Das Jahrhunderttalent

Manchmal, wenn sich Philipp Eich am Fernseher einen Match anschaut, erwischt ihn dieser fiese Gedanke: «Ich könnte dort sein, wo die sind.» Die – das sind Urs Fischer, Trainer des Jahres in der deutschen Bundesliga. Raphael Wicky, Meistertrainer von YB. Oder Hakan Yakin, der Künstler am Ball. Schweizer Fussballprominenz.

Eich kennt sie alle – aus der Zeit, als die Medien ihn als Jahrhunderttalent feierten. Das ist lange her. Heute ist Eich 45, schlank und drahtig wie einst – aber meilenweit weg vom Scheinwerferlicht.

Der grösste Wunsch des jungen Mannes aus dem Seeland war damals: «Eine schöne Karriere bei Bayern München machen.» Heute ist sein Wunsch ein anderer: «Ohne Schulden leben.» Denn vor Philipp Eich türmt sich ein Schuldenberg. 250’000 Franken. Er bezahlte die Steuern nicht und hat das viele Geld verprasst, das ihm als Jungstar nachgeworfen wurde.

«Ich habe nie gelernt, mit Geld umzugehen. Damals ist es komplett überbordet.»

Philipp Eich, ehemaliger Fussballprofi

«Die Schulden sind allgegenwärtig in meinem Leben.» Ständig werde er damit konfrontiert, etwa wenn er sich eine neue Stelle suche oder eine neue Wohnung. Sich etwas Schönes zu gönnen, Ferien etwa, daran wagt er schon gar nicht mehr zu denken.

Mit 18 fuhr er mit dem BMW vor

Es gab eine Zeit, da kaufte sich Philipp Eich alles, was er kriegen konnte. Weshalb auch nicht? Kaum erwachsen, verdiente er als Profi bei den Young Boys mehr als 10’000 Franken im Monat. Später, bei Waldhof Mannheim, das Zweieinhalbfache. Zum Lehrerseminar, das er kurz vor dem Abschluss hinschmiss, fuhr der 18-Jährige im BMW vor. «Ich habe nie gelernt, mit Geld umzugehen. Damals ist es komplett überbordet.»

Kaum erwachsen, verdiente er mehr als 10’000 Franken im Monat: Philipp Eich im Einsatz für YB

Kaum erwachsen, verdiente er mehr als 10’000 Franken im Monat: Philipp Eich im Einsatz für YB

Quelle: Lukas Lehmann/Keystone

Damals ist der Himmel die Grenze. Es geht nur aufwärts. Der feine Techniker spielt in jeder Nachwuchs-Nati bis zur U21. Alle Türen für eine grosse Laufbahn stehen ihm offen. Der Bruch kommt 1999 mit dem Wechsel von YB nach Mannheim. Er kommt nicht damit klar, dass sein Talent allein plötzlich nicht mehr genügt. Mit dem Trainer liegt er bald im Zwist. «Ich hatte dort niemanden, mit dem ich reden konnte.» Fast täglich fährt der Jungprofi heim nach Bern, 365 Kilometer pro Weg.

Dann kamen die Panikattacken

In dieser Phase tauchen erste psychische Probleme auf. Eich entwickelt Ängste, bekommt Panikattacken. Auf die Stimmungsschwankungen reagiert er mit der Flucht ins Nachtleben. Erneut: exzessiv in allen Belangen.

Nach dem Abbruch des Experiments in Mannheim versucht er beim FC Winterthur einen Neuanfang. «Aber Zürich, der Ausgang, das hat mich gekillt.» Eine Zeit lang gelingt es ihm, seine Probleme zu überspielen, «darin bin ich Profi». Er gibt den fröhlichen, vorlauten Philipp von früher. Doch in ihm drin kämpft er gegen Dämonen.

Bis zu dreissig Xanax-Tabletten pro Tag

2001 dann die Erkenntnis: Es geht nicht mehr. Mit 23 Jahren ist Schluss mit Spitzensport. Schnell aufgestiegen und ungebremst abgestürzt. Wegen seiner Angststörungen muss Eich in die Klinik. Man verschreibt ihm dort Medikamente, die ihn abhängig machen. Bis zu dreissig Xanax-Tabletten schluckt er pro Tag – selbstzerstörerisch. Der Entzug gelingt ihm im letzten Moment.

