Quellen: OECD 2013, BFS/LSE/Auswertung SECO; Infografik: Beobachter/AS/AK

Quelle: Salvatore di Nolfi

Wie viele Arbeitnehmer sind in der Schweiz von Tieflöhnen betroffen?

Rund 9 Prozent der Arbeitnehmer verdienten 2010 weniger als 22 Franken pro Stunde. Betroffen sind 330 000 Beschäftigte. Als Tieflöhne gelten Einkommen von weniger als zwei Dritteln des Durchschnittslohns. Das sind 3986 Franken brutto bei 40 Wochenstunden. Im internationalen Vergleich weist die Schweiz relativ wenige Tieflohnstellen aus. Nur Belgien, Finnland und Portugal haben weniger Tieflohnbezüger.

In welchen Branchen sind Tieflöhne verbreitet?

Vor allem im Detailhandel, in der Gastronomie, der Gebäudereinigung, im Gartenbau, in der Hauswirtschaft, der Landwirtschaft und in Betrieben der persönlichen Dienstleistungen wie Coiffeur- und Kosmetiksalons oder Wäschereien.

Gefährdet der Mindestlohn Arbeitsplätze?

Gemäss den Initianten ist das Gegenteil der Fall. Unzählige Studien würden dies belegen. Der Mindestlohn zwinge die Arbeitgeber, die Tieflöhne anzuheben. Der Gewinn der Arbeitgeber werde zwar geschmälert, aber zugunsten der Löhne der Arbeitnehmer. So würde die Kaufkraft erhöht und die Nachfrage nach Konsumgütern angekurbelt, und damit würden Arbeitsplätze geschaffen.

Ganz anders beurteilt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) den Sachverhalt. Vor allem im Detailhandel, im Gastgewerbe und im Tourismus sei bei einer Annahme der Initiative mit dem Verlust von Arbeitsplätzen zu rechnen. Treffen würde es gemäss Seco vor allem Personen mit tiefem Qualifikationsniveau. Auch der Einstieg von Jugendlichen in den Arbeitsmarkt würde erschwert.

Das Seco zweifelt auch an den Zahlen, die von den Initianten ins Feld geführt werden: In keinem der untersuchten Länder sei der Mindestlohn nur annähernd so hoch wie der, den die Schweiz jetzt plane, also sei ein Vergleich der Daten fragwürdig.

Würden bei einer Annahme der Initiative auch alle Lehrlinge im Monat mindestens 4000 Franken verdienen?

Nein. Gemäss Initiativtext kann der Bund für besondere Arbeitsverhältnisse Ausnahmeregelungen erlassen. Dazu gehören gemäss den Initianten die Lehrlinge. Von der gesetzlichen Lohnuntergrenze ausgenommen wären auch Praktika und geschützte Arbeitsplätze.

Die Gegner argumentieren, dass Arbeitgeber sich diese Ausnahme zunutze machen könnten und statt regulären Arbeitsstellen vermehrt nur Praktika anbieten würden.

Würde der Mindestlohn von 4000 Franken der Teuerung angepasst?

Ja. Der Initiativtext verlangt eine regelmässige Anpassung an die Lohn- und Preisentwicklung. Diese muss mindestens gleich hoch ausfallen wie jene der AHV-Renten.

Wo bewegt sich der fixe Mindestlohn im internationalen Vergleich?

Der Schweizer Mindestlohn von 22 Franken läge mit weitem Abstand an der Spitze. Kaufkraftbereinigt käme er laut Seco um 36 Prozent höher zu liegen als in Luxemburg und um 39 Prozent höher als in Frankreich. Gegenüber den Niederlanden wäre er sogar um 50 Prozent höher.

«Wer in der Schweiz arbeitet, muss auch anständig davon leben können. Dafür braucht es 4000 Franken pro Monat», argumentieren die Initianten. Der Mindestlohn sei somit auch im internationalen Vergleich nicht zu hoch.

Fördert die Initiative die Zuwanderung?

Nein, sagen die Initianten. Mindestlöhne, kombiniert mit griffigen Kontrollen, garantierten, dass die Arbeitgeber keine billigen Arbeitskräfte aus dem Ausland auf Kosten von Inländern anstellen könnten. Gegner beurteilen das umgekehrt. Sie sagen, der hohe Schweizer Mindestlohn entfalte eine Sogwirkung.

Gemäss Seco steigt mit der Annahme der Initiative der Anreiz für ausländische Arbeitskräfte, in der Schweiz zu arbeiten. Zugleich sei aber in den betroffenen Bereichen wie der Gastronomie damit zu rechnen, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften sinke.

Wären Mindestlöhne in der Schweiz neu?

Nein. Sie sind ein Bestandteil der meisten Gesamtarbeitsverträge. Ihre Höhe unterscheidet sich je nach Branche, im Gastgewerbe für Mitarbeiter ohne Berufslehre beträgt der minimale Stundenlohn 18.72 Franken.

Bekämpft ein Mindestlohn die Armut?

Wer 4000 statt 3200 Franken pro Monat verdient, hat mehr zum Leben, sagen die Initianten. Der Mindestlohn sei ein wirksames Mittel in der Armutsbekämpfung.

Das Seco warnt: So hohe Minimallöhne könnten kontraproduktiv wirken; die Verteuerung einfacher Tätigkeiten gefährde Arbeitsplätze von gering qualifizierten Arbeitnehmenden, die ohnehin ein hohes Armutsrisiko aufweisen würden.

