Endlich hatten wir die Grenze hinter uns. Seit ich mit Dana in Hongkong aufgebrochen war, hatte ich diesen Moment herbeigesehnt und zugleich gefürchtet. Denn was wäre gewesen, wenn die chinesische Grenzpolizei mich nicht ins Land hineingelassen hätte? Mich, der sich doch so sehr auf die ersten Schritte im Riesenreich der Mitte gefreut hatte!

Natürlich war alles ganz anders. Die Polizisten zurückhaltend, aber freundlich liessen uns mit einer lässigen Handbewegung passieren. Und so traten wir aus dem nüchternen Grenzhaus hinter Macao und standen zwischen einer gesichtslosen Tankstelle, einem Reisebüro und einem Lebensmittelmarkt. Eine Szenerie, wie sie ebenso in Europa oder Amerika anzutreffen ist.

Das änderte sich erst, als wir im Mietwagen sassen und losfuhren. Nach einer Weile wurden die Asphaltstrassen schmaler, exakt gesetzte Randsteine verschwanden. Immer mehr drängte sich überbordende grüne Natur an den Strassenrand. Nieselregen setzte ein. Die Landschaft erschien uns durch die beschlagenen Autofenster wie eine lebendig gewordene chinesische Tuschzeichnung.

Dana machte diese Reise nicht zum

ersten Mal. Seit die Amerika-Chinesin von ihrer Verwandtschaft in Yi Liang erfahren hatte, korrespondierte sie mit dieser. Nun wohnte und arbeitete sie seit einigen Jahren in Hongkong. Inzwischen waren die Grenzen zu China durchlässiger geworden. So fuhr die junge Frau alljährlich einmal in gut fünf Stunden Fahrt dorthin.

Ab und zu führte die Strasse über den grössten Fluss der Gegend, den Tan Jiang. Überall auf den Feldern arbeiteten emsig Menschen. Grosse Landwirtschaftsmaschinen waren nirgends zu sehen. «Dreimal jährlich kann hier geerntet werden», erklärte mir meine Freundin, zeigte mit der ausgestreckten Hand auf ein Reisfeld, in dem die Bauern im knietiefen Wasser ihre Arbeit verrichteten. Es war, als hätten sich hier die Lebensumstände seit Jahrhunderten nicht verändert.

Auch das Dorf Yi Liang erschien mir wie aus einer anderen Zeit. Die Häuser, höchstens zweistöckig, aus Ziegeln und Lehm gebaut, duckten sich förmlich unter den grauen Schiefer- und Ziegeldächern mit ihren ganz typischen drachenförmigen Dachreitern.

Danas ganze Verwandtschaft begrüsste uns vor dem Haus und betrachtete mich, den Fremden, mit unverhohlener Neugier. Wir traten durch den Hof in die grossräumige Küche. Auch diese schien sich in den letzten Jahrhunderten nicht verändert zu haben. Der Herd war aus Ziegeln gemauert, zwei Feuerstellen standen für zwei enorme Woks parat, eine Art offener Ofen samt Rost diente zur Zubereitung der täglichen Nahrung.

Opfergaben für die Ahnen

Wir opferten vor dem grossen Festmahl am Ahnenschrein Dana hatte mich darauf vorbereitet. Dreimal verneigten wir uns in Respekt vor den Vorfahren. Dann füllten wir etwas Reiswein in winzige Tässchen, belegten kleine Gefässe mit kleinen Bissen des Festessens, an dem wir bald teilhaben würden. Schliesslich entzündeten wir einige Räucherstäbchen, deren Rauch unsere Wünsche und unsere Speisen zu den Ahnen bringen würde.

Unglaublich, was die Frauen der Familie Mei mit einfachsten Mitteln gekocht hatten! Zum ersten Mal in meinem Leben ass ich ein Gericht mit getrockneten Austern. Auch wurde uns ein knusprig gebratener Karpfen aus dem Teich hinter dem Hof aufgetragen eine Ehre, in deren Genuss nur hoch angesehene Gäste kamen. Der Karpfen gilt in China als Symbol für Weisheit und Langlebigkeit zwei Dinge, die er auf den Gast übertragen soll.

Was da sonst noch an Köstlichkeiten auf den Tisch kam, liess diesen fast zusammenbrechen. Absoluter Höhepunkt waren rot gekochte, ausserordentlich intensiv duftende Schweinshaxen. Sie waren derart lange geschmort worden, dass sich das saftige Fleisch mit den Stäbchen leicht von den Knochen lösen liess.

Allerdings musste ich, um das Küchengeheimnis zu ergründen, die lokale Garküche von Yi Liang aufsuchen. Chinas Frauen überlassen Braten und Schmoren nämlich dem Dorfmetzger. Und das natürlich seit Jahrhunderten.

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