Philipp Flury, 20-jährig, von Beruf Koch, verfasste eine «Mitteilung in eigener Sache» und legte sie den Mitbürgerinnen und Mitbürgern seiner Wohngemeinde Starrkirch-Wil SO in den Briefkasten. Er tat ihnen kund, dass ihn das Bundesgericht von Schuld und Strafe reingewaschen habe, indem es das Urteil der Jugendgerichtskammer des Solothurner Obergerichts aufgehoben habe.

Flurys publizistischer Effort ist verständlich: Schliesslich wusste fast jeder im 1150-Seelen-Dorf von seiner Verurteilung. Die Untat, deren man ihn fälschlicherweise bezichtigte: Er habe zweimal die Spitalambulanz zu seinem Nachbarn bestellt – wegen einer akuten Herzkrise. Dabei habe er einen falschen Namen angegeben und einen Ostschweizer Dialekt nachgeahmt. Die Ambulanz sei dann mit Blaulicht und Sirene zu seinem verdutzten Nachbarn gebraust. Zudem habe er verschiedene Male Taxis zum selben Nachbarn bestellt.

Keine schweren Delikte – entsprechend mild fiel das Urteil aus: zwei Tage Arbeitsleistung. Mit fast 3000 Franken trafen die Gerichtskosten und die Gebühren den damaligen Kochlehrling Flury aber hart.

«Wenn du es gewesen bist, dann gib es zu und mach reinen Tisch. So schlimm ist die Sache ja auch wieder nicht», riet ihm seine Mutter vor der Verhandlung. Doch Philipp Flury lehnte ab: «Ich habe nichts getan und kann nichts gestehen.»

Dass im Spital alle Notfallanrufe auf Band gespeichert werden, kam der Polizei bei der Aufklärung zustatten: Die Stimme des Täters konnte jederzeit abgespielt werden. Trotz Verstellung war klar, dass es sich um eine helle Männerstimme handeln musste. Im Gespräch mit der Notfallstation hatte der Täter eine falsche Telefonnummer angegeben. Doch die ersten fünf Ziffern dieser Nummer waren identisch mit den ersten fünf Ziffern von Philipp Flurys Nummer und ebenso mit jenen von Peter Staubs Nummer (Name geändert), der ebenfalls in Starrkirch-Wil wohnt.

Doch der 18-jährige Peter Staub gab in der ersten Befragung bekannt, er sei in der fraglichen Zeit in St. Moritz gewesen. Zwar hatte das Opfer weitere mögliche Täter genannt, doch schieden diese aufgrund der Stimmvergleiche aus. Der dunkelhäutige Philipp Flury war fortan für die Polizei der einzige Verdächtige.

Fahnder stellten Suggestivfragen
Die Fahnder gingen nun mit dem Tonband auf die Pirsch. Vier Oberstufenlehrer von Olten hörten sich in der Folge das Band an, Kollegen von Philipp Flury, seine Familienangehörigen, sein Götti, die Gerantin des Restaurants sowie eine Köchin an seiner Lehrstelle. Raten, wer der Sprecher sein könnte, mussten sie nicht, denn der Polizist fragte hilfreich, ob dies die Stimme von Philipp Flury sei. Und er erzählte auch, welcher Untat der Kochlehrling bezichtigt wurde.

Die Antworten reichten von «sicher nicht» (seine Familie) bis zu «fast sicher» (der anfangs mitverdächtigte Peter Staub), wobei die bejahenden Stimmen überwogen. Das Obergericht wertete diese Tatsache als erdrückenden Beweis: Zahlreiche Leute hätten Philipp anhand der Aufnahmen «mehr oder weniger identifiziert». Vor Gericht hatte Philipp zudem noch ein wissenschaftliches Gutachten angefordert. Obwohl der Gutachter der ETH Zürich die Tonqualität als ungenügend bezeichnete, werteten die Richter das Ergebnis als «weiteres Indiz für Flurys Schuld».

Für den Kochlehrling war nun die Anrufung des Bundesgerichts die logische Konsequenz. Seine Verteidigerin machte ihn darauf aufmerksam, dass das Bundesgericht über neunzig Prozent der staatsrechtlichen Beschwerden ablehne, die Kosten aber beträchtlich seien. Das beeindruckte Philipp nicht. «Ich wollte einfach allen das Maul stopfen, die da herumerzählten, ich sei es gewesen.»

