Der Spendenaufruf, den rund 5000 ausgewählte Personen kürzlich in ihren Briefkästen vorfanden, tönt seriös und viel versprechend. «Die Behörden kümmern sich zwar um die Straftäter, aber die Opfer werden zu Unrecht zu oft allein gelassen. Wir stehen dem Opfer beratend zur Seite und begleiten es in sein Leben danach.»

Unterzeichnet ist der Bettelbrief vom Zürcher Rechtsanwalt Carlo Häfeli, seit rund einem Jahr Präsident der Opferhilfeorganisation «Der Weisse Ring». Er hat sich zum Ziel gesetzt, den kriselnden Verein wieder zu dem zu machen, was er einmal war: «eine unabhängige, konfessionell und parteipolitisch neutrale Opferhilfeorganisation, die ohne staatliche Beiträge auskommt, traumatisierte Opfer unterstützt und ihnen bei Strafanzeigen beratend zur Seite steht».

«ZurZeit keine Aktivitäten»
Doch was auf dem Papier und im Internet den Eindruck einer professionellen Organisation erweckt, wirft bei näherer Betrachtung kritische Fragen auf. So sind etwa namentlich aufgeführte Opferhilfeberater anderweitig berufstätig und nur via E-Mail zu erreichen. Hotlineanrufe landen in Häfelis Kanzlei an der Zürcher Dufourstrasse, wo eine Sekretärin eine eigens für den «Weissen Ring» installierte Telefonnummer bedient. Beim «Informationsmaterial», das bestellt werden kann, handelt es sich weitgehend nicht um Eigenleistungen, sondern um Broschüren zur Verbrechensverhütung, die bei jedem Polizeiposten kostenlos bezogen werden können. Und wer nach «Informations- und Vortragsveranstaltungen in Gemeinden, Vereinen und Altersheimen» sucht, findet diese ebenso wenig wie «Erholungsprogramme für Opfer und ihre Familien». «Zurzeit», heisst es auf der Homepage, «finden keine Aktivitäten statt.»

Der «Weisse Ring» versteht sich als Koordinationsstelle zwischen Opfern und kantonalen Opferhilfestellen – doch diese wollen von einer Zusammenarbeit mit dem Verein längst nichts mehr wissen. «Ich bin überzeugt, dass es den ‹Weissen Ring› heute nicht mehr braucht», sagt etwa Ariane Rufino dos Santos von der Opferhilfe Basel. «Ich habe diese Organisation auch nie als genügend seriös eingestuft.» Klartext spricht auch Eva Weishaupt, Leiterin der Opferhilfe Zürich: «Wir haben mit dieser Organisation nichts mehr zu tun.»

Hoffnungslose Überforderung
Noch bis vor zehn Jahren war das Verhältnis zwischen dem «Weissen Ring» und den kantonalen Behörden ungetrübt. Bis Ende 1992 betreute der Verein jährlich bis zu 200 Opferfälle und registrierte über 6000 telefonische oder persönliche Kontakte; die Mehrzahl der Hilfesuchenden wurde von den Justiz-, Polizei- und Fürsorgestellen vermittelt. Eine Erfolgsgeschichte, die mit dem Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes Anfang 1993 schlagartig endete.

Das neue Gesetz verpflichtete die Kantone, jeder Person Hilfe anzubieten, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt wurde. Die Folge: Die bislang ehrenamtlich betreuten regionalen Filialen des «Weissen Rings» mutierten praktisch über Nacht zu kantonal anerkannten Opferhilfestellen. Mit den neuen Auflagen punkto professioneller Organisation, Infrastruktur und Leitung war die Vereinsführung allerdings hoffnungslos überfordert.

Die geforderte Professionalisierung überstieg nicht nur die personellen Ressourcen des Vereins, sondern auch dessen finanzielle Möglichkeiten. «Gemäss den Bestimmungen des Opferhilfegesetzes waren unsere regionalen Fachstellen verpflichtet, Vorauszahlungen an Opfer und Hinterbliebene zu gewähren und die hohen Löhne der eingestellten Fachpersonen zu bevorschussen», sagt der damalige Geschäftsführer Marc Hauser. «Da diese Aufwendungen teilweise erst Monate später durch die Kantone rückvergütet wurden, sahen wir uns schon bald einem Schuldenberg gegenüber.» Wurden 1992 noch Spendeneinnahmen von 634'000 Franken verzeichnet, von denen 90 Prozent für die Opferhilfe eingesetzt wurden, klaffte im Sommer 1993 bereits ein Loch von einer halben Million Franken in der Kasse.

