Die sechs Einheimischen mittleren und älteren Baujahrs diskutieren im «Hirschen», wie man eben in einem Wirtshaus diskutiert. Der Kritik am Fernsehprogramm folgt diejenige am Winter, der keiner mehr sei, und, nach einem Schluck Roten, bekommt die defizitäre IV ihr Fett ab. Nochmals aufs Tapet kommt der Jass vom letzten Mittwoch, an dem einiges gehoben wurde und die Heimkehr verspätet erfolgte - «mini hät mer schön uf de Grind ggä».

Die Wege und Strassen des schmucken Dorfs Kienberg sind menschenleer; die Pendler verabschieden sich am Morgen über den Jurapass Salhöhe in Richtung Aarau oder talwärts Richtung Basel-Landschaft. Zu ihnen gehören auch die Oberstufenschüler, die in Gelterkinden BL unterrichtet werden. Meist treten sie auch ihre Lehrstelle im Nachbarkanton an. Das würde die Bindungen zum Kanton Solothurn nicht gerade stärken, doch mit dem möglichen Kantonswechsel habe das nichts zu tun, heisst es am Stammtisch.
Ein Stichwort, das Wirt Fredy Gubler hellhörig macht. «Der hat als Einziger an der Gemeindeversammlung dagegen gestimmt», murrt einer in der Männerrunde. Die Gemeindeversammlung habe lediglich dem Gemeinderat den Auftrag gegeben, einen Kantonswechsel zu prüfen, erwidert Gubler - «auch das war ein Blödsinn». 2002 bis 2003 war er selbst Gemeindepräsident; er folgte auf Bruno Gubler, der in den neunziger Jahren die Geschicke Kienbergs lenkte.

In jenen Jahren nahm die finanzielle Misere ihren Anfang. 1993 kaufte die Gemeinde ein altes Bauernhaus für rund 750'000 Franken, um dort die Verwaltung und die Feuerwehr unterzubringen. Das hätte aber eine Renovation nötig gemacht, für die der Gemeinderat wohlweislich nie ein Projekt vorlegte - die Mittel dafür waren schlicht nicht vorhanden.

Wenig Einwohner, tiefe Steuerkraft
Bei einem Verkehrswert von heute nur noch 490'000 Franken ist auch ein Verkauf nicht gerade lukrativ. Fredy Gubler sieht im Grundstückhandel aber nicht den Grund für die desolaten Finanzen. «Wir haben einfach zu wenig gute Steuerzahler», erklärt er. Im Mittel betrage die Steuerkraft im Kanton Solothurn 2500 Franken pro Einwohner und Jahr - in Kienberg nur 1500 Franken.

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Die Idylle trügt: Das 500-Seelen-Dorf Kienberg sitzt auf einem Schuldenberg - und hofft auf Hilfe von «oben».



Immerhin verzeichnete man vor der Jahrtausendwende doch einige gute Jahre, in denen der Fehlbetrag in der Bilanz etwas abgetragen werden konnte. 1999 erreichte die Einwohnerzahl mit 552 auch ein Zwischenhoch - 145 mehr als 1990 und 27 mehr als 2007. Ex-Gemeindepräsident Bruno Gubler führt diese Zahlen gerne ins Feld, um seine Unschuld am finanziellen Desaster zu beweisen. Nach 2001 ging es finanziell wieder bergab; der Gemeinderat räumte die Leichen im Keller aus - sprich, er schrieb einige Steuerschulden ab. Rund eine halbe Million fehlt dem Dorf seither.

Doch «mittelfristig» verlangt der Kanton von allen Gemeinden eine ausgeglichene Rechnung - und im Fall Kienberg hält er «mittelfristig» seit vier Jahren für abgelaufen. Solothurn schlägt eine einfache Lösung vor: Kienberg müsse den Steuerfuss von jetzt 135 auf neu 143 Prozent erhöhen. «Die Kienberger zahlen damit nicht mehr Steuern», erklärt André Grolimund, Vorsteher des Amts für Gemeinden, «die Kantonssteuern wurden nämlich gesenkt.»

