Architekt, Chemiker, Banker, Taxifahrer? Vitus schüttelt den Kopf. Erst als sein Grossvater ihn fragt, ob er Pilot werden möchte, strahlt der Zwölfjährige.

Das ist die Fiktion. Der Grossvater, im Film «Vitus» verkörpert von Bruno Ganz, möchte dem Wunderkind zu einer «normalen» Kindheit verhelfen. Die Realität sieht anders aus. Der Darsteller von Vitus, Teo Gheorghiu, hat sich nie etwas anderes als ein Künstlerleben gewünscht.

«Ein Leben ohne Musik ist für mich unvorstellbar», sagt der heute 24-Jährige. «Musik ist seit 20 Jahren der stabilste und vertrauteste Bestandteil meiner Existenz. Und sie ist das Medium, durch das ich mich am besten ausdrücken kann. Jeder Tag ohne Musik ist ein verschwendeter Tag.» Er zitiert E.T.A. Hoffmann: «Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an.»

Was er heute wäre, wenn nicht Musiker, kann Gheorghiu gar nicht sagen. «Das ist eine schwierige, fast abstrakte Frage für mich. Ich glaube, ich müsste als Velokurier arbeiten, bis ich eine Antwort auf diese Frage fände.»

Manuel kann nicht stillsitzen

Für die Eltern von Manuel* geht es noch überhaupt nicht darum, was ihr Junge einmal wird. Sie haben andere Sorgen. Aber auch in ihrem Leben spielt Musik eine entscheidende Rolle.

Manuel ist bald sieben, ein extrem lebendiger Junge. Als er in den Kindergarten kam, wies die Kindergartenlehrerin die Eltern schonend darauf hin, dass früher oder später die Begriffe ADHS und Ritalin in ihr Leben treten würden. Manuel kann nicht stillsitzen. Sein Leben ist geprägt von Tempo und Action. Wenn die Eltern das mitmachen, ist alles gut.

Bis eine Therapeutin fand: «Sie können doch nicht Ihr ganzes Leben auf Manuel ausrichten!» Spätestens in der Schule werde der Bub lernen müssen stillzusitzen. Es sei wichtig, dass Manuel die Erfahrung mache, dass auch dann Spannendes in seinem Leben passieren könne, wenn er sitzt.

«Musik kann an so vielen Stellen einer Biografie Gutes bewirken, helfen, weiterbringen.»

 

Stefanie Stadler Elmer, Pädagogin

Die Eltern taten das Richtige: Sie kauften Manuel ein Schlagzeug. Seit einem Jahr nun trommelt er wie ein Grosser – Volldampf, wie es zu seinem Leben passt. Er hat mit knapp sieben einen riesigen Spotify-Ordner, der iPod ist sein Ein und Alles.

«Wir haben durchaus auch Spielsachen», sagt Manuels Mutter. «Aber eher, weil das die anderen Kinder auch haben. Mit Playmobil spielt Manuel kaum.» Aber dafür mit Queen: «We Will Rock You» kann er schon lange. Und wenn sein Vater im Tonstudio am Keyboard steht und an Techno-Tracks bastelt, setzt sich Manuel ans Schlagzeug und spielt mit.

Stefanie Stadler Elmer weiss, dass beide Geschichten, die von Theo Gheorghiu und die von Manuel, Erfolgsgeschichten sind. Sie leitet die Forschung Fachdidaktik der Künste an der Pädagogischen Hochschule Schwyz. Sie weiss auch, dass es zu kurz greift, wenn Eltern denken, Musikalität sei ein Garant für spätere Intelligenz und damit für Erfolg. «Musik macht per se nicht klug», sagt die Forscherin und warnt vor simplen Erklärungsmustern. Die Frage sei auch nicht besonders wichtig, weil Musik so viel kann. «Sie kann an so vielen Stellen einer Biografie Gutes bewirken, helfen, weiterbringen.» Das ist ihrer Meinung nach viel wesentlicher für einen jungen Menschen.

Niemand ist unmusikalisch

Was aber, wenn sich Eltern für unmusikalisch halten und deshalb meinen, sie könnten den Kindern in dieser Hinsicht nichts mit auf den Weg geben? «So was glaube ich grundsätzlich nicht», sagt Stadler Elmer. Zum einen, weil es ganz verschiedene Arten von Musikalität gibt: «Es gibt Leute, die nicht gut singen, dafür aber komponieren können. Und es gibt Leute, die nicht hören, ob ein Ton zu hoch ist oder zu tief, die aber ein hervorragendes Rhythmusgefühl haben.»

Zum andern ist Stadler Elmer überzeugt, dass alle ein Gespür für Musik haben. So können beispielsweise Säuglinge ihre Stimme an den Tonfall ihrer Umgebung anpassen. Und: «Bereits bei einem einjährigen Kind kann man klar erkennen, aus welchem Kulturkreis es stammt – an der Art, wie es Laute artikuliert.»

