Vielleicht realisiert Markus Dalcher, dass die Frau auf dem Kalenderblatt versucht, wie Marilyn Monroe auszusehen. Vielleicht erinnert ihn der Schriftzug «Stihl» auf dem Kalender an seine Motorsäge. Vielleicht hört er die Geräusche, die aus seinem CD-Spieler kommen: Kühe, ein Traktor, ein galoppierendes Pferd, eine Melkmaschine. Vielleicht. «Wenn er doch reden könnte», sagt der Vater. «Es ist schlimm, nicht zu wissen, was ihn plagt.» «Bei den Augen, da ist immer noch etwas», sagt die Mutter. «Er bewegt sie, wenn man mit ihm spricht.» Markus Dalcher, geboren am 5. März 1985, Sohn des Heini und der Maya, ehemals wohnhaft in Seewen SO, heute Wohnheim Tangram Bubendorf BL, Wachkomapatient.

Die Statistik sagt: Von 25 Forstwarten verunfallt einer tödlich, ein weiterer landet im Rollstuhl. Und jeder zweite Lehrling verunfallt während der Ausbildungszeit.

Am Montag, 8. November 2004, trifft es Markus Dalcher. Es ist ein schöner Morgen am Eichenberg bei Seewen im Solothurner Jura, an den Bäumen hängt das letzte Laub. Dalcher, 19-jährig, seit drei Monaten Lehrling in der Forstbetriebsgemeinschaft Dorneckberg-Süd, arbeitet gern hier. «Forstwart, das war sein Traumberuf», sagt Vater Heini Dalcher. Ein paar Wochen zuvor hat Markus Dalcher den «Holzerkurs A» absolviert. «Ziele gut und sicher erreicht», steht im Zeugnis. Er ist damit fähig, «Normalfälle selbständig anzusprechen und zu fällen», wie es in der Sprache der Forstwarte heisst: Er kann selber entscheiden, wie er einen gerade gewachsenen, freistehenden Baum umsägen will. Alle anderen Bäume jedoch, die «Spezialfälle», sind für ihn tabu.

Maya Dalcher, Mutter von Markus Dalcher

Einer der Bäume, die ihm sein Vorgesetzter Tobias Wermuth (Name geändert) an diesem Morgen zum Fällen zuweist, ist jedoch kein «Normalfall». Auf etwa 20 Metern Höhe haben sich die Äste einer bergwärts stehenden Buche mit der Tanne verhängt. Forstwart Wermuth als Verantwortlicher für den Holzschlag müsste das wissen. Ein paar Monate zuvor hat sein Chef, Förster Niklaus Albrecht (Name geändert), das Wort «Achtung» und einen nach oben zeigenden Pfeil auf den Stamm gesprayt. Jetzt aber warnt niemand den Lehrling vor dem gefährlichen Baum.

Markus Dalcher fällt ohne Probleme fünf Weisstannen, bis er an den markierten Baum kommt. Er sägt, die Tanne fällt – und reisst die mit ihr verhakte Buche mit. Sie begräbt Markus Dalcher unter sich. Er bricht Oberarm und Unterschenkel und erleidet schwere innere Verletzungen. Aber er lebt. Doch es dauert lange, bis er gefunden und befreit wird, zu lange. Eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, niemand weiss es genau. Der Lehrling liegt hilflos unter dem riesigen Baum. Dessen Last würgt die Blutzufuhr zu seinem Gehirn ab, es erleidet irreparable Schäden. Aus dem kräftigen jungen Mann wird in diesen endlosen, alles entscheidenden Minuten ein hilfloser Pflegefall.

Die Vorgesetzten werden freigesprochen

Fünf Jahre und einen Monat lassen sich der Staatsanwalt und das Bezirksgericht Dornach Zeit, um den Fall juristisch zu beurteilen. Anfang Dezember 2009 werden Markus Dalchers Vorgesetzte, Forstwart Tobias Wermuth und Förster Niklaus Albrecht, vom Vorwurf der schweren fahrlässigen Körperverletzung freigesprochen. Der Fehler habe bei Markus Dalcher gelegen, urteilt Gerichtspräsident Markus Christ. Der Lehrling hätte den markierten Baum nicht fällen dürfen. Den beiden Angeklagten spricht der Richter eine Anwaltskostenentschädigung zu. Wermuth erhält 25'000, Albrecht 30'000 Franken.

