Es ist einer der grössten Momente in einem Käserleben: die Verkostung einer neuen Käsesorte. Vorsichtig sticht Walter Gerhard den Laib an, zieht die Bohrprobe heraus, reicht Alfred Bieri von «Natürli» ein Stück und führt den Rest zum eigenen Mund. Seit gut 20 Jahren führt Gerhard nun die Käserei Tisenwaltsberg in Bäretswil im Zürcher Oberland. Er hat sie damals von seinem Vater übernommen, der wie viele in der Gegend jahrzehntelang nur eines tat: Emmentaler produzieren für die Käseunion, jahrein, jahraus. So machte es auch Walter Gerhard. Bis Alfred Bieri kam.

«Also ich find ihn gut», sagt der Käser vorsichtig und wartet gespannt auf das Urteil von Bieri. Der Vermarkter lässt den Käseteig auf seiner Zunge liegen, schnalzt leise, dann sagt er: «Der ergänzt unsere Aromenpalette ideal. Gratuliere!» Was sie soeben degustiert haben, ist ein neuer Hartkäse aus Büffelmilch, ein mild-süsser, der in der Konsistenz an einen Schafkäse erinnert, aber geschmacklich mit nichts zu vergleichen ist. Es ist eine echte Innovation - selbst im «Käseland Schweiz» keine Selbstverständlichkeit.

Es ist noch nicht lange her, da war ein 3300-Liter-Kessel ein riesiges Chäschessi. Heute reicht das gerade noch für einen Kleinbetrieb wie den von Walter Gerhard. Es ist noch nicht so lange her, da war die Pasteurisierung von Kuhmilch vor dem Käsen ein Sakrileg. Da hätte jeder Käser gesagt: «Erhitzen macht die Aromen in der Milch kaputt.» Heute, wo die Milch vor dem Käsen oft gelagert wird, ist das Thermisieren gang und gäbe. Es ist auch noch nicht lange her, da hatte jedes Dorf seine eigene Käserei. Doch machten diese vielen Milchverwerter regionaltypische Produkte? Leider nein. Sie produzierten für die Käseunion, die monopolistische Vermarktungs- und Verwertungsgesellschaft des Bundes, und stellten nur altbekannte, oft auch langweilige Sorten her: Emmentaler, Tilsiter, Greyerzer, Appenzeller eben. Früher war auch nicht alles nur gut.

1999 kam die Liberalisierung des Käsemarktes. Plötzlich standen Hunderte von Käsereien vor dem Aus. Irgendwie zu Recht, ist man versucht zu sagen. Weshalb so viele Käsereien unterhalten, wenn doch alle nur dasselbe produzieren? Auch im Zürcher Oberland stand eine Flurbereinigung bevor, eine besonders grosse: Die Bezirke Uster, Hinwil, Pfäffikon und Tösstal waren reine Milchwirtschaftszonen. Nur ein Wunder konnte die vielen Klein- und Kleinstbetriebe wie denjenigen von Walter Gerhard retten. Oder eine gute Idee.

Die hatte Alfred Bieri. Mit «Natürli - Produkte aus dem Zürcher Berggebiet» bietet er ausschliesslich Rohmilchkäse aus Kleinbetrieben an. Denn Bieri wollte nicht für die immer dominanter werdende Lebensmittelindustrie Käse machen, sondern für die Konsumenten. Er ermutigte die Produzenten zu Eigenkreationen und Spezialitäten, weg von Emmentaler, Tilsiter, Greyerzer, Appenzeller, die stark unter Preisdruck gerieten, weg von den sogenannten «Schweizer Spezialitäten», die doch vor allem eigentlich Spezialitäten- und Innovationsverhinderer gewesen waren. Alfred Bieri wollte wieder Bezug schaffen zwischen der Herkunft von Lebensmitteln und den Konsumenten - und das ausgerechnet im urbanen Grossraum Zürich.

