Leerstehende Lokalitäten waren früher ein Risiko. Nur eine Frage der Zeit, bis jemand nachts die Tür eintrat und Leintücher mit antikapitalistischen Parolen an die Fassade hängte. Oder mit zwölf Harassen Bier, einer Punkband und drei Dutzend Sympathisanten einfiel, um gleich eine grosse Eröffnungsparty zu feiern – gegen Kommerz, für Kunst, Kultur und Vielfalt.

Häufig wurden die so eroberten Freiräume nur widerwillig wieder hergegeben. Auszugstermine verstrichen, und schliesslich wurde das Gelände nach mehreren Aufschüben polizeilich geräumt – im Extremfall unter Einsatz von Gummischrot und Tränengas. In den Ohren vieler Immobilienverwalter und Liegenschaftsbesitzer klingt Zwischennutzung darum immer noch nach Ärger und Wertverlust.

Dabei ist heute vieles anders. «Wir sind keine Besetzer. Wir riskieren höchstens mal eine Busse, weil wir zu lange aufhaben oder so», sagt Julia Geiser. Die 26-jährige Studentin ist Initiantin einer «nomadischen Kulturplattform» namens Rast. Zusammen mit fünf Mitstreitern und einer mobilen Bar aus Militärkisten versucht Geiser, Bern lebendiger zu machen. Rast organisiert sogenannte Pop-up-Anlässe – zum Beispiel eine Mitmach-Ludothek im Lorraine-Pärkchen, ein Pétanque-Turnier an der Aare oder ein Speed-Dating in einer ehemaligen Metzgerei.

Via Internet zu leeren Räumen

Auf ihrer Website hat die Gruppe eine interaktive Karte aufgeschaltet, in die jedermann ungenutzte Räume eintragen kann. In Bern sind dort derzeit 19 Orte vermerkt. Manche Einträge sind mit Fotos oder ersten Informationen ergänzt: «Gehört Shell» zum Beispiel. Bei anderen steht warnend «Einsturzgefährdet!» oder auch der korrigierende Hinweis «Nicht leer!». Ob sich da die Eigentümer jemanden vom Haus halten wollen? «Diese Plattform ist unsere Art und Weise, Druck auf die Besitzer auszuüben», sagt Geiser. «Interessenten fragen den Besitzer an und legen ihm ein Konzept vor.» Und wenns dann heisst: «Nein, danke»? «Dann ist das eben so.»

Die Zwischennutzer früherer Generationen hätten das vermutlich anders gesehen. Aber heute geht es eben nicht mehr um Wohnungsnot und Klassenkampf: «Es geht um Austausch und Begegnung – darum, dass Stadtbewohner ihre Umgebung bewusster wahrnehmen und beleben», sagt Geiser und zitiert damit en passant den französischen Soziologen Henri Lefebvre. «Wir machen das aus einem eigenen Bedürfnis heraus. Und viele Leute, die zu unseren Veranstaltungen kommen, kommen vor allem als Gäste.»

Querdenker, die sich anpassen

Damit entsprechen die Aktivisten von Rast ziemlich genau den Zwischennutzern, wie sie die Szenebibel «Urban Catalyst» beschreibt: Zeitgenössische Zwischennutzer seien gutausgebildete junge Menschen aus der Kreativwirtschaft oder der Gastronomie, die ihre temporären Projekte als Sprungbrett sehen und sich später in der Mitte der Gesellschaft etablieren.

Mit ihren Fähigkeiten verkörpern sie den Idealtypus der postmodernen Arbeitswelt: Sie sind flexibel, innovativ, mobil und teamorientiert. Sie sind Querdenker, aber ecken trotzdem nicht an. Sie engagieren sich mit viel Leidenschaft, aber ohne politische Mission.

Der Basler Städteplaner und Zwischennutzungsexperte Philippe Cabane beobachtet Ähnliches: «Die Zwischennutzer sind immer weniger ideologisch.» Ihr Motor sei weniger der Drang, die Gesellschaft zu verändern, als der Wunsch nach Selbstverwirklichung: «Deshalb gibt es heute von Seiten der Behörden, der Wirtschaft und der Politik kaum mehr Berührungsängste – es gibt geradezu einen Hype um Zwischennutzungen.»