Philipp Flurys Beharrlichkeit lohnte sich: Das Bundesgericht hob das Urteil und die Strafe der Solothurner Richter auf. Das oberste Gericht zerzauste deren Argumentation in seltener Schärfe. Und zur Arbeit der Polizei hielten die Lausanner Richter fest: «Die vom Obergericht berücksichtigten belastenden Aussagen leiden sodann teilweise an krassen Fehlern der polizeilichen Ermittlungsarbeit.»

So hatte der Polizeibeamte von den Aussagen der vier Oltner Lehrer, die die Stimme Philipps erkannt haben wollten, kein Protokoll mit Unterschrift erstellt. «Es handelt sich vielmehr um die Handnotizen eines Polizeibeamten, die sich teilweise auf private Ermittlungen eines weiteren Lehrers stützten. Derart mangelhafte Beweisgrundlagen sind in einem Strafprozess grundsätzlich nicht verwertbar.»

Krasse Widersprüche
Dass der Polizeibeamte allen Hörern des Tonbands zuvor gesagt hatte, Philipp Flury sei tatverdächtig, bezeichnete das Bundesgericht als «wenig sachgerecht» und wies auch auf die Suggestivwirkung hin.

An Widersprüchen in der Argumentation der Solothurner Richter mangelte es nicht. Der Anrufer hatte zwar die Ambulanz zu Philipp Flurys Nachbar bestellt. Beim Anruf ans Spital konnte er aber weder Vorname noch Alter dieses Nachbarn nennen. Philipp waren diese Daten bekannt. Daraus schloss das Obergericht, Philipp Flury habe seine Identität vertuschen wollen.

Das Bundesgericht wischte diese Argumentation vom Tisch, besonders weil der Täter beim zweiten Anruf den Vornamen und das Alter des Opfers nennen konnte. Er hatte sich in der Zwischenzeit offensichtlich erkundigt.

Ein nachvollziehbares Motiv fehlt
Aber: Hatte Philipp Flury ein Motiv, um seinem Nachbarn die Ambulanz ins Haus zu schicken? Da das Obergericht nichts Konkretes fand, behalf es sich mit der allgemeinen Feststellung, dass «Jugendliche auch ohne spezifische Veranlassung Unfug mit dem Telefon treiben». Das Bundesgericht bemerkte dazu, diese pauschalisierende Erwägung vermöge nicht über das Fehlen eines Motivs hinwegzutäuschen.

Schliesslich rügte das Bundesgericht auch, dass die Vorinstanz nie ernsthaft geprüft hatte, ob auch eine andere Person die falschen Anrufe getätigt haben könnte. Speziell, ob Peter Staub als Täter in Frage komme. Denn die ersten fünf Ziffern der Telefonnummer trafen ja auch auf Peter Staub zu. Dazu komme, dass die Stimmen der beiden jungen Männer frappant ähnlich seien.

Die Folgerung des Bundesgerichts: «Bei gesamthafter Betrachtung bilden die Beweiswürdigungen der kantonalen Instanzen keine ausreichende Grundlage für eine strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers. Zum einen enthalten ihre Sachverhaltsmassnahmen deutliche Widersprüche und Unstimmigkeiten. Zum andern bestehen verschiedene Anhaltspunkte dafür, dass ein Dritter die Straftat begangen haben könnte.»

Die Familie Flury freute sich über das Urteil der höchsten Richter. Philipp konnte die Lehre erfolgreich abschliessen und war endlich frei von der Belastung, zu Unrecht verurteilt worden zu sein.

Ungetrübt ist seine Freude jedoch nicht. Zwar hatten ihm das Obergericht und das Bundesgericht finanzielle Entschädigungen zugesprochen, doch deckten diese die Anwaltskosten bei weitem nicht. Rund 5000 Franken musste Philipp Flury aus dem eigenen Sack bezahlen.

Es ist anzunehmen, dass der Polizei und den Herren Richtern des Standes Solothurn das Urteil des Bundesgerichts eher peinlich ist. Doch sie werden das verkraften können. Die Zeche für ihre schludrige Arbeit bezahlt schliesslich Philipp Flury.