Beobachter: Über 400 traditionelle Spezialitäten hat das Kulinarische Erbe der Schweiz archiviert. Was ist das kurioseste Produkt?
Heike Zimmermann: Der Gangfisch, eine Spezialität aus der Region Bodensee, die schon im Mittelalter bekannt war. Der Gangfisch gehört zur Familie der Felchen und wird als Ganzes geräuchert, mitsamt dem Laich. Das ist dann ziemlich salzig. Wer den Fisch essen möchte, muss ihn zuerst aufblasen, damit sich die Haut vom Filet löst.

Beobachter: Aufblasen?
Zimmermann: Hinten bei den Flossen gibt es ein kleines Loch, da bläst man hinein. Zuerst muss man aber den Kopf abnehmen.

Beobachter: Welches Produkt ist das älteste?
Zimmermann: Der Sauser ist sehr alt. Den brachte der römische Kaiser Cäsar mit über die Alpen. Die älteste Produktionstechnik ist übrigens das Pökeln. Wir vermuten, dass es Schinken schon in der Römerzeit gab.

Beobachter: Wie sind die traditionellen Produkte überhaupt entstanden?
Zimmermann: Der gängige Mythos lautet: aus der Not heraus. Das stimmt aber nur bedingt. Viele Produkte sind aus Festanlässen heraus entstanden. Zum Beispiel der Zigerkrapfen zur Fasnacht. Oder die Grassins, ein Buttergebäck. Im Engadin gibt es Dörfer, in denen Anfang Jahr ein traditioneller Kinderball steigt. Da werden die Grassins verteilt. Es gibt auch Produkte, die ursprünglich von der Oberschicht kamen, etwa die Zürcher Hüppen, diese Rollen aus Teig, die heute mit Schokolade gefüllt sind. Um den Teig schön aufzurollen, brauchte es Zucker. Der kam erst im 16. Jahrhundert in die Schweiz und war sehr teuer.

Beobachter: Ist kulinarische Geschichte auch Kulturgeschichte?
Zimmermann: Sicher! In unserem Inventar lernen Sie viel über die Lebensart in der Schweiz. Nehmen wir die Fleischwaren. Trockenfleischprodukte gibt es vor allem im Bündnerland und im Wallis - weil beide Kantone dasselbe Klima haben. Schaut man auf die sechs Kantone der Innerschweiz, findet man nur drei traditionelle Fleischspezialitäten. In diesen Kantonen war Milchwirtschaft die dominierende Agrarform. Und warum gibt es in der Ostschweiz so viele Brühwürste? Weil dieser Teil der Schweiz sehr früh industrialisiert wurde. Dort standen die Fleischwölfe.

Beobachter: Gibt es etwas, was bei allen regionalen Spezialitäten gleich ist, etwas typisch Schweizerisches?
Zimmermann: Die Vielfalt ist typisch. Und die vielen Einflüsse aus den Nachbarländern. Der Mohrenkopf etwa - den gibt es auch in Österreich und in Deutschland. Es haben sich aber feine Unterschiede etabliert. Ein Schweizer Mohrenkopf schmeckt einfach anders als ein deutscher.

Beobachter: Worin besteht der Unterschied?
Zimmermann: Schwierig, das exakt herauszufinden. Auch unter den Würsten gibt es viele, die sich ähnlich sind, der Cervelat und der St. Galler Stumpen beispielsweise. Um die Unterschiede herauszufinden, muss man lange bei den Herstellern der Produkte herumtelefonieren und in den Bibliotheken nach alten Rezepturen suchen.

Beobachter: Wie haben sich die Produkte im Lauf der Zeit verändert?
Zimmermann: Der Cervelat ist faszinierend. Anhand des Cervelats kann man die Geschichte der Industrialisierung nacherzählen. Das älteste Rezept wurde in einem Handbuch aus dem 16. Jahrhundert gefunden. Es beweist, dass der Cervelat eine Luxuswurst war. Man würzte ihn damals mit teuren exotischen Gewürzen wie Pfeffer, Ingwer oder Zimt. Zucker kam auch hinein. Die Därme, in die man die Cervelatmasse presste, wurden mit teurem Safran gefärbt. Erst mit der Erfindung des Fleischwolfs im 19. Jahrhundert wurde der Cervelat zum Massenprodukt, natürlich in der Variante ohne exotische Gewürze. Die Zutaten waren billig, und man konnte ihn kalt essen. Ein ideales Produkt für das Jahrhundert der Industrialisierung - die Essenspausen der Fabrikarbeiter waren zu kurz, um nach Hause zu gehen. Der Cervelat war deshalb ursprünglich vor allem in den Industriezentren der Städte verbreitet.

Beobachter: Die Mehrheit der von Ihnen dokumentierten Produkte sind Backwaren. Sind die Schweizer ein Volk von Bäckern?
Zimmermann: Vielleicht. Vor allem aber waren wir Schweizer früher ein Volk von Bauern - und die meisten Zutaten für Backwaren kommen ja vom Bauernhof. Milch, Eier, Butter, Mehl, Honig, Früchte, Gemüse, Käse. Es gab endlos viele Kombinationsmöglichkeiten. Und bei Festtagsspezialitäten erzeugte man einen Hauch Exklusivität, indem man Rosinen hinzufügte oder - bei Lebkuchen zum Beispiel - besondere Gewürze.

