Die Zahl, die über Dabei oder Daheim entscheidet, hat zwei Kommastellen: 0,57. Exakt null komma fünf sieben Funktionäre pro Athlet haben in Athen eine Akkreditierung erhalten und dürfen vor Ort dabei sein, wenn Roger Federer zum Schläger greift oder Viktor Röthlin von Marathon aus in die griechische Hauptstadt aufbricht. Für die 100 Schweizer Athletinnen und Athleten an den Olympischen Sommerspielen heisst das, dass sie mit genau 57 Betreuern auskommen müssen, Pressechef, VIP-Verantwortlicher und Ärzte inklusive. Oder fast genau: Wer wie etwa die Beachvolleyballer, die Ruderer oder die Segelcracks ausserhalb des olympischen Dorfs wohnt, erhält zusätzlich einen Koch und einen Physiotherapeuten gestellt, die nicht unters Kontingent fallen. Auch für die Stallburschen der Reiterequipe gelten die magischen 0,57 nicht. Alles in allem umfasst die Schweizer Olympiadelegation so rund 180 Personen, und das lässt Daniel Steiner, Kommunikations- und Medienchef von Swiss Olympic, sorgenvoll die Stirn runzeln: «Eigentlich haben wir viel zu wenig Betreuer. Aber das sind nun mal die Vorgaben des Internationalen Olympischen Komitees.» Und die sind so streng, dass sich nicht bloss die Athleten qualifizieren mussten: «Offizielle kommen nur mit, wenn sie eine Aufgabe haben, sonst bleiben sie zu Hause.»
Harte Zeiten für die Kaste der Schweizer Sportfunktionäre, schliesslich gehören Reisen an internationale Wettkämpfe für die Verbandsoberen geradezu zum guten Ton. Doch in der Welt des Sports geht es keineswegs immer so spartanisch zu wie in Athen. Jüngstes Beispiel einer Meisterschaftsqualifikation kraft ihrer Funktion: die Schweizer Delegation an die Euro 2004 in Portugal, wo neben dem üblichen (und ebenfalls nicht zu knapp bemessenen) Betreuerstab auch eine so genannte «administrative Delegation» dabei war, die zumindest zu Beginn des EM-Trips vor allem mit Fotos von gemütlichen Jassrunden von sich reden machte.
Führungsschwache Herrenrunden
Die Arbeitsbelastung war erträglich: «Wir von der administrativen Delegation besuchen nochmals die Gruppe mit unseren Partnerinnen und den Funktionären», diktierte 1.-Liga-Präsident Guido Cornella dem «St. Galler Tagblatt» für dessen Rubrik «EM-Splitter»: «Im Gegensatz zu vor ein paar Tagen ist dies ein halboffizieller Besuch der Delegation bei der Reisegruppe. Heute Abend gibt der Bürgermeister wieder einen Empfang, zu dem unsere Delegation eingeladen ist.»
Mit Plausch und Smalltalk war es erst vorbei, als in Portugal die Spuckaffäre um Stürmer Alex Frei aufflog. Aus der gemütlichen Herrenrunde wurde über Nacht eine verwirrte Truppe, die eine Panne mit der nächsten zu beheben versuchte. Sie wurde zum Sinnbild für den Zustand der Führungsetagen verschiedener grosser Schweizer Sportverbände.
Ernst Bruderer, Professor für Sport und Management an der Hochschule Winterthur, sieht in der von den Funktionären zur Spuckaffäre hochgewurstelten Unsportlichkeit bekannte Muster: «Das ist eine typische Funktionärsgeschichte. Die sind so weit weg vom Sport, dass sie überhaupt nicht mehr kapieren, was auf dem Spielfeld vor sich geht.»
Was ist mit dem Schweizer Sport los? Wimbledonsieger Roger Federer und die fünffache Weltmeisterin im Orientierungslauf, Simone Niggli-Luder, sind Ausnahmetalente, Qualifikationen für Fussball-Europameisterschaften seltene Grosstaten. «Ich kann mir vorstellen – auch wenn ich es nicht hoffe –, dass die Olympischen Spiele von Athen nicht sehr erfolgreich sein werden», sagt selbst der ehemals höchste Sportfunktionär der Schweiz, alt Bundesrat Adolf Ogi: «Der Schweizer Sport geht am Stock.»
