Als es noch kein Facebook gab, damals in den Achtzigern, sammelte man Freunde in bunten Alben, auf denen Dinge standen wie «Meine Klassenkameraden». Alle, die sich darin verewigen durften, beantworteten zwei Fragen immer gleich. Die nach dem Lieblingssong: «The Final Countdown». Und die nach etwas, was man nicht ausstehen kann: «Röselichöhli».

Das eine hat mit Gruppendruck zu tun, das andere mit Evolution. Der Song der Heavy-Metal-Band Europe war wochenlang die Nummer eins der Hitparade. Wer auf der Eisbahn nicht im Abseits kurven wollte, wählte ihn auf der Jukebox. Und da Rosenkohl genau wie Kaffee oder Bier ziemlich bitter schmeckt, lehnen ihn kindliche Gaumen ab. Der Mensch muss erst lernen, Bitteres zu mögen.

Viele tun es nie, und deshalb hat kein anderes Gemüse mit so vielen Vorurteilen zu kämpfen wie der Rosenkohl. Den einen ist er viel zu bitter, den anderen zu kohlig – die meisten verziehen allein beim Gedanken an die kleinen grünen Knöllchen das Gesicht.

Die Hipsters kriegen nicht genug davon

Doch das ist nicht überall so. Das zeigt ein Blick über den Tellerrand. In den USA erlebt der Brussels Sprout gerade eine Renaissance. In San Francisco, der inoffiziellen Food-Hauptstadt des Landes, haben etliche Gourmet-Trends ihren Ursprung – und hier findet man Rosenkohl auf den Menükarten der heissesten Restaurants und Bars. Zum Beispiel im «Comstock Saloon» im Stadtteil North Beach. Hier wird gebratener Rosenkohl an einer Vinaigrette als knuspriger Snack zu Cocktails und Craft Beer serviert. Und die Leute können nicht genug davon kriegen. 

«Ich weiss nicht, warum ausgerechnet der Brussels Sprout bei Hipstern so beliebt ist», sagt Chef Michael Miller. Vermutlich habe es mit einem kalifornischen Paradox zu tun: Die Leute hier mögen es fettig und salzig, gleichzeitig aber auch gesund. In Rosenkohl steckt mehr Vitamin C als in einer Kiwi. Jede Woche gehen im «Comstock Saloon» locker über hundert Schalen mit dem raffiniert zubereiteten Rosenkohl über den Tresen. «Er ist wirklich unglaublich populär», sagt Wirt Miller.

Chrampfen im Seeland

Aber auch in der Schweiz wächst seine Beliebtheit. Vor zehn Jahren wurde Rosenkohl auf 47 Hektaren angebaut, 2015 waren es bereits 87 Hektaren. Ein Grossteil davon befindet sich im Seeland. Das unscheinbare Kerzers FR ist das eigentliche Rosenkohl-Zentrum der Schweiz.

Hier hat Bauer Urs Johner seinen Hof, den er mit Sohn Matthias führt. «Rosenkohl ist die Königsdisziplin im Gemüseanbau», sagt der 54-Jährige. Es sei eine teure Kultur, die lange im Boden bleibe. «Das bedeutet viel Arbeit.» Johners Arme sind braungebrannt, er hat Erde unter den Fingernägeln vom Jäten, Erde klebt auch an seinen schwarzen Schuhen. Einen Salat produziert er in fünf Wochen, Broccoli in neun. Rosenkohl erntet man nach acht Monaten. 

Irgendwann im September geht es in der Regel los, manchmal auch erst im Oktober. Es bleibt also viel Zeit, in der etwas schiefgehen kann: Unwetter, Schädlinge, Rehe oder Hasen, die es auf die Stauden abgesehen haben.

Johners Rosenkohl wurde im vergangenen Dezember in einem Gewächshaus in Holland ausgesät. Als die Pflänzchen im April 15 Zentimeter hoch waren, transportierte sie ein Lastwagen nach Kerzers. Auf sieben von insgesamt 60 Hektaren wachsen seither 210000 Pflänzchen. 

Im Hochsommer sind die Stauden bereits hüfthoch, von oben bis unten mit Blättern übersät, und bei jedem Blattansatz wächst ein Rösli heran – 60 bis 80 pro Pflanze. Alles, was kriecht und fliegt, macht Johner jetzt Sorgen. Die Gallmücke, die Kohlfliege – und vor allem die Weisse Fliege. 