«Ich brauchte eine Weile, um mir einzugestehen, dass ich niemandem die Schuld für mein Scheitern geben konnte.»

Philipp Eich, ehemaliger Fussballprofi

Mit 25 steht das einstige sportliche Wunderkind im Abseits: ohne Ausbildung, ohne Geld, gesundheitlich angeschlagen. Jetzt, am Nullpunkt angelangt, will er sein Leben selbst dirigieren. Rückblickend sagt er: «Ich brauchte eine Weile, um mir einzugestehen, dass ich niemandem die Schuld für mein Scheitern geben konnte. Ich allein bin für mein Leben verantwortlich.»

Der Neustart gelingt leidlich. Richtig gut läufts dafür im privaten Bereich. Eich lernt seine Partnerin kennen, mit der er nun schon seit 18 Jahren zusammen ist. «Das Beständigste in meinem Leben.» Beruflich hangelt er sich mit diversen Jobs durch. Seit diesem Sommer ist er endlich, was er immer werden wollte, wenn der Fussball nicht gewesen wäre: Primarlehrer, im Teilzeitpensum.

Dem Fussball bleibt er treu

Doch Philipp Eichs Welt ist und bleibt der Fussball. Mit ihm hat er nie gehadert, obwohl der Fussball ihm alles gegeben und fast alles genommen hat. Auch seine Zukunft soll auf dem grünen Rasen liegen. Eich will Instruktor beim Schweizerischen Fussballverband werden. Voraussetzung ist ein Zertifikat in Erwachsenenbildung.

Der Kurs kostet 3000 Franken, die Eich nicht hat. Den Betrag übernimmt nun die Stiftung SOS Beobachter. Denn die Ausbildung ist das fehlende Puzzleteil, das ihm erlaubt, sein Berufsleben zu stabilisieren und den Schuldenabbau voranzutreiben. Im Dezember sollte Eich das Papier in der Tasche haben. Dann geht es richtig los.

«Der Fussball ist mein Lebenselixier! Ohne ihn kann ich nicht glücklich werden.»

Philipp Eich, ehemaliger Fussballprofi

Als Instruktor will er helfen, die Trainer in den Vereinen besser auszubilden. Da gebe es nämlich viel zu tun. Philipp Eich redet sich ins Feuer. Mitten im Gespräch in einem Berner Café springt er auf und demonstriert die richtige Technik beim Vollspannschuss. Spätestens da glaubt man ihm, wenn er sagt: «Der Fussball ist mein Lebenselixier! Ohne ihn kann ich nicht glücklich werden.»

Momentan verdient Eich als Teilzeitlehrer 2600 Franken im Monat, ziemlich genauso viel wie das vom Betreibungsamt definierte Existenzminimum. Die Sozialhilfe unterstützt ihn nicht. Er ist froh darüber, diesen Stempel braucht er nicht auch noch. Denn an der Sozialhilfe hafte immer das Stigma des Versagens: dass man selbst schuld an seiner Misere sei.

Die neue Linie bei SOS Beobachter

Vor ein paar Monaten hätte es Philipp Eichs Gesuch bei SOS Beobachter noch etwas schwieriger gehabt. Die Stiftung finanzierte längere Aus- und Weiterbildungen bisher nur in Ausnahmefällen – zum Beispiel, wenn kurz vor dem Ende der Ausbildung ein Problem auftrat. Das soll sich nun ändern, SOS Beobachter baut ihr Engagement in diesem Bereich aus.

Mit gutem Grund. «Gerade für Geringqualifizierte und Armutsgefährdete ergibt es viel Sinn, wenn sie sich beruflich weiterentwickeln und finanziell verbessern können», sagt Beat Handschin, der Leiter der Stiftung. «Ein paar Hundert Franken mehr im Monat können bei knappen Budgets schnell den Unterschied machen zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit.»

Diese Öffnung ist für die Stiftung auch ein Wagnis. Sie fährt den Umfang ihrer Hilfeleistungen hoch, was unweigerlich zu Mehrausgaben führt.

