Strafrechtlich war der Tatbestand rasch klar. Nicht nur bei Silvio (Name geändert), sondern auch bei anderen Opfern deckte die Untersuchung sexuelle Übergriffe auf. Das Thurgauer Obergericht verurteilte den Ostschweizer Jungscharleiter B. vom Christlichen Verein junger Männer (CVJM) im März 2003 wegen sexueller Handlungen mit Kindern und Abhängigen zu zwölf Monaten Gefängnis bedingt.

Dem heute 28-jährigen Opfer wurden Genugtuung und Schadenersatz zugesprochen, allerdings wegen Mitverschuldens um 70 Prozent reduziert. Silvio, der den Gruppenleiter Jahre nach dem ersten Übergriff angezeigt hatte, stand als Einzelkämpfer da. Die anderen Betroffenen wollten sich nicht mehr äussern, oder die Übergriffe waren verjährt.

Silvios Anwalt zog das Urteil vor Bundesgericht. Bei der Bemessung der Genugtuungs- und Schadenersatzsumme lastete die 1. Zivilabteilung mit drei zu zwei Stimmen dem Opfer ebenfalls eine Mitschuld an, kürzte den Betrag aber lediglich um einen Viertel. Die Begründung lautete folgendermassen: Sich diesen Kontakten zu widersetzen «wäre ohne weiteres möglich gewesen, da der Beklagte bei keinem seiner Opfer physischen Zwang ausübte» und auch nicht insistierte, wenn diese weitere Kontakte ablehnten. Im folgenden Interview nimmt Silvio erstmals zum fragwürdigen Urteil Stellung und erklärt, wie es zum jahrelangen sexuellen Missbrauch kam.

Beobachter: Wie sind Sie zur christlichen Bewegung CVJM (Cevi) gekommen?
Silvio: Auf Anregung meiner Mutter. Auch Kollegen aus unserem Häuserblock weckten mein Interesse. Ich konnte mich mit dem Leitsatz identifizieren, wonach die Organisation die Entwicklung der Persönlichkeit unterstützt. Mit dem religiös ausgerichteten Inhalt hatte ich auch keine Mühe. Wir waren an den Samstagnachmittagen viel draussen in der Natur, befassten uns mit der biblischen Geschichte oder inszenierten Rollenspiele.

Beobachter: Wie war das Verhältnis zum Gruppenleiter?
Silvio: Anfänglich war der Kontakt unbedenklich. Er war 13 Jahre älter als ich und rückte zum Leiter der Gruppe auf. Sein militärischer Ton und ein gewisser Drill haben mich jeweils eingeschüchtert. Gelegentlich war er auch jähzornig.

Beobachter: Wie kam es zu den Übergriffen?
Silvio: Im Anschluss an eine Gruppenübung lud er mich zu sich nach Hause ein – unter dem Vorwand, er wolle mir Computerspiele zeigen. Ich war allein mit ihm. Er legte mir eine Tabelle mit verschiedenen Körpermassen vor, unter anderem auch über die Geschlechtsorgane in normalem und erigiertem Zustand und über die Menge des Spermas. Ich hätte nackt vor seinen Augen masturbieren müssen, damit er seine Messungen vornehmen konnte. Als er sah, wie ich bei dieser Vorstellung zusammenfuhr, beruhigte er mich, man könne die intimen Messungen auch weglassen.

Beobachter: Täuschte er mit den Tabellen und Daten vor, an einem wissenschaftlichen Projekt zu arbeiten?
Silvio: Das war alles Tarnung. Weil ich schon als Kleinkind ab und zu von meinem Grossvater missbraucht wurde, war mein Zugang zur Sexualität ohnehin gestört. Nach und nach hatte ich also das Gefühl, ich müsse bei diesen Handlungen mitmachen, als ob es selbstverständlich wäre. So liess ich es eben über mich ergehen. Am Anfang kam es alle zwei bis drei Monate zu sexuellen Handlungen, dann immer häufiger. Unfreiwillig verspürte ich selber oft auch Lust, und irgendwann war ich ihm hörig.