Verhandeln oder verordnen

Arbeitgeber halten die Sozialpartnerschaft für besser als einen Mindestlohn. Gewerkschafter stimmen ihnen zu. Nur verstehen sie unter Partnerschaft etwas anderes. 

Das Beste, was Angestellten passieren kann, ist ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) – findet Gewerkschafter Daniel Lampart: «Wenn das alle Arbeitgeber so sähen, wäre ein gesetzlicher Mindestlohn weniger dringend als heute», sagt der Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds.

Gesamtarbeitsverträge sind eine Erfolgsgeschichte. Noch nie haben so viele Lohnbezüger von so guten Arbeitsbedingungen profitiert wie heute.

Der Anteil der Angestellten, die einem GAV unterstellt sind, stieg innert zehn Jahren von 38 Prozent (2001) auf 49 Prozent (2012). Zudem sind unlängst Mindestlöhne in mehreren GAV auf das Niveau der Mindestlohn-Initiative angehoben worden. Und diverse Firmen führten im Zuge der Initiative selber Mindestlöhne ein, unter ihnen Aldi, Lidl und H &  M.

Mehr Gesamtarbeitsverträge

2012 unterstanden 1'797'300 und damit 49 Prozent aller Werktätigen einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV).


2001

2007

2012

Anzahl GAV

78

98

100

Anzahl Werktätige unter GAV absolut

1'234'500

1'475'900

1'796'300

Anzahl Werktätige unter GAV in Prozent

38

41

49

Quelle: BFS 2012 und SECO

Ein GAV hält ausländische Tieflöhner fern

Dass die GAV-Abdeckung stetig steigt, hat mit der Personenfreizügigkeit zu tun. Seit ihrer Einführung erklären Bund und Kantone Gesamtarbeitsverträge vermehrt für allgemeingültig, für ganze Branchen oder Gebiete. Das können sie auf Antrag der Sozialpartner, wenn diese mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer und Arbeitgeber eines Bereichs vertreten. Arbeitgeber machen die Allgemeinverbindlichkeit oft sogar zur Bedingung, um einen GAV überhaupt zu unterzeichnen: Damit schützen sie sich vor ausländischer Konkurrenz, die Angestellte zu Dumpinglöhnen in die Schweiz schickt. Der GAV verhindert dies mit Minimallöhnen. Auch der Bundesrat verteidigt die Sozialpartnerschaft als bessere Alternative zum Mindestlohn – weil sich die Verträge flexibler anpassen lassen.

Braucht es neben dem «Königsweg GAV» also überhaupt einen gesetzlichen Mindestlohn?

«Löhne und Arbeitsbedingungen sind Verhandlungssache und liegen in der Verantwortung der Sozialpartner», schrieb die St. Galler FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter auf «NZZ online». Die Präsidentin des Detailhandelsverbandes Swiss Retail Federation erntete dafür nicht Anerkennung, sondern heftige Kritik von Gewerkschaftern. Ihr Verband «verwehrt sich seit jeher, über einen GAV auch nur zu verhandeln. Wenn deren Präsidentin nun die Sozialpartnerschaft hochhält, ist das nicht ehrlich. Man muss das leider als Abstimmungsrhetorik interpretieren», sagt Gewerkschafter Lampart.

Gerade im Detailhandel beissen sich die Gewerkschaften an einzelnen Tieflohn-firmen die Zähne aus. Das Problem sind weniger kleine Familienfirmen als grössere Modehäuser wie Tally Weijl, dem die Gewerkschaft Unia letzte Woche den «Tieflohn-Kaktus» verpasste. Kritik übt die Unia auch an Arbeitsbedingungen bei den grossen Schuhhändlern Bata und Reno.

Keller-Sutter weist die Vorwürfe zurück: «Swiss Retail deckt nur etwa 20 Prozent des Einzelhandels ab. Einzelne Mitglieder haben Gesamtarbeitsverträge abgeschlossen, andere Hausverträge.» Die kritisierten Mode- und Schuhgeschäfte seien nicht Mitglied in ihrem Verband. Und: «Sozialpartnerschaft meint nicht zwingend den Abschluss eines GAV, sondern die Beziehungspflege zwischen Unternehmer und Mitarbeitern.» Dieser Vorstellung kann Gewerkschafter Lampart nichts abgewinnen: «Gute Beziehungen sind zwar schön und nett, ersetzen aber keinen Vertrag.»

Multis sträuben sich gegen einen GAV

C & A und Ikea, beides Mitglieder von Swiss Retail, würden andernorts Gesamtarbeitsverträge anwenden, sich in der Schweiz aber dagegen sträuben.

In Österreich unterstehen 95 Prozent und in Holland 84 Prozent der Lohnbezüger einem GAV – in der Schweiz bloss jeder zweite. Die Gewerkschaften würden die Löcher im Flickenteppich jetzt mit einem Mindestlohn stopfen. Das wäre nicht nötig, wenn sich mehr Arbeitgeber auf Gesamtarbeitsverträge einlassen würden. Neben differenzierten Lohnregeln könnten so auch Fragen wie Frühpensionierungen oder Weiterbildung branchengerecht geregelt werden.

Auf dem Papier unterstützt sogar der Schweizer Arbeitgeberverband «sozialpartnerschaftlich ausgehandelte Lohnvereinbarungen», wie er in einer Stellungnahme zur Initiative schreibt. Ständerätin Keller-Sutter sitzt auch in diesem Verband im Vorstand.