Jeden Abend das gleiche Theater: Der vierjährige Leon will nicht mehr in seinem Bett schlafen. Er trödelt beim Anziehen des Pyjamas und findet immer neue Gründe, warum er noch nicht zu Bett gehen kann. Gelingt es dann endlich, sich nach der Gutenachtgeschichte aus dem Zimmer zu schleichen, schreit Leon los: «Unter meinem Bett ist ein Drache, der mich fressen will!» Alle Beruhigungsversuche helfen nichts. Er ruft, bis die Eltern entnervt aufgeben und ihm erlauben, in ihrem Zimmer zu schlafen.

Eltern sind bei solchen Szenen oft ratlos und überfordert, weil sie sich nicht erklären können, woher diese Angst kommt. Haben sie etwas falsch gemacht?

 

Die blosse Beteuerung «Du musst doch keine Angst haben» ist kontraproduktiv.

Keine Sorge, dem ist in den meisten Fällen nicht so. Denn Ängste gibt es in jeder Entwicklungsphase. Sie gehören zur seelischen Grundausstattung des Menschen, um ihn vor Gefahren zu schützen. Für Kinder ist die Angst Teil einer gesunden Entwicklung: Sie fühlen sich stark, wenn sie die Angst überwunden haben, und entwickeln immer mehr Sicherheit und Mut für neue Herausforderungen.

Kleine Kinder werden in den ersten Lebensjahren immer wieder mit für sie bedrohlichen Situationen konfrontiert. Je nach Persönlichkeit, Sensibilität und Fantasie äussern sich solche Ängste unterschiedlich heftig. Tröstlich ist, dass entwicklungsbedingte Ängste wie etwa die Furcht vor Ungeheuern sich in der Regel abschwächen oder nach und nach verschwinden, wenn Eltern auf die Symbole, die magischen Bilder und Ängste ihrer Jüngsten eingehen.

Wolken regnen, weil sie traurig sind

Gemäss Jean Piaget, dem Pionier der kognitiven Entwicklungspsychologie, bildet sich in den ersten fünf Lebensjahren parallel zum realistischen das magische Denken aus. In dieser «magischen» Phase sind die Kinder der Überzeugung, dass sie mit ihren Gedanken und Handlungen Dinge beeinflussen und etwas erzeugen können. Aber auch andere Kinder, Erwachsene, Feen, Hexen und eben auch Drachen können auf gleiche Weise etwas auslösen. Das führt zu Ängsten und Befürchtungen, die besonders häufig beim Einschlafen auftauchen.

Gleichzeitig erklärt das Kind die Welt in dieser Phase mit einer in sich stimmigen magischen Logik, weil das realistische Denken noch nicht weit genug entwickelt ist. Zwei Beispiele: Wolken regnen, weil sie traurig sind. Der Ball liegt unter dem Sofa, weil er schlafen will. Die Erwachsenen sehen darin entweder eine überbordende Fantasie oder ein Faible für Lügengeschichten.

Wie Leon, der der überzeugenden Ansicht ist, dass unter seinem Bett ein Drache wohnt. Doch wie bringt man ihn wieder weg von dort? Am ehesten verschwindet das Ungeheuer, wenn Leon das Gefühl hat, dass ihm die Erwachsenen zuhören und ihn mit seiner Furcht ernst nehmen. Kuscheln und Trösten wirken beruhigend. Hingegen bringt der Vorschlag der Eltern, den Drachen selber zu vertreiben, keine Entschärfung. Mitleid ist ebenfalls nicht angezeigt. Und auch die blosse Beteuerung «Du musst doch keine Angst haben» ist kontraproduktiv.

Checkliste «Entwicklungsphasen Kleinkinder» bei Guider

Ab wann beginnen Kleinkinder über Ursachen und Folgen nachzudenken? In welchem Alter werden Puzzles und mechanische Gegenstände für sie interessant? Beobachter-Abonnenten erhalten in der Checkliste «Stufen der geistig-kognitiven Entwicklung der Kleinkinder» Anhaltspunkte für die Förderung ihrer Sprösslinge.

