Genf, Studio der Télévision Suisse Romande, an einem Montagabend im März, kurz nach 19 Uhr: Scheinwerfer erlöschen, Kameras werden weggeräumt, ein Techniker rollt Kabel ein. «C’est bon.» Die Sendung «Autrement dit» zum Thema «L’identité suisse» ist nach drei langen Stunden zu Ende gedreht.

Ganz am Schluss der Diskussionsrunde ist Laurent Nicolet doch noch eine Pointe gelungen. Er hat ein zerknittertes Kuvert aus der Hosentasche geklaubt und es Nelly Wenger überreicht: «Ich habe im Kollegenkreis für die Expo gesammelt. Aber machen Sie sich keine Hoffnungen, Noten sind keine dabei.»

Die Beschenkte hat gelächelt, mehr höflich als erfreut: «Merci, Monsieur. Wir werden es sinnvoll einsetzen.» Zwei Minuten vorher hatte Nelly Wenger den welschen Komiker noch charmant abserviert. «Die Expo.02 wird uns ermöglichen, Dinge zu sagen, die man sonst in diesem Land vielleicht nicht sagt», erklärte sie, und Nicolet fiel ihr ins Wort: «Finden Sie das nicht etwas teuer, 1,4 Milliarden Franken für ein paar Sätze?» – «Wir hatten 38 Jahre lang keine Landesausstellung mehr», antwortete Nelly Wenger. «Haben Sie diesen Betrag schon einmal durch 38 dividiert?»

Nelly Wenger, geborene Ohayon, Französin mit jüdischen Wurzeln. Aufgewachsen in Marokko, seit 28 Jahren in der Schweiz, verheiratet mit einem Schweizer, eingebürgert. Ingenieurin mit einem Diplom der ETH Lausanne. Generaldirektorin der Expo.02 und somit kraft ihres Amtes erste Wahl, wenn eine Fachfrau zum Thema Schweiz gesucht wird.

«Mich stört, dass man in diesem Land mit dem zufrieden ist, was man hat», sagt sie in der Diskussion. «Uns fehlt der Traum, das Projekt, die Vision. Die Expo.02 wird eine Art Plattform sein, die uns erlaubt, Wünsche und Träume zu äussern. Aber Wunder bewirken kann sie nicht.» Ein paar Tage zuvor hatte der Nationalrat einem weiteren, umstrittenen Kredit für die Expo.02 deutlich zugestimmt. Auf den Bildern in den Zeitungen sah man Nelly Wenger, wie sie in der Wandelhalle auf das Verdikt wartete. Angespannt und nervös. Jetzt, mit 122 Ja-Stimmen im Rücken, lässt es sich wieder unbeschwerter erzählen und philosophieren.

Sie sei tatsächlich nervös gewesen, sagt die Generaldirektorin: «Ich hatte keine Panik, aber schon etwas Angst.» Angst, dass im letzten Augenblick ein Projekt scheitern könnte, von dem sie selber sagt, dass es «unserem Ðesprit suisse? manchmal etwas Gewalt antut»: «In der Schweiz liebt man kleine Dinge, und die Expo ist sehr gross. Man liebt Dinge, die für die Ewigkeit gemacht sind, und die Expo ist vergänglich. Und man weiss, dass die Expo uns einen Spiegel vorhalten wird, aber wir Schweizer schauen nicht gern in den Spiegel.»

Bahnhof Biel, Dienstag, 8.30 Uhr. Expo-Betriebsdirektor Frédéric Hohl wartet am Perron auf seine Chefin. Diese erscheint wie gewohnt ganz in Schwarz, mit einem kleinen violetten Koffer voller Akten und Pressesprecher Christophe Hans im Schlepptau. Im Zug von Lausanne nach Biel hat sie bereits ein Interview für das welsche Radio gegeben.

Absolute Perfektionistin
Eine «kurze» Sitzung mit Fernsehleuten nach der Aufzeichnung von «Autrement dit» in Genf habe dann doch bis 21 Uhr gedauert, erzählt sie gut gelaunt. Danach, zu Hause in St-Sulpice VD, habe sie noch «das Übliche» erledigt: Telefonate mit einigen Expo-Direktoren über anstehende Probleme, Korrespondenz, Aktenstudium. Ins Bett gekommen ist sie «irgendwann nach Mitternacht, c’est normal».

Arteplage Biel, kurz vor 9 Uhr. Die Verwaltung der Arteplage ist spartanisch untergebracht, in einer langen Reihe von aufeinander geschichteten Baucontainern. Vom Sitzungszimmer des «Centre de Conduite d’Arteplage», des eigentlichen Kommandozentrums im ersten Stock, sieht man auf eine Baustelle: Das Gebäude für die Theatergruppe Mummenschanz ist fast fertig. Arbeiter montieren in 20 Meter Höhe Dachplatten für eine Freiluftbühne.

