Die Terrasse des Restaurants Sternen ist gut besetzt. Trotzdem gilt: «Nume nid jufle» – Erna Emch begrüsst alle persönlich, schüttelt da Hände und hält dort ein Schwätzchen. Jemand wünscht einen knackigen Salat zur Vorspeise. Die 92-jährige Wirtin greift zum Rüstmesser, eilt über die Strasse in den Gemüsegarten, schneidet einen Salatkopf ab und kehrt zu ihren Gästen zurück. «Was meint ihr zu dem da?» Die Gäste sind entzückt.

Seit 200 Jahren wirtet die Familie Emch im kleinen Solothurner Bauerndorf Gossliwil. Längst hat Erna Emchs Sohn das Restaurant übernommen. Deshalb stillzusitzen käme der betagten Wirtin nicht in den Sinn. «Immer öppis schaffe» – anders kennt sie es nicht.

Mit gartenfrischen Salatköpfen kann Tertia Hager ihren Gästen nicht aufwarten. Die 31-Jährige ist Barfrau in der Zürcher In-Bar Xenix. Das sei ein Treffpunkt für Leute, «die zu keiner bestimmten Szene» gehören wollen. Was die Bar natürlich auch schon wieder zu einer Szene macht. «Die Stadt ist mein Zentrum», sagt Tertia Hager. Sie hat vieles ausprobiert, meist Teilzeit gearbeitet, weil sie sich ihre Zeit selber einteilen wollte. «Keine Fremdbestimmung, weisst du.»

Sehnsucht nach dem Landidyll
Tertia Hager schätzt die Anonymität in der Stadt, den Ausgang, die Kreativität – und sie kennt die ungeschriebenen Gesetze. Nicht so wie die «Agglos aus dem Aargau», die am Wochenende «in Horden durchs Niederdorf ziehen», bekleidet mit Klamotten, die «seit zwei Jahren bereits megaout sind». Auf dem Land leben könnte Tertia Hager nicht – auch wenn sie sich das «ganz schön» vorstellt. «Dort ist sicher alles besser. Man kann im Garten sitzen – kein Lärm, kein Stress.»

So denkt nicht nur Tertia Hager. Viele Schweizerinnen und Schweizer träumen von der ländlichen Idylle, von Ruhe, Abgeschiedenheit und einem Häuschen im Grünen. Das Bild der heilen, ländlichen Schweiz wird gern und oft zelebriert – selbst von den höchsten Landesvertretern. Mit der Lebensrealität der meisten Schweizerinnen und Schweizer hat dieses Postkartenidyll allerdings wenig zu tun. Denn gut zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung leben in einer Stadt oder in einer städtischen Agglomeration – Tendenz steigend.

Das war nicht immer so. Bis zum Ende des letzten Jahrhunderts war die Schweiz noch ein Bauernstaat. Doch mit der Industrialisierung kam die Eisenbahn und mit ihr die Mobilität. Die ersten Grossstädte entstanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg liessen sich immer mehr Firmen in den Städten und deren Umland nieder. Die Menschen folgten der Arbeit. Heute zählt die Schweiz 48 städtische Agglomerationen und neun «isolierte Städte» (Gemeinden über 10000 Einwohner, die keine Agglomeration bilden). Weite Teile des Mittellands entlang der Autobahn A1 bilden eine einzige grosse Agglomeration.

Vorurteile landauf, landab
Doch je mehr Menschen ihr Dasein als gehetzte Stadtbewohner fristen, desto grösser scheint die Sehnsucht nach der heilen Dorfwelt. Gleichzeitig werden die Vorurteile hüben wie drüben gehegt und gepflegt: Städter sind arrogant, oberflächlich und kriminell. Auf dem Land ist man rückständig, misstrauisch und naiv. Und die «Agglos» haben sowieso ein Aargauer Nummernschild und tragen weisse Sportsocken. Nur, was stimmt wirklich?

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind deutlich kleiner geworden. Das zeigt ein vom Beobachter in Auftrag gegebener Vergleich des Marktforschungsinstituts Demoscope.

Zwar denkt und handelt die Landbevölkerung tendenziell immer noch konservativer als die Stadtbevölkerung. Das zeigt sich jeweils bei eidgenössischen Volksabstimmungen. So sagte die ländliche Bevölkerung Nein zur ärztlich kontrollierten Heroinabgabe und Nein zur erleichterten Einbürgerung junger Ausländer.

Aber die Stadt-Land-Differenzen werden kleiner: Während ländliche Teile den EWR noch wuchtig bachab schickten, nahmen sie die bilateralen Abkommen mit 59,6 Prozent Ja-Stimmen an. Der Stimmenunterschied zwischen Stadt und Land ist geschrumpft.