Den Drachen besiegen

«Ein wichtiger Schritt in der Angstbewältigung besteht darin, die Kontrolle über die Angst zu gewinnen. Eltern können mit ihrem Kind dem Angstauslöser einen Ort und eine Zeit zuweisen, so dass sich ihr Kind als ‹Chef› der Angst sehen kann», so die Psychotherapeuten Susy Signer-Fischer und Kurt Albermann. Im Beobachter-Ratgeberbuch «Wenn Kinder aus der Reihe tanzen» beschreiben sie verschiedene Angstformen und zeigen Möglichkeiten auf, wie man Kindern und Jugendlichen in solchen Situationen helfen kann.

Sind die Ängste nicht unter Kontrolle, können sie leicht aus dem Ruder laufen und eine Eigendynamik entwickeln. Diese ungesunde Angst unterscheidet sich von der gesunden Angst darin, dass sie die Lebensqualität einschränkt und das Handeln, das Wohlbefinden und die Entwicklung des Kindes hemmt. In einem solchen Fall ist es angezeigt, sich näher mit ihr zu befassen – und auch sinnvoll, professionelle Unterstützung bei psychotherapeutischen Fachleuten zu holen.

Und wie wird nun Leon zum «Chef» seiner Angst? Die Eltern tun gut daran, ihn zu ermutigen, sich konstruktiv an der Problemlösung zu beteiligen. Das gelingt etwa durch Fragen wie: «Gibt es etwas, was den Drachen vertreibt oder ihn davon abhält, unter das Bett zu kriechen?» Vielleicht weiss Leon, dass der Drache es nicht leiden kann, wenn der Stoffelefant Fridolin das Bett bewacht. Oder der Zauberstein vom Götti einen magischen Gürtel bildet, der das Ungeheuer fernhält.

Leon kennt seinen Drachen ganz genau und weiss, was ihn vertreibt. So entscheidet er sich für Fridolin, der ihn in der Nacht bewacht. Und tatsächlich schläft er nach der Gutenachtgeschichte ohne Angst ein. Problem gelöst – bis es sich der Drache möglicherweise im Keller gemütlich macht und der «Chef» erneut aktiv werden muss.

So helfen Sie Kindern aus der Angst
  • Stärken Sie das Kind, indem Sie es loben und ihm Aufmerksamkeit schenken, wenn es sich selbständig verhält.
  • Greifen Sie die Angst auf und ermuntern Sie das Kind, seine Angstgefühle zu beschreiben.
  • Positiv wirken auch kleine Rituale: Jedes Mal, wenn das Kind Angst hat, soll es in die Hand des Erwachsenen klatschen.
  • Auch Malübungen, Rollenspiele oder Entspannungsmethoden wie Yoga oder autogenes Training für Kinder sind einen Versuch wert.
  • Legen Sie mit dem Kind zusammen ein überprüfbares, konkretes, längerfristiges, grosses Ziel fest, das in kleinen Schritten zum Erfolg führt: etwa bei offener Tür im eigenen Bett schlafen, dann in Richtung des eigenen Zimmers vorrücken und schliesslich das Bett verschieben. Die Schritte können zuerst in der Vorstellung und dann im Rollenspiel geübt werden, bevor das Kind den ersten Schritt selber macht. Die Botschaft dabei lautet: «Ich traue dir zu, dass du das schaffst!»

Live-Talk mit Kinder- und Jugendpsychiater Dr. med. Kurt Albermann

Am 04. Dezember 2017 diskutierte Urs Gysling, Leiter des Beobachter-Buchverlags, mit Kinder- und Jugendpsychiater Dr. med. Kurt Albermann über psychische Entwicklungsstörungen bei Kinder und Jugendlichen.

Buchtipp
Motivierte Kinder
Motivierte Kinder