«Es geht gut ohne Geschwister»
Einzelkinder: alle verwöhnt, altklug und selbstsüchtig? Die Psychologin Brigitte Blöchlinger räumt mit Vorurteilen auf.
Beobachter: Sie haben ein Einzelkind. Warum?
Brigitte Blöchlinger: Weil ich erst mit 41 ein Kind bekommen habe. Zwei Jahre nach der Geburt bekam meine Tochter gesundheitliche Probleme, die mir dann die Unbeschwertheit für ein zweites Kind nahmen.
Beobachter: Wieso haben Sie es nicht schon früher probiert?
Blöchlinger: Aus einem einfachen Grund: Mir fehlte der richtige Partner.
Beobachter: Für nur ein Kind entschieden sich in den letzten Jahren immer mehr Eltern.
Blöchlinger: Seit etwa 10 Jahren liegt die Einzelkinder-Quote bei 20 Prozent. Ein Grund ist sicher, dass Frauen immer älter sind, wenn sie ihr erstes Kind bekommen. Wichtig ist aber auch die Scheidungsquote, die bei Eltern von Einzelkindern markant höher ist als bei jenen, die mehrere Kinder haben. Das ist auch logisch, denn eine Trennung mit nur einem Kind ist definitiv einfacher, nur schon aus finanzieller Sicht. Und auch die Betreuung, zum Beispiel das Organisieren von Krippen- oder Hortplatz, ist einfacher.
Beobachter: Ist es also purer Egoismus der Eltern, nur ein Kind zu haben? Weil man mehr Zeit für sich hat und die Karriere besser verfolgen kann?
Blöchlinger: Egoismus ist wohl das Hauptvorurteil. Studien zeigen aber, dass Einzelkind-Eltern ihr Kind und den Beruf gleichwertig empfinden. Sie stellen ihr Kind nicht so in den Mittelpunkt, wie man das erwarten würde. Das kann man als egoistisch bezeichnen, ich finde es aber eine gesunde Einstellung, wenn einem nicht nur sein Kind wichtig ist. Generell führt das zu einem erfüllteren Leben, und diese Zufriedenheit kommt wiederum dem Kind zugute.
Beobachter: Sind Sie auch schon mit der Aussage konfrontiert worden, nur ein Kind sei «unnatürlich»?
Blöchlinger: So platt noch nie, aber unterschwellig schon. Die Frage scheint harmlos: Wieso habt ihr nicht noch ein zweites Kind? Aber hinter dieser Frage stecken die Vorurteile, dass ein Einzelkind bemitleidenswert sei: das arme Kind, so ohne Geschwister.
Beobachter: Was sagen Sie dazu?
Blöchlinger: Wer das sagt, überschätzt den Einfluss von Geschwistern auf die Persönlichkeit eines Kindes. Es erstaunt vielleicht, aber mehrere Studien haben gezeigt, dass es Kindern auch ohne Geschwister gutgeht und sie sich ganz normal wie alle anderen entwickeln. Einzelkinder sind weder verwöhnter noch einsamer noch unangepasster, wie ihnen immer nachgesagt wird.
Beobachter: Es ist erstaunlich, wie diese Vorstellung überdauert, obwohl jedes fünfte Kind keine Geschwister hat.
Blöchlinger: Ja, der subtile Zwang, zwei Kinder zu haben, ist sehr stark. Und viele Paare haben nur deshalb zwei Kinder, weil sie befürchten, ein Einzelkind könne Schaden nehmen. Das finde ich heikel, denn es setzt die Eltern unter Druck.
Beobachter: Aber Kinder mit Geschwistern haben sicherlich eine andere Beziehung zu den Eltern als Einzelkinder, die nie um deren Aufmerksamkeit kämpfen müssen und deshalb vielleicht auch später nicht so konfliktfähig sind?
Blöchlinger: Ja, streiten lernen ist wirklich der Schwachpunkt bei Einzelkindern. Das heisst aber nicht automatisch, dass es gar nicht streiten lernt. Ein Kind kommt heute ja schon sehr früh mit anderen Kindern in Kontakt und erfährt bald Situationen, in denen es selber nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
Beobachter: Es gibt viele Studien, die die Vorurteile gegenüber Einzelkindern ausräumen, aber genauso viele, die die Wichtigkeit der Geschwisterbeziehung betonen.
Blöchlinger: In den 1980er Jahren gab es viel Forschung zur Geburtsrangfolge, der sogenannten «birth order». Den ältesten, mittleren und jüngsten Kindern wurden ohne empirische Belege bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass Geschwister den Charakter fast gar nicht prägen. Trotzdem hat sich diese Art der Zuschreibung gehalten, weil sie leicht verständlich ist, jeder sofort ein Beispiel kennt. Ausserdem haben viele, die Geschwister haben, das Gefühl, dass diese sie unglaublich stark geprägt haben. Die Beziehung zu den Eltern und der Eltern untereinander ist aber viel prägender.
Beobachter: Was war Ihre Motivation, ein Buch über Einzelkinder zu schreiben?
Blöchlinger: Ich habe die Vorurteile nach der Geburt meines Kindes bei mir selber entdeckt. Ich überlegte mir, ob mein Kind als Einzelkind vielleicht Schaden nehmen könnte und es nicht besser wäre, noch ein zweites zu haben. Gleichzeitig finde ich es unfair, ein Kind danach zu beurteilen, ob es Geschwister hat oder nicht. Da habe ich angefangen zu recherchieren.
Beobachter: Wollten Sie sich auch selber absichern, dass es in Ordnung ist, ein Einzelkind zu haben?
Blöchlinger: Ein Stück weit ja. Aber ich wollte auch wirklich wissen, was die Forschung sagt – und war selber überrascht, wie wenig Unterschiede zu Geschwisterkindern gefunden wurden.
Beobachter: Sie zählen in Ihrem Buch viele prominente Einzelkinder auf. Wieso? Es gibt vermutlich genauso viele Stars, die Geschwister haben?
Blöchlinger: Ich suchte nach erwachsenen Einzelkindern, von denen die meisten Leute eine Vorstellung haben, wie sie so sind, von Marilyn Monroe bis zu Stalin, und die ganz unterschiedliche Persönlichkeiten haben. So wollte ich aufzeigen, dass in der Gesellschaft Menschen, die eigentlich grundverschieden sind, alle über einen Leisten geschlagen werden. Einzelkinder sind viel vielfältiger, als man annimmt – das sollten die Prominenten veranschaulichen.
Brigitte Blöchlinger, 47, ist Psychologin und Germanistin. Sie arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in der Kommunikationsabteilung der Uni Zürich, ist verheiratet und Mutter einer sechsjährigen Tochter.
Weitere Infos
Buch: Brigitte Blöchlinger: «Lob des Einzelkindes. Das Ende aller Vorurteile»; Krüger, 2008, Fr. 28.90