Das Dossier könnte damit zu den Akten gelegt werden. Ein Unfall im Forst, einer von durchschnittlich rund 1700 pro Jahr, selbst verschuldet vom Verunfallten, keine weiteren verantwortlichen Personen. Für die Familie von Markus Dalcher ist der Fall nicht abgeschlossen. Das Unglück am Eichenberg wird sie ihr Leben lang begleiten. «Es geht doch nicht, dass Markus ganz allein schuld sein soll», sagt Heini Dalcher, der Vater. «Bei all den Fehlern, die passiert sind.»

Christian Zollinger, Förster und Sicherheitsbeauftragter für den Zürcher Staatswald

«Forstwart war sein Traumberuf»: Markus Dalcher im Jahr 2004

Quelle: Ruth Erdt

Man kann die Ereignisse von jenem 8. November 2004 nämlich auch ganz anders betrachten, als dies der vom Gericht beauftragte Experte, der Waldwirtschaftsverband und das Gericht tun. Und dann wird aus der «leichten Pflichtverletzung», die der Richter den beiden Angeklagten als Einziges anlastete, eine «unglaubliche Serie von Fehlern und Verantwortungslosigkeiten». Dies sagt Robert Odermatt, der als Abteilungsdirektor Arbeitssicherheit bei der Suva das Dossier Dalcher längst zur Chefsache erklärt hat (siehe nachfolgendes Interview). «Ein Vorgesetzter, der einem ihm anvertrauten Lehrling bereits nach drei Monaten den Auftrag erteilt, allein Bäume zu fällen, ohne wenigstens gemeinsam eine Baum- und Umgebungsbeurteilung durchzuführen, das ist schlicht unglaublich», empört sich Odermatt. «Wer zehn Tage in einem Holzerkurs war, kann doch die vielschichtigen Gefahren noch nicht fehlerlos einschätzen, auch wenn er in dem Kurs gute Noten bekommen hat!» Dies könnten selbst erfahrene Forstwarte nicht, wie die Unfallstatistik deutlich bestätige. Unterstützung erhält der Suva-Experte von Christian Zollinger, Förster und Sicherheitsbeauftragter für den Zürcher Staatswald in einem vom Staatsanwalt angeforderten Gutachten: «Ich bin der Meinung, dass der Lehrling fachlich nicht in der Lage war, die ihm aufgetragenen Arbeiten selbständig und ohne anwesende Aufsichts- bzw. Instruktionsperson sicher auszuführen», schreibt Zollinger.

Tatsache ist: Zwischen dem Ort, wo Markus Dalcher am 8. November 2004 verunfallt, und der Stelle, an der Forstwart Wermuth mit dem Zweitjahreslehrling arbeitet, liegt ein kleines Tal, das eine leichte Kurve beschreibt. Tatsache ist auch, dass Dalcher als Einziger einen Helm ohne Funkausrüstung trägt. Für die vier Männer der Forstbetriebsgemeinschaft Dorneckberg-Süd, die an diesem Morgen im Wald arbeiten, gibt es nur drei Funkhelme.

Und Tatsache ist ferner, dass sich die Aussagen von Tobias Wermuth im Lauf der langen Untersuchung fundamental ändern: «Wir hatten keinen direkten Sichtkontakt mit Markus», sagt Wermuth fünf Wochen nach dem Unfall bei der Polizei aus. Anderthalb Jahre später, mittlerweile durch einen Anwalt beraten, gibt er bei der Befragung durch den Staatsanwalt etwas ganz anderes zu Protokoll. Er habe sich mit Markus Dalcher «halbstündlich (viertelstündlich) durch Sichtkontakt» verständigt. Zudem sei er – Wermuth – alle fünf bis zehn Minuten mit dem Traktor vorbeigefahren, «und ich konnte ihn sägen hören».