Der 53-jährige Cabane ist selbst ein Zwischennutzungspionier. Zusammen mit anderen hat er Ende der 1990er Jahre den Anstoss für das erfolgreiche Basler Projekt «Nt-Areal» gegeben; mittlerweile erarbeitet er als selbständiger Berater Konzepte für temporäre Nutzungen – auch im Auftrag der Stadt oder privater Liegenschaftsbesitzer. Konsum und Geschäft stünden immer mehr im Vordergrund. «Zwischennutzungen werden zunehmend zum Businessmodell», sagt Cabane. «Und in der Basler Szene etablieren sich Monopolisten.»

Cabane spielt auf den Verein «unterdessen» und das Baubüro «in situ» der Architektin Barbara Buser an. Die 59-jährige Baslerin hat mit ihren Geschäftspartnern mehrere AGs, GmbHs und Vereine gegründet, die Zwischennutzungsprojekte managen. «Unterdessen» mietet – meistens vom Kanton – leerstehende Gebäude an und organisiert darin temporäre Projekte. Den Eigentümern garantiert der Verein, dass die Zwischennutzer keine Schäden verursachen und das Gebäude rechtzeitig wieder verlassen. Busers Baubüro erledigt in der Regel die Aufträge für bauliche Massnahmen und Baueingaben. Buser bezieht vom Verein für ein Zehn-Prozent-Pensum Lohn, sagt aber: «Finanziell lohnen sich Zwischennutzungen nicht. Wir arbeiten oft zum Selbstkostenpreis und leben bescheiden.»

«Wir sprechen beide Sprachen»

Buser sieht sich als Vermittlerin. «Die Stadt hat Mühe, mit Zwischennutzern zu verhandeln, die reden nicht dieselbe Sprache. Wir sprechen beide Sprachen», sagt Buser. Sie und ihre drei Mitstreiter entscheiden selbst, welches Projekt den Zuschlag erhält, «aus dem Bauch heraus». Die Leute müssten schnell und tatkräftig sein. Und die Idee müsse dem Zeitgeist entsprechen. «Es ist eine Chance für junge Unternehmer. Die Mieten für Zwischennutzungen sind meistens sehr günstig.»

Szeneveteran Cabane ist skeptisch. Gruppierungen wie «unterdessen», die das Zwischenhändlermodell verfolgten, bekämen unter der Hand Räume von der städtischen Immobilienverwaltung und vermieteten sie meist an bereits etablierte Zwischennutzer. Sie seien vor allem kreativ in der Beherrschung des Marktes. «Es ist ein verbreitetes Phänomen in der heutigen Szene der Zwischennutzer: Oft steckt hinter der innovativen Fassade wenig echte Experimentierfreude. Frühere Ideen werden kopiert und oberflächlich verwertet», sagt Cabane.

Ein Laden für ein paar Monate

Den Gipfel der Kommerzialisierung erreicht die Zwischennutzung wohl in Form sogenannter Pop-up-Stores. Der Zürcher Taschendesigner Francesco Rossi mietet befristet Ladenlokale in einem angesagten Quartier, macht eine Eröffnungsparty, verkauft einige Monate lang seine Produkte und schliesst dann wieder mit einem weiteren Event. «In unserer übersättigten Welt suchen die Kunden das Spezielle, sie finden Pop-up-Stores spannend», sagt Rossi. Zudem erschliesse ein neuer Standort immer auch neue Laufkundschaft. Momentan arbeitet Rossi an einem neuen Konzept. Er hat ein Ladenlokal neben seinem Geschäft am Bellevue gemietet und will dieses jeweils an Zwischennutzer aus der Designbranche untervermieten. Er hofft, dass die Kunden des Labels nebenan seinen Laden entdecken und er so neue Kunden gewinnt. «Das verschafft meinem Laden mehr Traffic», sagt Rossi.

Ein weiteres Pionierpflänzchen, das auf ungenutzter Fläche gedeiht, ist das Jungunternehmen Relativraum der beiden Raumplaner Christian Stettler und Jannine Bader. Die beiden 28-Jährigen wollen leerstehende Gebäude nutzbar machen und darin Zwischennutzer ansiedeln. Vor allem für «Problemliegenschaften» seien Zwischennutzungen attraktiv, sagt Stettler. Wenn die Planung stocke oder noch keine Investoren an Bord seien, könne man mit temporären Nutzungen Vandalismus vermeiden und Zeit gewinnen. Mit anderen Worten: Zwischennutzungen sind das beste Mittel gegen Hausbesetzer.

