jean Villain aus Dreesch aus der Uckermark und Christine Jabin aus der Chemiestadt Leuna hatten spontan zugesagt: «Klar, kommen Sie vorbei.»
59 Jahre in zehn Minuten Nun sitze ich Marcel Bähler gegenüber, blicke in etwas müde, aber aufmerksame Augen – und in eines dieser Wohnzimmer, wie sie zwischen Ostsee und Gotthard überall stehen können: Wohnwand, Sofa, ein Esstisch, Souvenirs.
Meine Bitte nach einem kurzen Lebenslauf beantwortet der ehemalige Wasserbauingenieur knapp und präzis, zwängt 59 Jahre in zehn Minuten: 1950 mit den Eltern nach Ostberlin gekommen; später Studium in Dresden; 1979 Verzicht auf das Schweizer Bürgerrecht und Einbürgerung in der DDR; seit der Wende ohne feste Arbeit. «Mit meiner politischen Vergangenheit», sagt Marcel Bähler, «bin ich halt stigmatisiert.»
Zu dieser Vergangenheit gehören die Zusammenkünfte in Berlin-Karlshorst, im Haus der Tanzpädagogin und des Musikwissenschaftlers Aenne und Harry Goldschmidt.
1962 hatte das Grüpplein Schweizer Exilkommunisten mit der Erlaubnis der Staatspartei SED in der DDR eine eigene Sektion der Schweizer Partei der Arbeit (PdA) gegründet. Etwa einmal im Monat traf man sich, diskutierte, politisierte.
«Wir sprachen über Dinge, die man sonst in der DDR nicht in Frage stellen durfte», erinnert sich Marcel Bähler: über den sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei zum Beispiel – oder über das verbotene Buch des Dissidenten Rudolf Bahro, der wegen seiner Gesinnung ins Gefängnis musste. «Im Zentralkomitee der SED muss damals irgendjemand seine schützende Hand über uns Schweizer gehalten haben», mutmasst Bähler.
42 Prozent sehnen sich zurück
Rückfahrt in die Berliner Innenstadt. Marcel Bähler hat einen Nachmittag lang aus seinem Leben erzählt, über seine Mitgliedschaft in SED und PDS, über die Mauer, über das Misstrauen im «Arbeiter- und Bauernstaat».
Zum Schluss hat er mir einen Artikel aus dem «Neuen Deutschland» in die Hand gedrückt, der früheren SED-Zeitung. 42 Prozent der Ostdeutschen, so lese ich, haben sich im Gesellschaftssystem der DDR wohler gefühlt als in der Bundesrepublik.
«Wir waren froh, als die Mauer gebaut wurde.» Die Worte von Aenne Goldschmidt gehen mir durch den Kopf, als ich am nächsten Morgen am Checkpoint Charlie stehe, dort, wo sie 28 Jahre lang Berlin durchtrennte: die Mauer, der «antifaschistische Schutzwall». Hinter einer Bretterwand verlottert der einstige DDR-Wachturm. Zwanzig Meter daneben, auf der Westseite der ehemaligen Grenze, steht die berühmte Tafel, sauber geputzt: «You are Leaving the American Sector.» Touristen, in Bussen hergekarrt, posieren gruppenweise darunter.
Das Schild daneben mit der Kurzlektion Weltgeschichte in holprigem Deutsch liest kaum jemand: «Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs standen sich hier gegenüber und verteidigten die Westmächte fundamentale Rechte des Berlin-Status – und dies bis hin zur Panzerkonfrontation USA/UdSSR.» Ein Stück Kalter Krieg, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer.
«Wir waren froh, als sie gebaut wurde.» Marcel Bähler wiederholt Aenne Goldschmidts Worte, und auch Jean Villain meint: «Die Mauer war unabdingbar.»
Unabdingbar, weil Berlin die «Nahtstelle von zwei politisch und ökonomisch inkompatiblen Systemen war», sagt der Autor. «Weil der Kalte Krieg jederzeit in einen heissen umschlagen konnte. Nötig, weil Zehntausende Ostdeutsche den Verlockungen des Westens nicht widerstehen konnten», fügt Aenne Goldschmidt bei. «Eine Art Erlösung, weil die DDR wirtschaftlich ausgeblutet wurde», meint Marcel Bähler.