Der Gutachter widerspricht sich

Selbst wenn dem so gewesen wäre: Reicht das? Die Richtlinie Nummer 2134 der Eidgenössischen Kommission für Arbeitssicherheit (Ekas) lautet: «Waldarbeiten mit besonderen Gefahren dürfen nur ausgeführt werden, wenn Hilfe gewährleistet ist». In den Erläuterungen zur Richtlinie ist das «Fällen von Bäumen» explizit als eine solche gefährliche Waldarbeit erwähnt. Genügt es da also, wenn der verantwortliche Ausbildner, der für die Sicherheit des Lehrlings sorgen soll, diesen bloss «alle fünf bis zehn Minuten» aus einem lärmigen Traktor heraus sägen hört oder zu hören meint?

Der Sichtkontakt sei «eingeschränkt» gewesen, räumt Hanspeter Egloff ein. Der Ausbildungsverantwortliche des Verbands Waldwirtschaft Schweiz wurde von der Verteidigung von Forstwart Wermuth und Förster Albrecht mit einem Gutachten beauftragt. Wermuth und der Zweitjahreslehrling hätten sich aber zum Unfallzeitpunkt «innerhalb der Rufdistanz» befunden, schreibt Egloff.

Rufdistanz? Ist ein Abstand von «drei bis vier Baumlängen», also 120 bis 160 Meter, wie sie Egloff annimmt, eine Distanz, über die man sich bei laufenden Motorsägen etwas zurufen kann? «Bei einer Motorsäge im Standgas sind zwei Baumlängen wohl die Grenze», räumt der Ausbildungsverantwortliche im Gespräch mit dem Beobachter ein – und bleibt trotzdem bei seiner Meinung: «Meiner Ansicht nach wurden keine Sicherheitsvorschriften verletzt.» Zwei Baumlängen sei der vorgeschriebene minimale Sicherheitsabstand bei Fällarbeiten.

«Zum allerersten Mal gesehen»

Anderer Experte, fast die gleichen Worte: Auf Vorschlag der Verteidigung wird Stefan Staubli, Förster im aargauischen Auw, zum offiziellen Experten berufen. Es müsse davon ausgegangen werden, dass «eine Sichtkontrolle teilweise möglich gewesen» sei, schreibt Staubli in seinem Gutsachten, in dem er den Verunfallten fälschlicherweise und konsequent «Ch. Dalcher» nennt. Und: «Die Rufdistanz ist knapp gewährleistet. Bei der Ausführung von Motorsägearbeiten kann jedoch davon ausgegangen werden, dass keine Verbindungsaufnahme möglich gewesen ist.»

«Das ist unlogisch», kontert Sebastian Laubscher, der Anwalt der Familie Dalcher: «‹Rufdistanz› bedeutet doch, dass man miteinander kommunizieren kann und nicht, dass ‹keine Verbindungsaufnahme möglich› ist.» Es ist nicht der einzige Widerspruch in Staublis Gutachten. So schreibt der Experte, man könne bei der Situation an der Unfallstelle nicht von «Alleinarbeit» sprechen (welche verboten wäre). Indirekt räumt er jedoch ein, dass sich zum Zeitpunkt des Unglücks niemand in Markus Dalchers Nähe befand: «Allenfalls hätte eine zweite Person die Fehlbeurteilung der Situation durch Ch. Dalcher bemerkt und intervenieren können.»

Es sind jedoch nicht nur diese Widersprüche, die Anwalt Laubscher skeptisch machen. Schon bei der Begehung des Unfallorts fällt ihm auf, dass sich die Angeklagten und der bestellte Experte Staubli duzen. «Als ich eine entsprechende Bemerkung machte, wurde mir erklärt, das sei im Forst so üblich», erinnert sich Laubscher. Stefan Staubli erklärt dazu, er habe die Angeklagten Wermuth und Albrecht bei dieser Begehung «zum allerersten Mal gesehen. Und wie die Herren Anwälte einander mit ‹Herr Kollega› ansprechen, so sagen wir uns im Forst du».