«Entscheidend für uns ist, dass Weiterbildungen den Betroffenen helfen, die Situation langfristig zu verbessern.»

Beat Handschin, Leiter der Stiftung SOS Beobachter

Andererseits kann der Schritt bei Betroffenen falsche Erwartungen wecken: Sie könnten glauben, dass SOS Beobachter von nun an jeden Ausbildungswunsch erfüllt. Als mittelgrosses Hilfswerk sei die Beobachter-Stiftung nicht in der Lage, unbegrenzt zu helfen.

«Entscheidend für uns ist, dass solche Aus- und Weiterbildungen den Betroffenen helfen, die Situation langfristig zu verbessern», sagt Handschin. «Wir werden weiterhin sämtliche Gesuche sehr genau prüfen und sorgfältig mit den Spendengeldern umgehen.»

«Ich will ohne Schulden leben»

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Philipp Eich war ein Schweizer Fussballstar und schwamm im Geld. Dann ging es abwärts. Die Stiftung SOS Beobachter will ihm nun wieder auf die Beine helfen.
Quelle: Beobachter Bewegtbild

Bildung schützt vor sozialem Absturz

Die bisherige Politik der schnellen Interventionen hilft Sozialhilfebeziehenden längerfristig weniger gut als angenommen. Das zeigen neuere Untersuchungen. Und: Investitionen in die Bildung schützen besser vor einem erneuten sozialen Absturz.

Dass Bildung am besten gegen Armut schützt, ist eigentlich eine Banalität. Doch die Sozialhilfe hat diesem Fakt lange Zeit zu wenig Rechnung getragen. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) hat deshalb die Art der Unterstützung grundsätzlich überdacht und 2018 eine Ausbildungsoffensive gestartet. Ein verständlicher Politikwechsel, wenn man weiss, dass die Hälfte der Sozialhilfebeziehenden keine abgeschlossene berufliche Ausbildung hat.

Mit einer Weiterbildung mehr finanziellen Spielraum: Nora Falk (Name geändert)

Mit einer Weiterbildung mehr finanziellen Spielraum: Nora Falk (Name geändert)

Quelle: Marco Frauchiger

Die Sozialpädagogin

Für Armutsbetroffene lohnt sich Weiterbildung, selbst wenn sie sich lohnmässig nur wenig verbessern können. Doch schon ein paar Hundert Franken mehr im Monat können viel verändern. Das weiss auch Nora Falk. Sie ist Sozialpädagogin mit einem 40-Prozent-Pensum, als alleinerziehende Mutter erhält sie von ihrem Ex dazu noch Alimente ausbezahlt.

Doch ihr Budget ist so knapp, dass ihr ein unerwarteter Termin bei der Ärztin, ein neues Velo für ihren siebenjährigen Buben, eine neue Winterjacke schlaflose Nächte bereiten.

«Geld ist nicht das Wichtigste. Aber ohne Geld geht nichts.»

Nora Falk, Sozialpädagogin

Als sie davon erzählt, greift Nora Falk, die in Wirklichkeit anders heisst, irgendwann zu der Plattitüde, die sie eigentlich auslassen wollte. Sie sagt: «Geld ist nicht das Wichtigste. Aber ohne Geld geht nichts. Nur merkt man das immer erst hinterher.» Sie habe das in ihrem Job als Sozialpädagogin den Klientinnen und Klienten x-mal gesagt.

Doch jetzt, wo es um sie selbst geht, fühlt sie sich plötzlich hilflos. Sie steht unter Zugzwang. Sie muss etwas unternehmen, sonst wird sie in den nächsten Monaten einen Kleinkredit aufnehmen müssen. Wie sie den jemals abzahlen soll – Fragezeichen.

Dann reicht das Geld doch nicht

Also fasst sie, wie sie das täglich für ihre Klienten macht: einen Plan. Recherchiert, befragt Freundinnen und Bekannte, entscheidet sich schliesslich für eine Ausbildung zur Lehrerin für autogenes Training. Sie denkt sich: «Gute Sache. Ich kann mehr arbeiten, verdiene mehr, bleibe aber trotz höherem Pensum flexibel genug, dass mein Sohn nicht unter der neuen Situation leiden muss.»