Mauer forderte 900 Tote
«Aber», wende ich ein, «hat die Mauer nicht Familien getrennt, sind an ihr nicht Leute erschossen worden?» – «Doch», sagt Jean Villain, «die Mauer war für Zehntausende von Familien eine Tragödie, und sie hat nach westlichen Zählungen etwa 900 Tote gekostet. Aber am Zaun, den die USA gegen die illegalen Einwanderer aus Mexiko errichtet haben, gibt es auch immer wieder Tote. Nur spricht kaum jemand von ihnen.»
Und Aenne Goldschmidt sagt: «Nicht die Mauer war schlimm, sondern dass man die DDR-Bürger nicht in den Westen reisen liess, dass man ihnen misstraute.»
Berlin-Friedrichshain, Samariterkirche. Hier hat sich schon Jahre vor der Öffnung der Mauer die Ostberliner Opposition getroffen. Im Herbst 1989 diskutierte man in der vollbesetzten Kirche über Ausreisen und Dableiben – und darüber, wie die DDR demokratischer werden könnte. Heute kommen nur noch wenige Gläubige zu den Gottesdiensten. Der Erfolg der Protestbewegung war zugleich ihr Ende.
Als Schweizer freiwillig in der DDR leben? Beim «Kaffee für Aus- und Inländer» im Kirchhof schüttelt man ungläubig den Kopf. «Na, die haben ja gut reden», sagt schliesslich die Küsterin Edeltraud Pohl: «Mit ihrem Schweizer Pass konnten die ja jederzeit raus.»
Einer aber habe sich in der DDR einbürgern lassen, werfe ich ein – und die Augenbrauen gehen nach oben. «Nee, die haben gar nicht gesehen, wie das richtige Leben in der DDR ablief, die hatten Sonderrechte.» Sie habe noch erlebt, wie «solche Leute» als mustergültige Sozialistinnen und Sozialisten vorgezeigt worden seien, erzählt Karoline Tiepner, die mit am Tisch sitzt. «Die waren in der DDR aus Prestigegründen natürlich hochwillkommen.»
Als die Mauer in Berlin endlich fiel, waren Karoline und ihr Mann Sven 23 Jahre alt. Am 10. November 1989, am Tag nach der Öffnung der Grenze, waren sie zum ersten Mal «drüben». «Ulkig» habe sich das angefühlt, sagt Karoline heute, «wie im Traum».
Das Volk ist unzufrieden
An den Strassenlampen in Prenzlau hängen Plakate: «Es geht um Brandenburg», verkündet SPD-Ministerpräsident Manfred Stolpe. Die PDS meldet, dass ihr Vorsitzender «Gregor Gysi kommt», und die Deutsche Volks-Union verlangt «Deutsches Geld für deutsche Arbeitsplätze». Die rechtsradikale Partei bringt es ein paar Tage später bei den Wahlen auf 5,3 Prozent, die SPD verliert ihre Mehrheit im Landtag. Im Nordosten Deutschlands ist das Volk unzufrieden.
Berlin liegt bloss zwei Autostunden entfernt – und doch Welten weit weg. Abseits der grossen Strassen holpern wir die letzten Kilometer nach Dreesch über Kopfsteinpflaster an Feldern und Bauernhöfen vorbei. «Ich bin bewusst von Berlin hierhin in die Uckermark gezogen», sagt Jean Villain später im Garten. Weg von der Grossstadt, in der es auch geistig immer enger wurde. «Hier draussen war ich schwieriger zu überwachen.»
Das Ministerium für Staatssicherheit, die Stasi, misstraute jedem – auch jenen, die freiwillig in der DDR lebten. Besonders aber Leuten, die «Westkontakte» hatten. Oder einem Autor wie Villain, der mit Schweizer Schriftstellerkollegen verkehrte und Reportagen über Venedig und Afrika schrieb – in einer Zeit, in der der Traum vom Reisen für die meisten seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger am Schwarzen Meer oder in der Hohen Tatra endete.
Heute erzählt Villain mit einem Lächeln von den Bespitzelungen, kennt Anekdoten von falsch geschalteten Abhörleitungen, schildert die Selbstverständlichkeit, am Telefon und im Haus politisch unverbindlich zu bleiben. Uber bestimmte politische Themen habe er nur mit guten Freunden gesprochen. Und selbst mit diesen meist nur «jwd» – «janz weit draussen» –, bei einem Spaziergang übers flache Land.