Laubschers Zweifel betreffen jedoch nicht nur die Aussagen Staublis und dessen Umgang mit den Angeklagten. Der Anwalt des Unfallopfers kritisiert allein schon die Auswahl des Experten und der zugelassenen Zeugen: Stefan Staubli kam nach seinen eigenen Worten «offenbar dank eines Hinweises aus dem Waldwirtschaftsverband» zu seinem Mandat, nachdem das Gericht den Verbandsvertreter Hanspeter Egloff abgelehnt hatte. Der von der Staatsanwaltschaft beantragte Zürcher Förster Christian Zollinger wurde vom Gericht als offizieller Gutachter ebenso abgelehnt wie der Suva-Sicherheitsexperte Robert Odermatt. Stattdessen liess das Gericht zwei Förster als Zeugen zu, die mit dem Unfall gar nichts zu tun hatten. Dies auf Antrag der Verteidigung, die sogar sechs – unbeteiligte – Förster als Zeugen beantragt hatte.

Die Eltern wollen weiterkämpfen

Das Ziel der Verteidiger von Tobias Wermuth und Niklaus Albrecht – ein Freispruch – deckte sich mit demjenigen des Verbands Waldwirtschaft Schweiz (WVS). WVS-Ausbildungschef Egloff formuliert es in seinem Gutachten ungefragt so: Eine Verurteilung des Forstwarts und des Försters wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung, «würde für sämtliche Forstwart-Lehrmeister in der Schweiz bedeuten, dass dass sie sich seit vielen Jahren kriminell verhalten und tagtäglich riskieren, der fahrlässigen schweren Körperverletzung oder gar Tötung schuldig gesprochen zu werden.»

Markus Dalchers Eltern wollen für ihren Sohn weiterkämpfen: «Es gibt eine Gerechtigkeit.»

<h3>Arbeitssicherheit</h3>

«Das ist ein fatales Urteil»

Für Suva-Experte Robert Odermatt ist klar: Im Fall von Markus Dalcher wurden Sicherheitsvorschriften verletzt.

Robert Odermatt ist Abteilungsdirektor Arbeitssicherheit bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva)

Quelle: Ruth Erdt

Beobachter: Wie beurteilen Sie den Freispruch im Fall Dalcher?
Robert Odermatt: Ich kann und will das Urteil aus juristischer Sicht nicht bewerten, aber für die Prävention von Arbeitsunfällen im Forst ist es fatal.

Beobachter: Weshalb?
Odermatt: Wenn bei der Arbeitsorganisation und insbesondere bei der Lehrlingsbetreuung in der gefährlichsten Branche so viele Führungsfehler passieren wie in diesem Fall und dies nicht geahndet wird, dann ist das ein schlechtes Signal, um die Wiederholung solcher Unfälle zu vermeiden.

Beobachter: Welches waren Ihrer Ansicht nach die gravierendsten Fehler?
Odermatt: Markus Dalcher war nicht im schriftlichen Arbeitsauftrag des Försters erwähnt, er wurde trotz Verbot beauftragt, allein zu arbeiten. Und er wurde dabei als Einziger nicht mit einer Funksprechanlage ausgerüstet. Zudem war niemand zur Stelle, um Fehler zu korrigieren und rechtzeitig Erste Hilfe zu leisten.

Beobachter: Der Unfall war demnach vermeidbar?
Odermatt: Davon gehe ich aus. Aber an jenem Vormittag hat gar nichts gestimmt.

Beobachter: Der Unfallbaum war mehrere Monate im Voraus mit dem Wort «Achtung» und einem Pfeil markiert worden. Hilft das bei der Unfallverhütung?
Odermatt: Überhaupt nicht, und sie ist zum Glück auch nicht üblich. Ein einziger Windstoss kann die Situation im Wald völlig ändern. Solche Markierungen wiegen die Forstarbeiter in einer falschen Sicherheit. Wer sagt denn, dass seit der Markierung nicht ein ursprünglich als unproblematisch eingestufter Baum gefährlich geworden ist?