Die Geografin Elisabeth Bühler von der Universität Zürich hat zudem herausgefunden, dass die «Agglos» – sie werden in den meisten Untersuchungen zur Stadtbevölkerung gezählt – oft noch konservativer handeln als die Bevölkerung in «echt» ländlichen Gegenden. So begnügen sich in der Agglomeration beispielsweise mehr Frauen mit der traditionellen Hausfrauenrolle als auf dem Land. Dort nämlich gehen viele Frauen zumindest teilzeitig einer beruflichen Tätigkeit nach.

Auch andere Klischees sind zu relativieren – etwa was die Kriminalität betrifft. Zwar werden in den Städten generell mehr Straftaten verübt als auf dem Land, und einige Stadtquartiere sind besonders betroffen. Doch eine neue Studie zur Jugendkriminalität zeigt, dass die Stadtjugend nicht krimineller ist als die Landjugend.

Weiter stimmt es nicht, dass alle Jungen in die Stadt drängen, um sich dort ins Abenteuer zu stürzen. Vor allem in den Berggebieten wollen viele Jugendliche gar nicht weg. «In der Natur ist es doch am schönsten», sagt die 14-jährige Bergbauerntochter Anita Durrer aus Kerns OW. Sie zeigt runter zum Bach, wo sie mit ihren Kolleginnen stundenlang plaudert.

Auch die beiden Schulabgänger Urs Bichsel und Daniel Kummer haben keinerlei Sehnsucht nach der Stadt. Am besten gefällt es ihnen im Hornusserverein des 250-Seelen-Dorfs Höchstetten BE. «Da ist man unter Kollegen», sagen sie, «und weg von den Frauen.» Ausserdem gibt es im Winter noch den SCB (Schlittschuh-Club Bern). Die Stadt, das sind zu viele Leute, verstopfte Strassen, Beton.

Deutliche Stadt-Land-Unterschiede lassen sich – noch – beim Konsumverhalten ausmachen. Städter nutzen mit Vorliebe den öffentlichen Verkehr, leben eher in Mietwohnungen und machen gern Ferien. Die Landbevölkerung dagegen fährt viel Auto, pflegt das Vereinsleben und ist häufiger in einer politischen Partei aktiv.

Luxus allein macht nicht glücklich
Geringer sind die Unterschiede bezüglich Nutzung der modernen Technologien. So gehört ein Computer inzwischen auch bei der Landbevölkerung oft zur Grundausstattung. Internet und Online-Dienste jedoch werden auf dem Land noch deutlich seltener genutzt als in der Stadt – obwohl das Internet die Verbindung zur grossen, weiten Welt ermöglichen würde.

Auch das Handy hat noch nicht überall die gleiche Bedeutung. Für die 15-jährige Stadtzürcherin Tanja Meillaud gehört ein Natel einfach dazu. «Alle haben eins.» Sie telefoniert für mehrere hundert Franken monatlich mit ihren Kolleginnen und Kollegen – die fast alle auch in der Stadt wohnen. Daniel Kummer aus Höchstetten hingegen – seine Kollegen sind über mehrere Dörfer in der Umgebung verstreut – hat keines und will keines. «Wozu auch?» Er weiss, wann wo welches Fest steigt.

In der Stadt werden deutlich mehr Luxusgüter konsumiert als auf dem Land. Doch glücklich macht das offensichtlich nicht. Eine Studie der Konjunkturforschungsstelle BAK in Basel zeigt, dass die Stadtzürcher die unzufriedensten Schweizer sind, obwohl sie mit durchschnittlich 5500 Franken pro Monat im Schweizer Vergleich mit Abstand am meisten verdienen. Doch ausgerechnet mit ihrem Lohn, der Arbeit und der Gesundheit sind die Stadtzürcherinnen und -zürcher unzufrieden. Am zufriedensten sind die ländlichen Bündner – obschon sie finanziell deutlich weniger gut gestellt sind.

Woran das liegt, steht nicht in der Studie. Vielleicht hat das hohe Lebenstempo damit zu tun. Alle sind im Stress, stets auf dem Sprung, hetzen von der Arbeit ins Fitnesscenter und ab in den Ausgang. Nicht, dass sich offen jemand darüber beklagen würde – im Gegenteil. «Hier ist was los, man ist ständig auf Achse und kann unheimlich viel machen», schwärmt Sabine Zeilinger, 29, begeistert. Sie ist vor acht Jahren vom solothurnischen Deitingen nach Zürich gezogen und bezeichnet sich inzwischen als Vollblutstädterin.

Dass das Stadtleben aber nicht nur positive Seiten hat, zeigt die eben veröffentlichte Schweizer Gesundheitsbefragung:

  • Die Land- und Bergbevölkerung fühlt sich besser als die Stadtbevölkerung.
  • Städter suchen häufiger einen Psychiater oder eine Psychologin auf.
  • Mit zunehmender Verstädterung steigen die gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen. So rauchen und trinken in den Städten mehr Frauen, und es werden insgesamt mehr illegale Drogen und Medikamente konsumiert.