Käser sind träge Menschen
So ermöglichte Bieri manchem Käser im Zürcher Oberland das Überleben als eigenständige Käseverarbeiter - und Konsumenten bietet er die Möglichkeit, neuen Käse nach traditioneller Art zu entdecken. Beispielsweise den «Waldsberger» von Walter Gerhard, der als einer der besten Emmentaler gilt, manche sagen sogar, es sei mit Abstand der beste. Nur dass ihn Walter Gerhard nicht «Emmentaler» nennen darf und auch nicht so nennen will. Denn sein «Waldsberger» ist eine Klasse für sich. Allein schon äusserlich: Er hat nicht diese glatte, gleichmässig goldgelbe Rinde wie der «klassische» Emmentaler von heute, der eben nicht mehr klassisch ist, sondern von der Käseindustrie geformt und genormt. Gerhards «Waldsberger» hat eine raue Haut mit einer wilden braungelben Zeichnung. Wer mit der Hand über seine Rinde fährt, spürt Leben.

Er habe viele Jahre auf Walter Gerhard eingeredet, erzählt Bieri. Denn Gerhard sei einer der besten Käser in der Gegend. Aber eben auch ein träger Mensch, ein Käser halt. Einer, der jahrein, jahraus dasselbe tut - dasselbe tun muss. Denn beim Käsen erreicht nur Meisterschaft, wer langsam und stetig am immer selben Produkt arbeitet. Konstant auf hohem Niveau käsen kann nur, wer die kleinen Veränderungen in der Milch, im Wetter, im Lab lesen und seine Handgriffe entsprechend anpassen kann. Es ist eine Gabe, die nicht zum Experimentieren verleitet. «Gerhard wäre am liebsten Emmentaler-Produzent geblieben wie sein Vater», sagt Bieri. Nun macht er zwar auch eine Art Emmentaler - aber so, wie man ihn vor 50 Jahren machte. Und in Eigenregie. Rund zwölf 100-Kilo-Laibe produziert der schweigsame Schaffer jede Woche. Er lebt damit gut. Dank dem Coach von «Natürli».

Goldprämierter «Hinkelstein»
Was Alfred Bieri vor 13 Jahren initiierte, ist heute ein florierender Betrieb mit 36 Angestellten, 400 Kunden in Detailhandel und Gastronomie sowie einem Laden im Zürcher Hauptbahnhof. «Natürli» ist ein Betrieb, um den das Zürcher Oberland von manch anderer Region beneidet wird. Seit kurzem besitzt das Unternehmen einen eigenen Tonstein-Käsekeller. Auch hier versuchte Bieri, das Gute von gestern mit dem Praktischen von heute zu verbinden. Nach dem Vorbild von Naturkellern richtete er acht Gewölberäume ein. Im Gegensatz zu modernen Kellern werden sie nicht klimatisiert. Dank einer über den Tonsteinplatten installierten Bodenheizung ist das Klima dennoch regulierbar. Ideale Bedingungen für anspruchsvollen Käse.

Neben begehrten Spezialitäten wie dem goldprämierten «Hinkelstein», einem Sbrinz-ähnlichen Hartkäse, oder der «Gyrenbader Ureiche», einem Hartkäse, der mit Eichensaft eingerieben wird, liegen hier rund 300 «Waldsberger» und reifen langsam vor sich hin. Sie bauen Eiweiss ab, verlieren Wasser und rund 15 Prozent ihres Gewichts. Ihr Teig wird porös, und das in den Löchern eingeschlossene Gas entweicht. Unter dem Gewicht der riesigen Laibe werden die Löcher zusammengedrückt. Schneidet man dann einen dieser Käse an, fliessen aus den mandelförmigen Löchern schwere Salzwassertränen. Es sieht aus, als würde der «Waldsberger» dem Verschwinden des echten, traditionellen Emmentalers nachweinen, den er nun als Einziger noch verkörpert.