Beobachter: Haben Sie ein Lieblingsprodukt?
Zimmermann: Die Glarner Kalberwurst ist lecker. Es gibt das traditionelle Glarner Landsgemeinde-Kalberwurst-Menü, an dem ist alles weiss. Die Kalberwurst, der Kartoffelstock, die Butter-Zwiebel-Sauce. Das sieht nicht sehr appetitlich aus. Nur der dunkle Klacks Zwetschgenmus fällt aus dem Rahmen.

Beobachter: Hat die Kalberwurst auch eine eigene Geschichte wie der Cervelat?
Zimmermann: Die Kalberwurst löste einen Riesenstreit aus. 1926 erstattete ein Polizist aus St. Gallen, dem Konkurrenzkanton für Kalbswürste, bei den Glarner Behörden Anzeige gegen die Hersteller. Die verstiessen gegen das Lebensmittelgesetz von 1905, das die Zugabe von nichtfleischlichen Bestandteilen verbot. In der Kalberwurst steckt nämlich Brot. 1957 erhielten die Glarner Metzger dann eine Sonderbewilligung.

Beobachter: Brot in der Wurst?
Zimmermann: Es heisst, die Glarner hätten das Fleisch, das in den Hungerjahren Anfang des 19. Jahrhunderts Mangelware war, mit Brot gestreckt. Wieder dieser Mythos, dass Spezialitäten aus der Not heraus entstehen. Wahrscheinlicher ist anderes: Die Hungerkrise war nämlich vor allem eine Getreidekrise. Besonders Weissbrot war damals kaum zu bezahlen. Die Glarner taten Brot in ihre Wurst, um sie aufzuwerten.

Glarner Kalberwurst mit weisser Zwiebelsauce
Rezept für vier Personen
1 Esslöffel Butter mässig erhitzen
200 Gramm Zwiebeln in Streifen schneiden, beigeben und glasig dünsten
4 gestrichene Esslöffel Mehl darüberstäuben und mitdünsten.
Mit 1,5 Dezilitern Weisswein ablöschen
3,5 Deziliter Milch, 3,5 Deziliter Bouillon mit dem Schwingbesen nach und nach einrühren.
Mit Salz, Muskat, Aromat schwach würzen.
4 Kalberwürste in die Sauce legen und auf kleinstem Feuer knapp unter dem Siedepunkt (es darf nicht kochen!) zirka 25 Minuten ziehen lassen (rohe Kalberwürste: 35 bis 40 Minuten ziehen lassen).
Dazu werden Kartoffelstock und Dörrzwetschgenkompott serviert.

Weitere Infos

Der Verein Kulinarisches Erbe der Schweiz wurde 2004 gegründet, um traditionelle Nahrungsprodukte zu dokumentieren und bekanntzumachen. Inzwischen versammelt die Datenbank über 400 Produkte. Ab Mitte Dezember wird sie der Öffentlichkeit zugänglich sein: www.kulinarischeserbe.ch.

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  1. Bauernbratwurst/Saucisse à rôtir Wurde einst in Öl eingelegt, um sie länger haltbar zu machen. 
  2. Mortadella di fegato Erstmals 1644 schriftlich erwähnt. 
  3. Cervelat Von italienisch «cervellata», «Hirnwurst»; enthält heute kein Hirn mehr.
  4. Berner Zungenwurst Enthält keine Zunge mehr.
  5. Schützenwurst/Aussteller Der Nobel-Cervelat.
  6. Bassersdorfer Schüblig Früher war eine Harz-Tunke für die schwarze Haut verantwortlich.
  7. Saucisson neuchâtelois Rund 145 Tonnen werden jährlich hergestellt.
  8. St. Galler Bratwurst Senf zu einer echten solchen gilt als kulinarische Todsünde.
  9. Bauernspeck Wurde früher im Küchenrauch geräuchert.
  10. Hallauer Schinkenwurst Das Original enthält ganze Kümmelsamen.
  11. Lardo Weisser Tessiner Speck, bis ins 20. Jahrhundert Fettstoff als Ersatz für Öl und Butter.
  12. Pancetta piana Pancetta bedeutet «Wanst». 
  13. Lard sec du Valais Gehört mit Trockenfleisch und Rohschinken zur Walliser Fleisch-Dreifaltigkeit.
  14. Salame Mittellateinisch für «Gesalzenes». 
  15. Saucisson vaudois Aroma und Farbe kommen vom Kalträuchern.
  16. Salsiz Wird wochenlang luftgetrocknet.
  17. Landjäger Französisch heisst er logischerweise «gendarme».
  18. Mostbröckli Wird anders als Walliser oder Bündner Trockenfleisch kurz geräuchert.

Quelle: Verein Kulinarisches Erbe