Statt der Sportler geben die Funktionäre zu reden. In einem Artikel zu Beginn des Olympiajahrs 2004 listete die «Berner Zeitung» nicht weniger als sieben Verbände auf, bei denen personelle Turbulenzen für Ärger oder Schulden für finanzielle Engpässe sorgen. Die Häufung ist kein Zufall: Quer durch die Sportlandschaft Schweiz treten immer wieder die gleichen Probleme zutage.
Das augenscheinlichste davon: Führungsschwäche. «Sport ist heute ein Teil der World News, und dies vor allem bei negativen Schlagzeilen», erklärt Ogi, der als Direktor des Schweizerischen Skiverbands nach den «goldenen Tagen von Sapporo» an der Weltmeisterschaft von 1974 in St. Moritz selber ein Debakel miterlebte: «Wer einen Job als Sportfunktionär übernimmt, muss sich bewusst sein, dass in einer Krise alles, was er sagt und tut, in den Medien kommt. Professioneller Sport kann nicht von Amateuren geführt werden.»
Von den Spitzen eines Sportverbands wird strategisches Denken verlangt: Welche Ziele will man erreichen? Wie geht man mit den vorhandenen Mitteln um? Welche Bereiche baut man aus, welche nicht? Es sind letztlich die gleichen Fragen, mit denen sich Verwaltungsräte von Unternehmen auseinander setzen müssen. Im Gegensatz zur Privatwirtschaft führen die Antworten in den Sportverbänden aber nur allzu oft ins sportliche Abseits.
Beispiel Leichtathletik: Eigenartiges trug sich im Herbst 2003 beim Schweizerischen Leichtathletikverband (SLV) zu. Der Zentralvorstand wählte mit Oliver Baer ausgerechnet jenen Mann zum neuen Direktor, der als Berater mit der Suche nach dem neuen SLV-Geschäftsführer betraut worden war. Die Chemie zwischen dem Fachhochschulabsolventen Baer, der sich zuvor noch nie mit Leichtathletik beschäftigt hatte, und den Fachleuten in Verband und Vereinen stimmte jedoch von Anfang an nicht. Baers Gastspiel dauerte offiziell ein halbes Jahr, nach seinen Angaben gar nur 14 Wochen: «Dann waren die Umstände so, dass ich die operative Verantwortung nicht mehr übernehmen konnte und zurücktrat.»
Der Spuk im Leichtathletikverband kostete nicht nur Oliver Baer die Stelle, sondern auch den SLV-Präsidenten Hans Höhener das Amt. Gegner des ehemaligen Ausserrhoder Regierungsrats hatten – natürlich immer nur hinter vorgehaltener Hand – schon lange gemäkelt, Höhener führe den Leichtathletikverband wie einen Turnverein. Höhener weist dies als «absurd» zurück: «Von anonymen Vorwürfen halte ich nichts. Ohne die Strukturreform, die ich eingeleitet hatte, wäre diese Krise wohl kaum so schnell bewältigt worden.»
Die missratene Wahl im Leichtathletikverband ist kein Einzelfall. Pleiten, Pech und Pannen sind in den Schweizer Sportverbänden an der Tagesordnung. Beispiel Schweizerischer Skiverband: Noch vor 20 Jahren gehörten Siege im Skiweltcup, an Weltmeisterschaften und an Olympischen Spielen zum Selbstverständnis der Schweiz. Heute bleiben die Spitzenresultate an den Weltcuprennen aus, in der Nationenwertung ist die Schweiz auf den vierten Rang abgerutscht.