Das dies nicht immer funktioniert, zeigt die Geschichte des Kleinhüninger Hafengeländes in Basel. Städteplaner Cabane selbst hat im Auftrag der Stadt dafür eine Zwischennutzung konzipiert. In den nächsten 10 bis 20 Jahren soll dort ein neues urbanes Quartier entstehen. Bis dahin mögen Zwischennutzer das Ödland zwischen Öltanks und Güterwagen beleben – als Keimzelle der Aufwertung, wie das in Berlin vorgemacht wurde. In einem öffentlich ausgeschriebenen Wettbewerb wurden acht Projekte ausgewählt, deren Initianten nun zusammen einen Verein bilden. Dieser ist für die Zwischennutzung verantwortlich und dient als Ansprechpartner für Behörden und Anwohner.

Doch das Hafenprojekt schrammte mehrmals am Scheitern vorbei. Verträge und Baubewilligungen verzögerten sich, die Auflagen wurden immer wieder verschärft, worauf einige der ausgewählten Gruppen entnervt den Bettel hinwarfen. «Die Stadt hat mit der grossen Kelle angerührt, und jetzt bremst sie alles. Die Zusammenarbeit mit den Behörden ist wahnsinnig kompliziert», sagt Architekt und Skater Alex Pipoz. Der 37-Jährige hat eines der Siegerprojekte, den Skatepark Port Land, mitinitiiert. Die Skater mussten ein 2000 Franken teures Lärmgutachten in Auftrag geben, um zu beweisen, dass sie die Dezibelgrenze nicht überschreiten, wenn sie über die Anlage skaten.

«Es gibt Ermessensspielräume»

Und der Landschaftsgärtner Willi Moch gehörte mit seinem Urban-Farming-Projekt zwar zu den Wettbewerbssiegern, hat aber bis heute keine Baubewilligung für sein Projekt «Freisitz». Der 27-Jährige ist an der Eröffnungsparty der Skateranlage trotzdem mit seinen Pflanzkisten aufgetaucht. «Moch hat einfach sein Ding durchgezogen. Wir fanden das super», sagt Skater Pipoz. «Freisitz» wurde nachträglich in den Verein aufgenommen und zahlt eine bescheidene Miete. Ausser Moch haben weitere Gruppierungen einfach angefangen, ohne die Baubewilligungen abzuwarten.

«Es ist eine Krux mit den Bewilligungen», gibt auch Philippe Cabane zu. Würden jedoch Spezialregeln für Zwischennutzer aufgestellt, bestünde die Gefahr, dass sich normale Unternehmer als Zwischennutzer deklarieren, um Vorschriften zu umgehen. «Aber es gibt Ermessensspielräume in der Umsetzung, und die könnte man optimaler nutzen», so Cabane.

Gegen die Verwertung von allem

Manche machten sich allerdings gar nicht erst die Mühe, an Ausschreibungen teilzunehmen: Auf der Brache nebenan haben die Basler Wagenleute das Gelände im März nach alter Manier besetzt und sich mit ihren umgebauten Zirkuswagen eingerichtet. «Gekommen, um zu bleiben», haben sie an eine Mauer gesprayt. «Hier stören wir wirklich niemanden», sagt Bewohner Marco, der sein Leben in der Wagenburg als selbständiger Handwerker finanziert. Nach einem monatelangen Hickhack mit dem Hafen und den Behörden konnten die Wagenburger einen Zwischensieg verbuchen: Sie werden von der Regierung bis auf weiteres offiziell geduldet.

Die Wagenleute experimentieren mit neuen Wohnformen: in einer Gemeinschaft leben, möglichst viel selber bauen und kostengünstig leben. Es brauche Raum für explizit Nichtkommerzielles, sagt Marco. «Die Verwertung von allem und jedem macht unser Leben und unsere Kultur kaputt. Wenn sogenannte Experten entscheiden, gibt es einfach Bars und vor allem kommerzielle Projekte.»

Die Wagenburger leben zwar nach eigener Aussage in guter Nachbarschaft mit den offiziellen Zwischennutzern, grenzen sich aber unmissverständlich ab. Institutionell organisierte Zwischennutzungen seien doch nur Beruhigungspillen, damit man den Rest des Bodens gnadenlos verwerten könne. «Nach Zwischennutzungen steigen Bodenpreise und Mieten. Alteingesessene Bewohner, die die Mittel nicht haben, müssen dann wegziehen.» Dieses Phänomen der Gentrifizierung sei hinreichend bekannt. Cabane widerspricht nicht. Zwischennutzer sowie Besetzer seien unfreiwillige Wegbereiter der Gentrifizierung. «Sobald jemand etwas Interessantes macht und den Ort aufwertet, kommen die Businessmodelle. Damit muss man leben.»