Käseexperten von früher hätten ihre liebe Mühe mit dem, was hier reift. Zum Beispiel der Bach-Thal-Käse: Er hat feine waagrechte Spalten im Teig, sogenannte Gläs. «Bei den Käseunion-Experten galt das als schlimmer Fehler», erzählt Alfred Bieris Bruder Walter, der den Tonsteinkeller führt. «Dabei wusste ja jeder Käser, dass nur ein ganz feiner Teig solch zarte Spalten macht. Dass es nur aus der besten Milch so delikaten Käse geben kann.» Doch die Experten klassierten die «fehlerhaften» Laibe ab, im schlimmsten Fall wurden sie industriell zu Schmelzkäse weiterverarbeitet. Der Käser kassierte dafür eine schmerzliche Abstrafung: Er bekam nur wenig Erlös für sein Produkt. Die schlimmste Strafe aber wurde dem Konsumenten aufgebürdet: Er wusste nicht einmal, was ihm die Käseunion vorenthielt.

Mit dem Erbe des Staatsmonopols hat Alfred Bieri konsequent aufgeräumt. Heute stellen 17 Käsereien für ihn rund 150 Käsesorten her - alles Eigenkreationen. Und mittlerweile ist «Natürli» als Herkunftslabel eine willkommene Alternative zu Produktionslabels wie «Bio», wo Produzenten unter der Administrationswut leiden und Tomaten mittlerweile auch aus holländischer Hors-sol-Produktion stammen. «Natürli»-Produkte atmen gewissermassen das «Terroir», auf dem sie gewachsen sind.

Ein Verbrechen am Gaumen
Dass das auch in der heutigen Zeit noch möglich ist, zeigt der «Waldsberger» eindrücklich. Wer den reifen Grosslochkäse kostet, begreift sofort: Die Industrialisierung der Käseherstellung ist ein Verbrechen am Gaumen. Sie beraubt uns der Geschmacks- und Geruchssensationen. Der «Waldsberger» hat einen mürben Teig, im Mund ist er zugleich salzig-rezent und mild-süss, und im Abgang findet sich keine Spur dieses dumpfen Nachgeschmacks, den sein industrieller Bruder gerne hinterlässt. Gerhards «Emmentaler» ist kein geföhnter, Wärmelampen-gebräunter Bürogummi. Sein «Waldsberger» ist ein kräftiger und naturgereifter Landbursche. Und er ist ein echter Zürcher Oberländer. Das sollte die Emmentaler mächtig wurmen.

Schon seit längerem möchten Walter Gerhard, Alfred Bieri und sein Bruder Walter Bieri einen «Waldsberger» während zweieinhalb Jahren reifen lassen. Es will ihnen aber nicht so recht gelingen. Ständig bleibt zu wenig Käse an Lager, zu schnell verkauft er sich. Wenn es doch nur mehr solche Käsewunder gäbe!

Urchiger Chäsflade nach Fredi Bieri Rezept für vier Personen
Kuchenteig auswallen, auf Blech legen, mit Gabel einstechen
5 Radieschen
1 Apfel
200 Gramm geriebenen Waldsberger,
Weisswein oder Kirsch
darauf verteilen, mit Weisswein oder Kirsch beträufeln
1 Ei
120 bis 180 Gramm sauren Halbrahm
verquirlen, auf Käse verteilen
Zwiebeln in Ringe schneiden, auf Guss verteilen
Knapp 40 Minuten bei 180 Grad backen
Alfred Bieri serviert seinen Gästen dazu gerne einen «Solaris» von Fredi Strasser aus Unterstammheim - ein Weisswein aus einer Kreuzung von Riesling-, Pinot-gris- und Muscat-Trauben und von einem Winzer, der ähnlich wie Bieri das Gute von gestern mit dem Nützlichen von heute kombiniert.
Quelle: Renate Wernli