Beobachter: Hat er Sie auch animiert, ihn zu befriedigen?
Silvio: Mit der Zeit schon. Er zog dann auch die Kleider aus und forderte mich auf, bei ihm entsprechende Messungen vorzunehmen. Später standen nur noch die sexuellen Handlungen im Mittelpunkt. Es kam so weit, dass ich meine eigene sexuelle Ausrichtung nirgends mehr einordnen konnte und auch ausserhalb dieser Beziehung homosexuelle Kontakte suchte.

Beobachter: Wie endete die Beziehung schliesslich?
Silvio: Der Auslöser war eine Freundin, die ich mit einem Mann betrogen hatte. Ich wollte es ihr nicht verheimlichen und sprach offen mit ihr darüber. Sie konnte kein Verständnis aufbringen, und wir trennten uns. Ich merkte, dass es so nicht weitergehen konnte. Mir wurde bewusst, dass diese sexuellen Praktiken nicht meinem Wesen entsprechen. Ich machte dem Gruppenleiter klar, dass ich endgültig einen Schlussstrich unter unsere Beziehung ziehen und ihn anzeigen würde.

Beobachter: Hatten Sie Bedenken, er könnte sich rächen?
Silvio: Seinem kindlichen Gemüt traute ich das nicht zu. Also meldete ich die Übergriffe dem örtlichen Diakon. Er liess durchblicken, er höre nicht zum ersten Mal von solchen Anschuldigungen. Konkrete Hilfe fand ich bei der Fachstelle Mira, Prävention sexueller Ausbeutung im Freizeitbereich. Sie vermittelte mir den Anwalt Markus Schultz. Er brachte alles ins Rollen. Es war eine strube Zeit. Allein hätte ich es nicht geschafft.

Beobachter: Worin bestand Ihre grösste Not?
Silvio: Ich wurde depressiv, konnte nicht mehr arbeiten, wurde arbeitslos und fiel in ein finanzielles Loch. Auch das jahrelange Warten auf die Urteile war eine enorme Belastung. Eine Psychotherapeutin half mir, mit den Erlebnissen umzugehen. Ich bin mir bewusst, dass Rückfälle in alte Mechanismen nicht auszuschliessen sind.

Beobachter: Weshalb haben die Kollegen, die auch vom Gruppenleiter missbraucht wurden, Sie in Ihrem Kampf nicht unterstützt?
Silvio: Ich hatte mit niemandem mehr aus der Gruppe Kontakt. Zwar bezeugten einzelne während des Gerichtsverfahrens ähnliche Übergriffe, wollten aber die Vergangenheit ruhen lassen. Alle verspürten wohl Scham oder Angst. Vieles war auch verjährt. Eine Sammelklage kam nicht zustande. Dass ich nicht das einzige Opfer des Gruppenleiters war, lässt auch seine umfassende verschlüsselte Datenverwaltung von Jungschärlern vermuten.

Beobachter: Konnten Sie sich wenigstens Ihren Eltern anvertrauen?
Silvio: Sie nahmen es zur Kenntnis, gingen aber nicht weiter darauf ein. Auch die Kirche wollte nicht, dass die Affäre an die Öffentlichkeit kommt. Ich stand ganz allein da und kapselte mich ab.

Beobachter: Fiel es Ihnen schwer, mit Ihrem Anwalt darüber zu reden?
Silvio: Es war vielmehr eine Erleichterung. Natürlich machte ich mir auch Vorwürfe und hatte Schuldgefühle. Aber zu ihm hatte ich Vertrauen. Hingegen wurde ich bei den polizeilichen Befragungen von einer Beamtin richtiggehend überfahren. Sie fragte mich beispielsweise, ob ich mich freiwillig in das Verhältnis eingelassen und bei den sexuellen Handlungen Lust empfunden habe. Meine Zustimmung war wohl für das Gericht ausschlaggebend, mir eine Mitschuld anzulasten.