Nelly Wenger und Frédéric Hohl werden erwartet. Auf dem langen Tisch stehen Namensschilder, Nervosität liegt in der Luft: Wenn Madame la Directrice kommt, geht der Puls etwas schneller. Man weiss, dass sie äusserst charmant sein kann. Man weiss, dass sie lobt, wenn sie mit etwas zufrieden ist. Aber man weiss auch, dass perfekt sein muss, was ihrem Urteil standhalten soll. Wenger und Hohl wollen sich heute einen Eindruck verschaffen, wie gut die Kadermitglieder der einzelnen Arteplages auf Notfälle und Unvorhergesehenes vorbereitet sind. Die denkbaren Notfälle, exakt 123, sind in einem dicken Ordner beschrieben, eingeteilt in die Kategorien Grün, Orange und Rot. Ein Kind, das seine Eltern verloren hat, ist ein «grüner Fall». Bei Demonstrationen, Anschlägen oder grossen Unfällen gilt Alarmstufe Rot.

Die Fälle, die die Arteplage-Kader heute zu bewältigen haben, liegen irgendwo dazwischen: Man schreibt übungshalber den 24. Mai. Auf der Arteplage Biel rechnet man mit 15000 Menschen. Nun hat ein Wirt bei seinem Restaurant einen äusserst unangenehmen Geruch festgestellt. Und einer Gruppe von jungen Musikern, die am Nachmittag auftreten sollten, sind über Nacht die Instrumente gestohlen worden. Wie reagieren? Wen informieren? «Spielen Sie die Übung durch, als ob wir gar nicht da wären», fordert Frédéric Hohl die Runde auf.

Mit dem Journalisten hat Wengers Pressesprecher Christophe Hans Stillschweigen über Details vereinbart: «Sie dürfen dabei sein, aber nichts über die Übung schreiben.» Dann halt über die Patronne. Sie ist sehr wohl da, und obschon sie fast ein wenig versteckt am Tischende sitzt, ist sie der Mittelpunkt. Richtet Übungsleiter Franklin Niedrig eine Frage an jemanden aus der Runde, geht die Antwort beinahe automatisch an Wenger. Erläutert jemand, welche Massnahmen er zur Lösung des Problems getroffen hat, so bewegen sich die Augen unweigerlich immer wieder zum Tischende. Und ist jemand unsicher, so meidet er den Blick der Chefin.

Keine Chance: Nelly Wenger registriert alles. Sie fragt nach, wenn jemand in seinen Aussagen unklar bleibt, sie kritisiert, sie doziert: «Es muss allen an diesem Tisch klar sein, welches ihre Kompetenzen sind. Ich will, dass jeder und jede genau weiss, für welche Notfälle die Leitung der Arteplage und für welche Fälle die Expo-Leitung zuständig ist.» Ihr Zeigefinger unterstreicht jedes Wort einzeln, ihr Ton ist bestimmt, aber freundlich: «Sie haben noch viel Arbeit vor sich. Wir kommen nochmals in einem Monat, dann aber mit schwierigeren Fällen.» Als sich Wenger und Hohl nach einer Stunde verabschieden, geht ein Aufatmen durch den Raum.

Krisenmanagerin
Nelly Wenger hat in ihren drei Jahren bei der Expo mehr als nur eine Notfallübung durchgespielt: «Ich habe gelernt, mit Krisen umzugehen», sagt sie. «An einem Tag gewinnt man, an einem andern verliert man. Mittlerweile kann ich Siege und Niederlagen etwas auf Distanz halten.» Wenger hat Finanznöte erlebt, musste sich mit defekten Pfählen für die Arteplage-Plattformen herumschlagen und kämpfte mit Baufirmen um Entschädigungen wegen Terminproblemen. Und sie putschte, noch als technische Direktorin zusammen mit dem künstlerischen Direktor Martin Heller, gegen die eigene Chefin.

«Wir mussten damals etwas unternehmen», sagt sie heute. «Wir mussten Verträge über mehrere hundert Millionen Franken unterschreiben, aber das Geld war nicht vorhanden. Wir haben Jacqueline Fendt aufgefordert, den Bundesrat und das Comité stratégique darüber zu informieren, aber sie wollte nicht.» Persönlich habe es nie ein Problem gegeben zwischen ihr und Fendt, sagt Wenger. «Wir hatten noch längere Zeit Kontakt via SMS. Und sie ist selbstverständlich zur Eröffnungsfeier eingeladen.» Nur zugesagt habe die Ex-«Madame Expo» noch nicht.