Dann fragt sie ihren Arbeitgeber, eine soziale Institution in einer Grossstadt, ob er einen Teil der Ausbildung übernimmt. Und ist erleichtert, dass er vier Fünftel daran zahlt.

«Ich habe mich geschämt, um finanzielle Unterstützung zu bitten.»

Nora Falk, Sozialpädagogin

Doch dann rechnet Nora Falk nochmals alles durch – und merkt: Die Weiterbildung kann sie sich auch so nicht leisten. Das Pensum reduzieren geht nicht. Mehrausgaben für die Zeit der Ausbildung liegen nicht drin. Selbstverständlich weiss sie auch jetzt, was zu tun ist: Man bittet eine Stiftung um finanzielle Unterstützung. Keine grosse Sache, sie macht das ja täglich für ihre Klienten.

So einfach sei es dann doch nicht gewesen, sagt Nora Falk. «Ich habe mich geschämt.» Und Scham lässt sich nicht so leicht abstreifen wie die Schuhe nach der Arbeit. Nachts, wenn man wach im Bett liegt und die Gedanken zu kreisen beginnen, wird sie zum Berg, der unüberwindbar ist. Gedanken wie: «Viele müssen mit viel weniger auskommen.» – «Eine mit meiner Ausbildung muss es doch aus eigener Kraft schaffen.» – «Ich habe keinen Anspruch auf Unterstützung. So schlecht geht es mir ja nicht.»

Schlaflose Nächte

Irgendwann muss sie sich aber eingestehen: «Entweder reiche ich den Antrag ein oder vergesse die Ausbildung.» Sie will es bei SOS Beobachter versuchen. Das Hilfswerk kennt sie, als Sozialpädagogin hat sie mit ihm gute Erfahrungen gesammelt. Doch sie braucht drei weitere schlaflose Nächte, bis sie so weit ist, auf den Senden-Knopf drückt und ihren Antrag abschickt. «Ich habe das aber nur geschafft, weil ich mir zu hundert Prozent sicher war, dass er abgelehnt wird.» – Sie sollte sich irren.

Bittstellerin in eigener Sache zu sein, war für Nora Falk neu. «Man muss alles offenlegen, muss sich eingestehen, dass man nichts mehr schönreden kann und es anders nicht geht.»

«Ich kann diese Ausbildung nur machen, weil so viele Leute mit ihren Spenden SOS Beobachter unterstützen.»

Nora Falk, Sozialpädagogin

Der Bruch in Nora Falks Leben war die Scheidung vor sieben Jahren. Ihr Bub ist frisch auf der Welt, die Beziehung zum Mann zerrüttet. Sie trennen sich. Dass das ihr Leben schlagartig verändern würde, realisiert sie erst viel später. «Nach der Geburt war ich so voller Glückshormone. Nichts konnte mir etwas anhaben. Ich war unerschütterlich positiv.»

Im Scheidungsvertrag erhält sie genug Alimente zugesprochen, dass sie mit einem 40-Prozent-Pensum gerade durchkommt. Doch als der Bub in die erste Klasse kommt, werden die Alimente gekürzt. Sie müsste ihr Pensum um 20 Prozent aufstocken. Doch ihr Sohn ist keines dieser pflegeleichten Kinder, die man überall einpflanzen kann und dann gut gedeihen. Fix einen Tag mehr arbeiten, das könne sie ihm im Moment nicht zumuten. «Er braucht mich, und ich will für ihn da sein. Das ist das Einzige, was wirklich zählt.»

«Es klingt fast etwas kitschig»

Dann kommt ihr die Idee mit dem autogenen Training. Als Lehrerin könnte sie stundenweise arbeiten, wenn ihr Sohn in der Schule ist. Sie knüpft Kontakte und erhält prompt ein Angebot.

«Es klingt fast etwas kitschig», sagt sie am Schluss des Gesprächs: «Ich kann diese Ausbildung nur machen, weil so viele Leute mit ihren Spenden SOS Beobachter unterstützen.» Dafür sei sie sehr dankbar. Dann sagt sie noch: Es werde hart werden, diese Dreifachbelastung mit Job, Kinderbetreuung und Ausbildung. «Doch ich werde auch das schaffen!»