Er fährt mit den Händen durch die dunkelgrünen Blätter, und die kleinen weissen Viecher stäuben zu Hunderten auf, wie Schneegestöber mitten im Sommer. «Es ist eine Katastrophe», sagt Urs Johner. Morgen oder übermorgen müsse er «fahren». Das heisst: Chemie aufs Feld spritzen. Das Mittel sei unproblematisch, sagt er. «Wir werden kontrolliert. Wenn wir falsch behandeln, können wir nicht verkaufen.»

Neue Züchtungen machen ihn milder

Im August reissen Johner und seine Mitarbeiter den Pflanzen den Kopf ab. Der befindet sich ganz oben am Stängel. «Dann geht die Kraft nicht mehr in den Kopf, sondern in die Röseli», sagt der Bauer. Die Kunst sei, den richtigen Zeitpunkt zu treffen. Wenn man es zu früh macht, gibts Seitentriebe. Wenn man zu lange zuwartet, gibts nur winzige Rosen, die niemand essen will. 

Früher hiess es, Rosenkohl dürfe erst nach ein paar eisig kalten Nächten geerntet werden, damit er milder im Geschmack sei. «Doch das ist vorbei», sagt Johner. Heute werde so gezüchtet, dass es auch ohne Frost-Zugabe gehe. «Man braucht einen grünen Daumen, Erfahrung und etwas Glück.»

Im Herbst beginnt dann das grosse Chrampfen. Die Ernte erfordert viel Handarbeit. In fünf Stunden schaffen Johners Mitarbeiter vier Tonnen. «Das ist anstrengender als fünf Stunden Tennis spielen in Wimbledon», sagt Johner. «Und das Honorar ist erst noch schlechter.»
In guten Jahren werden in der Schweiz 700 bis 800 Tonnen Rosenkohl produziert. Johners Ziel ist es, bei der Landi einmal 200 Tonnen abzuliefern. Vor fünf Jahren kam er auf 196. Ein kleiner Teil landet auch bei ihm auf dem Tisch. Urs Johner mag den Rosenkohl am liebsten so, wie ihn seine Frau Barbara zubereitet: als klassische Gemüsebeilage zu Steak oder Braten. «Gern auch mit Speckwürfeli und Zwiebeln.»

Der Seeländer Gemüsebauer ist überzeugt, dass der Rosenkohl Potenzial hat. Seit einiger Zeit studiert er an einer Methode herum, wie man ihn alltagstauglicher machen könnte. Die Zubereitung dauert vielen zu lange, die über Mittag oder nach einem langen Arbeitstag auf die Schnelle etwas essen möchten. Frischer Rosenkohl im Beutel aus dem Kühlregal, so etwas schwebt ihm vor. «Wenn Sie ihn bei Zimmertemperatur zwei Tage liegen lassen, werden die Rösli braun und unansehnlich.» Seit rund vier Jahren setzt Johner ausserdem auf den lila Flower Sprout, eine Kreuzung aus Rosenkohl und Federkohl, dem er eine grosse Zukunft voraussagt.

Rösli-Variationen in der «Rose»

Ein Rosenkohl-Fan ist auch der Spitzenkoch Tobias Buholzer, der seit gut einem Jahr in der «Rose» im zürcherischen Rüschlikon für Furore sorgt. Er sagt: «Ich liebe die Herausforderung, aus etwas, was fast niemand so richtig mag, eine Delikatesse zu machen.» Wenn er den Rosenkohl für sich selbst zubereitet, dann gern so wie früher: mit Zwiebeln, in Butter. «Das weckt Kindheitserinnerungen.» 

In seinem Gourmet-Restaurant würde er so was aber nicht servieren. «Da rümpfen die Leute die Nase.» Also zupft er die Blätter, blanchiert die Knospen und serviert den Rosenkohl als knackigen Salat, mit süssen Datteln, Pinienkernen, Oliven und etwas Ziegenkäse. Wenn Wild auf dem Menü steht, macht er aus den Blättern Tempura, eine frittierte Beilage. Oder dann kugelige Rosenkohlsphären mit einem flüssigen Kern, ein Experiment aus der Molekularküche. 

Die Ideen gehen Buholzer nicht aus. Das Gemüse ähnle bei der Handhabung dem Broccoli, sagt er. «Verkocht ist beides grauenhaft.» Modern und frisch präsentiert, sei der Rosenkohl ein extrem leichtes Gericht. Die Küche sei kreativer geworden, sagt Buholzer. Und man bekomme Lebensmittel aus der ganzen Welt, jederzeit. «Da muss man sich spezialisieren. Und warum nicht mit traditionellem Gemüse aus der Region?