Knapp 90 Trainer kümmern sich um Nachwuchs und Elite von Swiss-Ski, wie sich der Skiverband zeitgeistig nennt. Skifahrer Paul Accola, mit 37 Jahren der Senior des A-Kaders, wundert sich nicht über diese hohe Zahl: «Der Skiverband denkt zu sozial. Er beschäftigt so viele Trainer in einer Jahresanstellung, um diese vor der Arbeitslosigkeit zu bewahren», erklärt das Davoser Urgestein ohne Umschweife.
Alle Macht den Amateuren
Und je erfolgloser die Athleten, desto schneller dreht sich das Trainerkarussell. Bartsch, Frehsner, Züger, Pieren, Chevalier, Maina sind nur einige Namen auf der langen Liste der in jüngerer Vergangenheit eingestellten und wieder entlassenen Trainer. «Klar fehlt die Kontinuität bei den Trainern», liess sich Verbandsdirektor Jean-Daniel Mudry im Januar 2004 von der «Sonntags-Zeitung» zitieren. «Sie fehlt seit 20 Jahren.» Vier dieser Jahre stand Mudry an der Spitze von Swiss-Ski. Jetzt übergibt er das Problem seinem Nachfolger.
Es fehlt auch an anderem im Schweizer Sport. Etwa am Willen zu Veränderungen. Denn wer einmal an der Spitze eines Sportverbands angelangt ist, tut gut daran, nichts an den Strukturen zu ändern, in denen er sich hochgearbeitet hat. So behalten verdiente Amateure und Hobbysportler das Sagen, unabhängig davon, ob es um die Aufnahme eines 5.-Liga-Klubs in den Verband oder die Absegnung eines 30-Millionen-Budgets geht. «Die Strukturen im Schweizer Sport sind nicht mehr überall zeitgemäss», sagt auch der frühere Sportminister Adolf Ogi.
Im Schweizerischen Fussballverband (SFV) beispielsweise besteht die Delegiertenversammlung aus 47 Vertretern der Amateurliga, 26 Vertretern der 1. Liga und bloss 28 Delegierten, die den Profibetrieb der Swiss Football League vertreten, mit grossen Budgets umzugehen gewohnt sind und von modernem Management schon einmal gehört haben. Dass SFV-Präsident Ralph Zloczower in Portugal nicht bloss den Generalsekretär und den Kommunikationschef zur Seite hatte, sondern mit Urs Saladin (Amateurliga), Guido Cornella (1. Liga) und Peter Stadelmann (Swiss Football League) auch gleich die Präsidenten der drei SFV-Kammern an die Euro 2004 mitnahm, hatte mit sportlichen Notwendigkeiten wenig, mit Verbandspolitik sehr viel zu tun: Im Februar 2005 stehen beim SFV die Präsidentenwahlen an, und da zählt jede (Amateur-)Stimme.
Auch im «Parlament» des Schweizerischen Eishockeyverbands (SEHV) nehmen die Hobbysportler eine starke Position ein. Sie stellen im obersten Verbandsorgan mit zwölf Vertretern gleich viele Delegierte wie die Profiklubs.
Nicht zuletzt diese völlig veralteten Strukturen sorgten im Dezember 2002 für eine Weihnachtsgeschichte der anderen Art: Der «Tages-Anzeiger» deckte auf, dass sich Werner Kohler, Hotelier aus Davos und im Verband innert weniger Jahre zum Präsidenten mit fast unbeschränkten Freiheiten aufgestiegen, beim Verkauf der Vermarktungsrechte an der Nationalliga eine Provision von einer Million Franken gesichert hatte – unkontrolliert und an allen Verbandsgremien vorbei.
Die Aufregung war riesig, der Wille zu Änderungen mässig: Statt einer unabhängigen Stelle bestimmte die Mehrheit des Eishockeyparlaments gegen den Willen der Profiklubs den damaligen Einzelrichter der Nationalliga, Heinz Tännler, zum Untersuchungsrichter. Dieser kritisierte in seinem Bericht zwar die Verbandsführung und die vernachlässigten Kontrollen, aber damit war der Sturm im SEHV vorbei: Mit wenigen Ausnahmen blieben die gescholtenen Funktionäre in Amt und Würden.