Der Empfang in Murten ist unfreundlich. «Hier wird nicht parkiert», raunzt ein Mann Frédéric Hohl an, als dieser seiner Chefin en passant den Stand der Bauarbeiten bei der «Expoagricole», der Ausstellung des Bauernverbands, zeigen will. Also fährt man weiter zum Hauptquartier der Murtner Arteplage in einem alten Fabrikgebäude.

«Würde ich noch einmal eine Expo organisieren, würde ich das Konzept von Murten übernehmen», erklärt die Generaldirektorin, während sie immer wieder vom Autofenster aus Baustellen begutachtet und mit einem zufriedenen «ça avance» kommentiert. «Murten ist die einfachste Arteplage, weil die Ausstellungen über die ganze Stadt verteilt sind. So konnten wir viel flexibler auf Zusagen und Absagen für bestimmte Projekte reagieren. Wenn auf einer der anderen Arteplages ein Projekt gestrichen wurde, mussten wir immer alles umstellen, um den leeren Platz zu füllen.»

Expo.02-Patisserie
Nelly Wenger mag die Arteplage Murten. Die Unterstellung, Murten sei ihre «Arteplage préféré», ihre bevorzugte Arteplage, weist sie aber umgehend und vehement von sich: «Tous les arteplages sont mes arteplages préférés.» Und trotzdem: Im Murtner Hauptquartier ist die Begrüssung herzlicher und die Atmosphäre entspannter als in Biel. «Bonjour, Madame. Schön, dass Sie wieder einmal bei uns sind», begrüsst Arteplage-Direktor Hans Flückiger Nelly Wenger, und der Gruss wiederholt sich auf dem Gang durch das lang gezogene Büro. In Murten ist man nicht nervös, wenn die Patronne auftaucht.

Die Aufforderung von Frédéric Hohl, eine ganz gewöhnliche Morgensitzung durchzuspielen, wie sie während der Expo täglich stattfinden wird, läuft entsprechend rund: Der Verantwortliche für Events berichtet, dass er den Auftrag für die Lieferung von Lautsprecheranlagen ausgeschrieben hat; die Mediensprecherin hat für einmal keine besonderen Ereignisse zu melden, und der Sicherheitschef orientiert über den Stand der Arbeiten in seinem Bereich. Alles ist unter Kontrolle und die Generaldirektorin entsprechend zufrieden. Bei der anschliessenden Notfallübung – mitten in Murten ist ein Lastwagen ausgebrannt, der die Arteplage-Restaurants mit Lebensmitteln beliefern sollte – kritisiert sie nur Details.

Nur einmal wird die Patronne laut. In der Kaffeepause bringt eine Mitarbeiterin das Protokoll einer Sitzung. «Aber das darf doch nicht wahr sein!», ruft Wenger noch lesend aus. Und dann zieht sie vom Leder: über eine Projektänderung in einer Ausstellung, die nicht den Verträgen entspricht. Über ihre Mitarbeiter, die diese Änderung genehmigt haben. Und über dieselben Mitarbeiter, die ihr nichts davon gesagt haben: «Diese Herren hatten nicht einmal den Mut, mir davon zu erzählen. Unglaublich!»

Beim kurzen Besichtigungstermin nach dem Mittagessen am Hafen von Murten ist der Ärger längst wieder vergessen. Nelly Wenger schwärmt gerade vom Monolithen, den Stararchitekt Jean Nouvel in den See baute, als sie erkannt wird. Ein älteres Ehepaar geht auf sie zu und schüttelt ihr die Hand: «Viel Glück, Madame. Bald geht es los.» Nelly Wenger strahlt. Später wird sie erzählen, wie wichtig ihr solche Begegnungen sind: «Dabei höre ich sehr viel darüber, was das Publikum wünscht.» Etwa von der Dame, die ihr erzählt hat, wie ihr von der Expo 64 vor allem die gute Patisserie in Erinnerung geblieben ist. Jetzt gibt es Expo.02-Patisserie. Die Patronne hat es veranlasst.

Im Sitzungszimmer in der Baubaracke in Neuenburg herrscht stickige Luft. 17 Personen sitzen um den langen Tisch, und die Notfallübung harzt. Laut Übungsaufgabe haben sich nach einer Panne im Lüftungssystem 50 Besucherinnen und Besucher über tränende Augen beklagt. Ausserdem ist bei einem Ausstellungsstand ein Strukturelement gebrochen und hat grössere Schäden verursacht.