Hingegen sind Städter laut Gesundheitsbefragung und im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung nicht einsamer als die Leute auf dem Land. Die Vorstellung, dass man in der Stadt die Leute nur «von der Türklingel» kennt, trifft offensichtlich längst nicht immer zu.

Denis Meillaud, 41, zum Beispiel betreibt im Zürcher Stadtkreis 3 einen kleinen Quartierkiosk. Er sei zwar Städter, fühle sich aber in erster Linie als Quartiermensch. «Mit meinem Kiosk habe ich sozusagen das Dorfleben in die Stadt geholt», erklärt er. Denis Meillaud zeigt auf die Festbank, die er vor seinem Kiosk aufgestellt hat. An warmen Sommerabenden trinken dort Banker, Junkies und VBZ-Chauffeure ihr Feierabendbier – und schwatzen miteinander. Der Kioskmann kennt die meisten. «Ich grüsse jeden und weiss über ihre Alltagssorgen Bescheid.»

Auch Gisela von Felten, 37, verheiratet, eine Tochter, fühlt sich in der Stadt sozial gut aufgehoben. Mit drei anderen berufstätigen Frauen im Haus teilt sie sich die Kinderbetreuung. «Als arbeitstätige Mutter ist es viel einfacher, Kinder in der Stadt aufzuziehen», glaubt sie. Hier gebe es Kinderkrippen, Gemeinschaftszentren, den Zoo – «und alles ist mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar».

Landkinder leben oft isolierter
Tatsächlich räumte eine Untersuchung des Marie-Meierhofer-Instituts von 1996 gnadenlos auf mit dem gehätschelten Bild vom heilen Landleben der Kinder: Jedes dritte Landkind darf Wohnung und Garten nicht allein verlassen, weil die Eltern die Gefährdung durch den Strassenverkehr als zu gross erachten. Und: Landkinder spielen nicht häufiger miteinander als Stadtkinder – im Gegenteil. Oft leben Landkinder sogar isolierter.

Trotzdem haben die grossen Städte Zürich, Bern und Basel in den letzten zehn Jahren viele Familien verloren. Die Reihenfolge ist meist die Gleiche: Die Leute kommen als junge Singles ins Stadtzentrum, heiraten und ziehen in ein Randquartier der Stadt. Sobald Kinder unterwegs sind, ziehen sie «aufs Land» – oder zumindest in die (städtische) Agglomeration.

Zürich verlor in den neunziger Jahren per Saldo knapp 10'000 Schweizer Familien an den «Speckgürtel», wie die Geografen die Agglomeration auch bezeichnen. Die meist genannten Gründe: beengte Wohnverhältnisse, zu hohe Wohnkosten und das schlechte Wohnumfeld.

Für die Stadt ist das verheerend. Die Durchmischung zwischen Ausländern und Schweizern ist nicht mehr optimal, der Pendelverkehr nimmt zu, die Umweltqualität ab. Und vor allem die Finanzlage der Städte wird dadurch prekär, denn oft sind es Familien mit hohem Einkommen, die wegziehen. An der Stadt bleiben die hohen Ausgaben für die Infrastruktur, den öffentlichen Verkehr und Soziales hängen.

Diese Wanderbewegungen führen auch in den beliebten Agglomerationsdörfern zu Problemen. Denn mit den Neuzuzügern prallt die Stadt- auf die Landmentalität. So haben typische «Agglo»-Gemeinden wie zum Beispiel Spreitenbach AG oft zwei Dorfplätze: einen alten Dorfkern für die Alteingesessenen und ein Shopping-Quartier für die Neuzuzüger. Bis sich deren Wege kreuzen, dauert es lang. Die «Neuen» lassen sich nicht so schnell ins Dorf- und Vereinsleben eingliedern und führen oft weiterhin ein «städtisches» Leben.

Der 45-jährige Kurt Schmid aus Günsberg SO zum Beispiel hat ein zwiespältiges Gefühl. Als sich die ersten Zuzüger im Dorf oberhalb der A1 am Jurasüdfuss niederliessen, sei das gut gewesen. Frischen Wind habe es gegeben. Aber inzwischen habe man Dinge geändert, die nicht nötig gewesen wären. «Schliesslich hat es früher auch funktioniert.»

Zum Beispiel die Kuhglocken. Die Neuzuzüger aus der Stadt hätten sich daran gestört. Jetzt bimmelts nicht mehr im Juradorf. Kurt Schmid schüttelt den Kopf: «Warum ziehen die Leute denn eigentlich aufs Land?»