Daran konnte auch ein «Tatsachenbericht über die Entschädigungen innerhalb des SEHV» nichts ändern, in dem ein Buchprüfer der Spitze des Eishockeyverbands seitenweise Verfehlungen vorwarf. Man zog es vor, das Papier zu ignorieren. Auch strafrechtlich wird dem Expräsidenten Kohler kaum etwas anzuhängen sein. Noch ist das Verfahren hängig, aber Kohler hat gute Chancen, dass an ihm bloss der Makel haften bleibt, die amateurhaft organisierten Abläufe und Regeln im Verband allzu grosszügig zu seinen Gunsten ausgelegt zu haben.
Keine persönlichen Abhängigkeiten, klarere Verantwortlichkeiten, eine strikte Trennung von strategischer und operativer Tätigkeit: Als ob man aus dem Chaos beim Eishockeyverband die Lehren gezogen hätte, stellte Swiss Olympic auf den Tag genau ein Jahr nach dem Auffliegen der «Affäre Kohler» ein Konzept vor, mit dem man im Dachverband des Schweizer Sports die aus der Wirtschaft bekannten Prinzipien der «Corporate Governance» übernahm. «Natürlich wäre die Einführung dieser Prinzipien auch bei den Mitgliedsverbänden wünschenswert», sagt Medienchef Daniel Steiner, aber die Widerstände seien gross: «Das ist Knochenarbeit.»
Schulden ohne Schuldige
Weniger Widerstände hat Swiss Olympic bei einem anderen Projekt zu erwarten. Ab 2006 erhalten nur noch jene Verbände Geld, die ihre Bücher nach einheitlichen Kriterien führen. Auch dieses Unterfangen brauchte jedoch seine Zeit. Die Studie, in der die Mängel bei der Rechnungslegung der Sportverbände hochoffiziell gemacht wurden, ist bereits fünf Jahre alt. Die Probleme sind wegen diverser Fast-Pleiten mehrerer Verbände bekannt. Ein seriöser Umgang mit Zahlen aber bleibt für viele Sportfunktionäre weiterhin ein Buch mit sieben Siegeln.
Ein solches fanden auch die drei Mitglieder einer unabhängigen Kommission vor, die im Jahr 2000 untersuchte, warum der Schweizer Rad- und Motorfahrer-Bund (SRB) mit drei Millionen Franken in der Kreide und kurz vor dem Konkurs stand. Das ernüchternde Resultat ihrer Recherchen: Der ehemalige Präsident und Tour-de-Suisse-Boss Hugo Steinegger habe den SRB «wie eine Privatangelegenheit geführt». Ein Controlling habe nie stattgefunden, und selbst Dokumente, Verträge und Rechnungen seien zu einem grossen Teil nicht mehr auffindbar gewesen.
Die «Gümmeler», deren Verband neu Swiss Cycling heisst, realisierten dies offensichtlich gerade noch rechtzeitig: Sie krempelten nach dem Beinahe-Konkurs ihren Verband vollständig um und schufen professionelle Strukturen. Den finanziellen Boden unter den Rädern spüren sie trotzdem noch nicht: Obschon Steinegger in einem aussergerichtlichen Vergleich eine Summe in unbekannter Höhe zurückzahlte, lasten noch immer eine Million Franken Schulden auf dem Verband.
Selbst Swiss Olympic, der Olymp der Schweizer Sportgremien, ist vor Abenteuern nicht gefeit: Im Herbst 2000, als erste Experten vor dem Platzen der Internetblase warnten, stellte Direktor Marco Blatter «esport.ch» vor, die gemeinsame Internetplattform aller Sportverbände, die dem Leistungssport 20 Millionen Franken im Jahr einbringen würde. Drei Jahre später wurde das Projekt still beerdigt. Der Verlust, gab Blatter kleinlaut zu, habe über eine Million Franken betragen.
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Thomas Angeliist seit 1999 Redaktor beim Beobachter. Er mag Recherchen, bei denen man tief graben und genau hinsehen muss.Mehr erfahren
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