Später sitzen wir in Jean Villains Arbeitszimmer im Dachstock. «Wie haben Sie die Nacht erlebt, als die Mauer geöffnet wurde, Herr Villain?» Statt einer direkten Antwort schaltet der Schriftsteller den Computer ein, sucht nach seinem Tagebuch, liest vor: «Nach der Ankündigung der vollen Reisefreiheit durch Günther Schabowski passieren in der Nacht die ersten Ostberliner die Grenze nach Westberlin. Damit beginnt der Fall der Mauer.»
Es folgen Schilderungen über einen Goethe-Abend am Theater in Prenzlau, der tags darauf trotz Maueröffnung ausverkauft war, Notizen über einen Vortrag und über ein chaotisches Treffen des DDR-Schriftstellerverbands.
Kein Ton von der Ergriffenheit, die meine Erinnerung an diese Tage prägt. Am 2. Januar 1991 sei er als Letzter aus dem Büro des Schriftstellerverbands gegangen und habe das Licht ausgemacht, erzählt Villain. «Für mich endete die DDR erst in diesem Augenblick.»
Farbe gegen das Grau
Leuna, Stadt der Chemieindustrie, 25 Kilometer westlich von Leipzig. Kopfsteinpflaster auch hier, an der Hauptstrasse noch viele Häuser in einem abgegriffenen Grau. Die Einfamilienhäuser in den Aussenquartieren sind bereits saniert und farbig. Christine Jabin wohnt mit ihrem Mann «Am Haupttor 22», schräg gegenüber der riesigen Verwaltung des Chemiewerks. «Bau 24» hiess das Gebäude früher. Untergebracht waren darin die Generaldirektion und die Staatssicherheit.
Dahinter beginnt die Industrieanlage. Die Gebäude befinden sich in tadellosem Zustand, die Rohre sind neu und blank. Ein französischer Erdölmulti hat grosse Teile des Werks aus dem Erbe der DDR übernommen und aufgemöbelt. Einst hatte das Werk 27000 Angestellte. Jetzt sind es 10000 – «wieder 10000», sagt Christine Jabin. Mit 57 Jahren gehörte die Sachbearbeiterin zu den Ersten, die nach der Wende ihren Arbeitsplatz räumen mussten.
Christine Jabin erzählt leise, gibt kurze Antworten. «Kommunistische Ambitionen hatte ich nie», sagt sie plötzlich und bestimmt, als ob es ein Missverständnis auszuräumen gäbe. «Und mein Mann hat sich immer geweigert, in die Partei einzutreten.» Aber gegen die überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, gegen die habe sie nie etwas gehabt. Die seien ihr jedenfalls viel lieber gewesen als die angeblich «guten Genossen», die nur auf ihre Karriere aus waren.
Nach der DDR der Schweizer Kommunistinnen und Kommunisten höre ich an diesem Nachmittag noch von einer anderen DDR: einem Land, in dem man auffiel, wenn man Kleider aus dem Westen trug. Von einer trostlos grauen DDR, in der man sich gegenseitig half, die Mangelwirtschaft zu überstehen. Von einer DDR auch, in der man die Fernsehantenne unter dem Dach verbotenerweise nach Westen richtete.
«Wir waren nach der Wende schon etwas enttäuscht», sagt Christine Jabin. «Da wurde vieles kaputtgemacht. Mir gefiel das System in der DDR auch nicht, aber da wusste man wenigstens, woran man war.» Aber deshalb zurück in die Schweiz? Nein, das liege schon aus finanziellen Gründen nicht drin. Und überhaupt: «Ich habe hier Wurzeln geschlagen.»
Nur die Berge fehlen
Ob sie denn während ihrer Zeit in der DDR je etwas vermisst hätten, was es in der Schweiz gab, habe ich meine Gesprächspartner gefragt und dabei an nichts Konkretes gedacht. An die Möglichkeit, zu wählen und abzustimmen vielleicht, oder an die Redefreiheit – bestenfalls.
Die Berge, sagten sie alle, die Berge hätten sie vermisst.