Für Kleinkinder, so Stadler Elmer, sei Singen einfacher als Sprechen. In den ersten fünf Lebensjahren entscheide sich unglaublich viel. «Gerade bei kleinen Kindern müsste Musik einen viel höheren Stellenwert bekommen. Hier verpasst die Frühförderung eine grosse Chance.» Und das nicht nur, weil mit sinnvoller musikalischer Frühförderung so manche spätere logopädische Massnahme überflüssig werde, da Lispeln oder Stottern nur durch Singen gemildert werden könne. Sondern auch, weil Musik einen unglaublichen integrativen Einfluss hat. Das Gefühl der Dazugehörigkeit definiert sich oft über gemeinsame Lieder. Wer mit dem «Puurebüebli» aufgewachsen ist, kann die Melodie ein Leben lang. Wer das Abc als Lied gelernt hat, summt es auch als Erwachsener, wenn er im Wörterbuch nachschlägt.

Süchtig nach Musik

Chiara Enderle hatte «keine andere Wahl» als ein Leben voller Musik. Die 24-Jährige ist Tochter des ersten Geigers und der Bratschistin des bekannten Carmina-Quartetts. «Das soll nicht heissen, meine Eltern hätten in irgendeiner Weise Druck ausgeübt. Ich kann mir ein Leben ohne Musik einfach gar nicht vorstellen. Musik ist meine Leidenschaft, man könnte fast sagen, ich sei süchtig. Dieser Flow, wenn man auf der Bühne ist und an nichts anderes mehr denkt, das ist einfach unglaublich schön», sagt die professionelle Cellistin.

Von klein auf nahmen die Eltern sie mit auf Tournee. Inzwischen hat sie eine hochgelobte CD mit Musik des schweizerisch-amerikanischen Komponisten Ernest Bloch aufgenommen. Im August wird sie am Lucerne Festival auftreten. «Für mich ist es, als hätte ich durch die Musik eine Sprache mehr: Ich kann Emotionen ausdrücken, für die ich gar keine Worte habe.»

Chiara Enderle

Chiara Enderle, Cellistin

«Mit Musik kann ich Emotionen ausdrücken, für die ich gar keine Worte habe.» – Cellistin Chiara Enderle.

Quelle: PD (Pressedienst)

Enderle tritt nicht nur als Solistin auf, sondern auch als Kammermusikerin oder im Tonhalle-Orchester. «Ich mache oft mit Leuten Musik, die aus einer anderen Kultur kommen, mit denen ich vielleicht in gewissen Fragen uneins wäre. Aber wenn wir zusammen Musik machen, spielt das alles keine Rolle, wir haben eine eigene Art der Verständigung.»

Und was ist, wenn die junge Frau dereinst selber Kinder hat? Würde Chiara Enderle sie mit einem Musikinstrument in den Händen sehen wollen? «Ich würde ganz bestimmt keinen Druck auf sie ausüben und schon gar nicht auf die Idee kommen, eine Profikarriere zu forcieren. Wenn meine Kinder eine andere Leidenschaft haben, wird mir das auch recht sein. Aber ich finde es schlimm, wenn Kinder gar nicht die Möglichkeit erhalten, ein Instrument zu lernen und die Welt der Musik zu entdecken. Musik hat die Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen.»

Musikalische Frühförderung fördern

Aus genau diesem Grund ist es für die Entwicklungspsychologin Stefanie Stadler Elmer ein Rätsel, warum die Schulen nicht von Anfang an viel mehr Wert auf Musik legen. «Das ist wohl ein politischer Entscheid.» Doch wenn Musikstunden eingespart werden, müsse man halt Rhythmusspiele oder gemeinsames Singen in andere Fächer integrieren.

Stadler Elmer sagt: «Wir müssen künftigen Lehrpersonen während der Ausbildung ein Sensorium dafür mitgeben, wie elementar Musik für Kinder ist.» Auch an die Eltern appelliert sie: «Man sollte nicht versuchen, ein Wunderkind heranzuzüchten. Aber musikalische Frühförderung ist absolut sinnvoll.»

Musik ist nicht nur für die Entwicklung und die Sozialisierung hilfreich – sie kann auch eine heilende Wirkung entfalten. Der Bündner Musiker Linard Bardill gibt jedes Jahr als Botschafter der Kinderhilfe Sternschnuppe rund 30 sogenannte Bettkanten-Konzerte. «Einmal hat mich ein unheilbar krankes Mädchen vor einem Konzert um ein Lied gebeten», erzählt der 60-jährige «Liederer». «Daraus wurde ein einstündiges Privatkonzert. Das eigentliche Konzert begann mit massiver Verspätung.»

Später, so Bardill, sei ihm dieses Mädchen im Traum erschienen und habe ihn gebeten, weiterhin für kranke Kinder zu singen. «Da brechen manchmal Dämme – Kinderaugen leuchten, eine Mutter beginnt zu weinen», sagt er. Und: «Es gibt kein reguläres Konzert, an dem nicht mindestens eine Person aus dem Publikum zu mir kommt und erzählt, sie habe mich schon vor Jahren einmal live gesehen, von einem Kinderspitalbett aus.»

* Name geändert