Auch das Controlling des Vereins entsprach bald nicht mehr professionellen Ansprüchen. Im August 1994 wandte sich ein Therapeut an die Aargauer Gesundheitsdirektion, weil der «Weisse Ring» – entgegen den Vorschriften – zahlreiche Opfer nie bei den zuständigen Kantonen angemeldet habe und deshalb die Gefahr bestehe, dass die Betroffenen ihren Anspruch auf Entschädigungszahlungen verlieren könnten. In der Folge stellte sich heraus, dass neben 120 Opferhilfedossiers aus dem Kanton Aargau weitere 70 aus Basel, 60 aus Zürich und je 20 aus Bern und Schwyz schlicht vergessen worden waren.

Der Vorfall hatte schwerwiegende Konsequenzen: Die Kantone entzogen dem Verein den Status einer kantonal anerkannten Beratungsstelle und übertrugen die Mandate an andere Hilfsorganisationen. Die Regierung des Kantons Zürich begründete diesen Schritt «mit strukturellen Mängeln, die beim ‹Weissen Ring› sichtbar geworden sind und die den reibungslosen Beratungsbetrieb nicht mehr zugelassen hätten». Noch deutlicher drückte sich Ariane Rufino dos Santos von der Opferhilfe Basel aus: «Weil unqualifiziert und unseriös gearbeitet wurde, musste dem ‹Weissen Ring› das Opferhilfemandat entzogen werden.»

Unter Beschuss kam die Vereinsleitung auch aus den eigenen Reihen. Intrigen, Fraktionskämpfe und Rücktrittsforderungen wurden medienwirksam breitgetreten. Im November 1995 wurde dem «Weissen Ring» schliesslich das Gütesiegel der Zentralstelle für Wohlfahrtsunternehmen entzogen – die Spendeneinnahmen brachen drastisch ein.

Keine Gelder mehr erhalten
Weder der 1995 neu gewählten Präsidentin Margot Kern noch beigezogenen namhaften Experten wie dem Zürcher Rechtsanwalt Johann-Christoph Rudin gelang es, den «Weissen Ring» wieder auf Erfolgskurs zu bringen: Sämtliche Konzepte für eine Neuausrichtung scheiterten an internen Querelen. Die Folge: Rudin und Kern kehrten dem «Weissen Ring» den Rücken.

Dem kurz darauf neu bestellten Präsidenten Kurt W. Weirich gelang es zwar, die Finanzen zu sanieren, doch die Schliessung der regionalen Anlaufstellen sowie des Zentralsekretariats in Bülach führte dazu, dass der «Weisse Ring» in der Bedeutungslosigkeit verschwand. Wurden 2001 noch 22000 Franken für «Opferbetreuung und Prävention» verwendet, flossen letztes Jahr keine Gelder mehr. Carlo Häfeli betreut nach eigenen Angaben derzeit noch rund zwölf Opfer juristisch.

Unter seinem neuen Präsidenten wagt der Verein nun einen Neuanfang. Die Vereinsführung tritt dafür ein, dass künftig sämtliche Spenden ohne jeden Abzug ausschliesslich für die Opferhilfe verwendet werden – eine Vorgabe, die in der Vergangenheit nicht immer eingehalten wurde, wie die Betreuung der Hinterbliebenen nach dem Mord an Pasquale Brumann in Zollikerberg zeigte.

Jeannette und Ruedi Brumann, die Eltern der ermordeten 20-Jährigen, wandten sich damals mit einem Gesuch um einen unentgeltlichen Rechtsbeistand an den «Weissen Ring». Aus Dankbarkeit über die sofortige Hilfe riefen sie in der Todesanzeige ihrer Tochter dazu auf, den Verein zu berücksichtigen. Rund 300 Personen folgten dem Aufruf und überwiesen dem «Weissen Ring» über 50'000 Franken. Doch weder die Spender noch die Eltern des Opfers haben je erfahren, was mit dem Geld passierte. «Bis auf die Rechnung der Anwältin, die wir schliesslich selber bezahlen mussten, haben wir nie mehr etwas vom ‹Weissen Ring› gehört», sagt Jeannette Brumann.

Zumindest bis vor ein paar Wochen: Der jüngste Spendenaufruf des «Weissen Rings» landete auch im Briefkasten der Familie Brumann.