Beobachter: Das Lustempfinden ist in diesem Fall wohl eher ein biologischer Vorgang.
Silvio: Das denke ich auch. Man kann doch den Trieb nicht einfach abstellen, erst recht nicht als Kind. Es ist doch diesem Mechanismus ausgeliefert.

Beobachter: Kamen Sie sich ausgenutzt vor?
Silvio: Sicherlich.

Beobachter: Standen Sie Ihrem Peiniger nochmals Aug in Aug gegenüber?
Silvio: Ja, bei einer Gerichtsverhandlung. Wir wechselten kein Wort. Für mich ist die Geschichte abgeschlossen. Aber sie wird mich ein Leben lang begleiten.

Beobachter: Können Sie trotzdem glücklich sein?
Silvio: Im Grossen und Ganzen schon. Ich hintersinne mich nicht mehr, warum das alles ausgerechnet mir passiert ist. Seit drei Jahren habe ich eine tolle Freundin, mit der ich jetzt zusammenziehe.

Beobachter: Wie reagierten Sie auf das Bundesgerichtsurteil?
Silvio: Ein Stück weit mit Bestürzung, weil ich nicht verstehen konnte, warum es zu meinen Ungunsten ausfiel und mir eine Mitschuld angelastet wurde. Ein Stück weit aber auch mit Erleichterung, weil mir doch drei Viertel der geforderten Genugtuung zugesprochen wurde. Das gab mir einen gewissen Rückhalt. Aber in meinen Augen bleibt es ein Fehlentscheid, und die Abfindung ist eine Farce.

Beobachter: Haben Sie noch Kontakt zum Cevi?
Silvio: Nein. Durch die Vorfälle ist mein Glaube angeschlagen.

Beobachter: Wie können sich Jugendliche vor sexuellen Übergriffen schützen?
Silvio: Man muss schon die Kinder sensibilisieren und sie in ihrer Selbstbestimmung bestärken: Dein Schnäbeli gehört dir. Sag Nein.

Bundesgerichtsentscheid: Rundherum Empörung

Der Rechtsvertreter des Opfers, der auf Haftpflicht und Firmenrecht spezialisierte St. Galler Anwalt Markus Schultz, zeigt sich vom Urteil «schockiert». Gerade das seelisch schwach entwickelte Kind brauche zusätzlichen Schutz und dürfe nicht «zum Freiwild von Sexualstraftätern» werden.

Urs Hofmann, Leiter der Fachstelle Mira, Prävention sexueller Ausbeutung im Freizeitbereich, bezeichnet den Entscheid als «katastrophal». Dadurch werde das Schutzalter unterlaufen und das Schuldgefühl der Betroffenen zementiert. Die Zentralsekretärin des Cevi, Myriam Heidelberger Kaufmann, betont, das Opfer könne «nie und in keiner Weise» eine Mitschuld treffen. Die Organisation liess dem Opfer ein Dreivierteljahr nach dem Bundesgerichtsentscheid einen Beitrag aus dem Solidaritätsfonds zukommen.

Peter Albrecht, Extraordinarius für Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der juristischen Fakultät der Uni Basel, weist auf den «Wertungswiderspruch» hin: Einerseits betrachte das Strafgesetz sexuelle Handlungen mit Kindern (bis 16 Jahre) als schweres Delikt, anderseits werfe das Bundesgericht einem solchen Kind, welches das Strafrecht schützen will, ein Mitverschulden an den strafbaren Handlungen vor. Es sei damit zu rechnen, dass künftig in Strafverfahren wegen sexueller Handlungen mit Kindern bei Zivilforderungen das allfällige Mitverschulden des Opfers vermehrt vor Gericht thematisiert werde: «Das widerspricht evident den Intentionen des Opferhilfegesetzes, gerade auch seit dessen letzter Revision.»