Viele gute Worte
Einige der künftigen Verantwortlichen am Tisch haben ihren zweiten Arbeitstag. Sie tun sich schwer mit der Aufgabe. Schliesslich verfügt Frédéric Hohl, dass erst einmal die Situation analysiert werde. Er nimmt Nelly Wenger am Ärmel, winkt der Fotografin und macht sich auf den Weg: «Gehen wir doch in der Zwischenzeit einmal das Riesenrad anschauen.» Was sie dabei als Erstes sieht, gefällt Nelly Wenger gar nicht: Der offizielle Expo-Schriftzug am Riesenrad ist blau statt rot. «Das wird noch geändert», verfügt die Generaldirektorin. Davon lässt sie auch dann nicht ab, als der Betreiber des Riesenrads zu ihren Ehren innert Minuten eine Flasche Champagner organisiert. «So geht das nicht», insistiert sie höflich, und der Mann weiss, was er zu tun hat.

Überhaupt ist das Riesenrad der Generaldirektorin erst einmal suspekt. Nur mit beharrlichem Zureden lässt sie sich zu einem Fototermin in zehn Meter Höhe bewegen, und noch mehr gute Worte braucht Frédéric Hohl, um seine Chefin gar zu einer ganzen Runde zu überzeugen. Oben angelangt, findet diese die Fahrt zwar immer noch «furchterregend, absolut furchterregend», aber sie sieht schon etwas entspannter aus. Und erzählt plötzlich vom Licht, das in Neuenburg so einmalig sei, und vom weiten Blick in Yverdon. Und wie überhaupt jede Arteplage ihren ganz speziellen Charakter habe. Und wie sehr das auch nötig sei: «Schliesslich kommt jeder zweite Bewohner und jede zweite Bewohnerin dieses Landes mindestens einmal an die Expo. Da muss es für jeden etwas geben.»

Manchmal klingen ihre Sätze, als ob sie schon in Hunderten von Interviews gesagt worden wären. Sätze wie: «Für mich ist wichtig, dass die Menschen zufrieden aus der Expo hinausgehen. Dass sie andere Menschen kennen gelernt haben und emotional berührt worden sind.» Oder: «Mein Traum ist, dass die Expo zeigt, dass man gleichzeitig hier verwurzelt und doch weltoffen sein kann.»

Die Arteplage Yverdon, 16.30 Uhr. Wenger und Hohl haben beim Eingang erst einmal Ärger: Der Sicherheitsmann lässt sich nicht davon überzeugen, die Generaldirektorin ohne Badge einzulassen. Auch dass Betriebsdirektor Hohl ein entsprechendes Abzeichen mit sich trägt, vermag ihn nicht umzustimmen. Wenger regt sich nochmals auf an diesem Tag. «So geht das einfach nicht», erklärt sie Arteplage-Direktor Noël Schneider. «Die sind unfreundlich und inkompetent. Da muss sich etwas ändern, und zwar bald.»

Die Sicherheitsübung in Yverdon ist kurz, die Tour durch Baucontainer und stickige Sitzungszimmer hat bei Wenger und Hohl Spuren hinterlassen. Nelly Wenger wirkt müde, während sich die Verantwortlichen am Tisch mit der Frage befassen, wie man eine Bar betreibt, in der über Nacht ein defektes Tiefkühlaggregat sämtliche Flaschen zum Platzen gebracht hat. Draussen ist die Generaldirektorin wieder in ihrem Element. Sie macht einen Kontrollrundgang über staubige Wege und erklärt Arteplage-Direktor Schneider, was noch alles zu tun ist. Beim letzten Besuch in Yverdon hatte sie an einer Wand Fugen entdeckt, die schlecht verarbeitet waren. Das Resultat der Ausbesserungsarbeiten befriedigt sie noch immer nicht: «Das ist immer noch superhässlich. Das könnte ja mein Sohn besser.»

Minutiöse Kontrollen
Während Schneider noch zu erklären versucht, hat die Chefin bereits ein weiteres Detail entdeckt, ein schmutziges Kunststoffdach: «Das muss noch gereinigt werden.» Auch die Blumenmuster auf den weissen Dächern von einigen Pavillons gefallen ihr ganz und gar nicht: «Das sieht doch mehr nach Dreck als nach Blumen aus. Das muss doch weiss sein.» Der Arteplage-Direktor verspricht, dass man eine Lösung finden wird.

«Wir sind hier in der Schweiz», erklärt Nelly Wenger, angesprochen auf ihre minutiösen Kontrollen. «Alles, was nicht absolut perfekt ist, wird man gegen uns verwenden. Deshalb müssen alle Details stimmen. Sonst hätten wir gleich etwas Billigeres aufstellen können.»

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