Kanton lässt die Muskeln spielen
«Nicht mit uns», kontert der heutige Gemeindepräsident Christian Schneider, «damit wären wir einsame Spitze im Kanton, kein guter Steuerzahler würde sich bei uns niederlassen.» Schliesslich könne man auch in Kienberg wohnen und ein anderes Steuerdomizil wählen - «solche Trickli werden in anderen Gemeinden bereits praktiziert». Die Lage sei schon jetzt schlimm. «Ammel (gemeint ist das benachbarte Anwil BL, Anm. d. Red.) hat einen tieferen Steuerfuss und konnte einen Sportplatz bauen - die neuen Steuerzahler blieben nicht aus. Wir müssen froh sein, wenn die Leute hier bleiben.»

Rechtlich sitzt der Kanton am längeren Hebel: Er kann den Steuerfuss im Rahmen eines aufsichtsrechtlichen Verfahrens über die Köpfe der Kienberger hinweg erhöhen. Die muffen Dörfler drohen im Gegenzug, den Kanton zu wechseln. «Ja, so ernst ist das nicht gemeint», tönt es aus der Männerrunde im «Hirschen». Aber sie fühlten sich wirklich schlecht behandelt von «denen in Solothurn».

Wenig begeistert vom Kanton Solothurn ist auch Gemeindepräsident Christian Schneider: «Aus dem Finanzausgleich erhalten wir gerade mal 200'000 Franken. Fast so viel zahlen wir in den Sozialfonds ein.» Die Gemeindeversammlung habe dem Gemeinderat auch den Auftrag erteilt, nach Sparmöglichkeiten zu suchen, was er auch tue. «Aber viel liegt da nicht mehr drin, schliesslich können wir uns nicht zu Tode sparen.»

Die Drohung mit dem Kantonsaustritt nimmt man in Solothurn gelassen. André Grolimund: «Die Grenzen des Kantons sind durch die historischen Gegebenheiten bestimmt und von den eidgenössischen Räten gewährleistet - so steht es in der Kantonsverfassung. Das könnte nur durch eine Volksabstimmung geändert werden.» Bei einem Ja müssten zudem noch die eidgenössischen Räte ihren Segen geben. Es stelle sich auch die Frage, welcher Kanton die verschuldete Gemeinde aufnehmen wolle.

Zu den «historischen Gegebenheiten»: Am 7. Dezember 1523 kaufte der Kanton Solothurn dem in Geldnöten steckenden Landadeligen Ulrich von Heidegg Kienberg für 3300 Gulden ab. Vielleicht könnte sich der Kanton nun auch im Fall der überschuldeten Kienberger auf diese schöne Tradition der Hilfsbereitschaft besinnen.

Kantonswechsel: Nur im Einverständnis mit Solothurn

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Exponierte Lage: Die Gemeinde Kienberg liegt im Dreiländereck von Solothurn, Aargau und Baselland.

Ein Kantonswechsel ist für Stephan Mathis, Generalsekretär der Justiz-, Polizei- und Militärdirektion des Kantons Basel-Landschaft, nichts Neues; er hat bereits am Wechsel des Laufentals von Bern zu Basel-Landschaft mitgearbeitet. «Der Kanton Solothurn müsste zuerst eine Verfassungsbestimmung schaffen, die den Kantonswechsel überhaupt ermöglicht», gibt er zu bedenken. Für seinen Kanton sieht er keinen Handlungsbedarf. «Wir mischen uns nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Kantons ein», erklärt er. Auch für Walter Mischler, Chef der Gemeindeabteilung im Kanton Aargau, ist das Einverständnis Solothurns ausschlaggebend. Voraussetzung wäre, dass sich Kienberg mit einer Aargauer Gemeinde zusammenschliessen würde. «Als Pfeffikon LU und Reinach AG eine Gemeindefusion über die Kantonsgrenze prüften, erklärten wir uns gesprächsbereit, weil Luzern dazu Hand bot», sagt Mischler. Doch am Schluss habe sich Pfeffikon dagegen entschieden. Eine Fusion planten einst auch die Gemeinden Meierskappel LU und Risch ZG. Die Übung wurde abgebrochen, weil sich die Bevölkerung von Risch dagegen aussprach und Luzern Meierskappel nicht ziehen lassen wollte.