Scheidungskinder haben ein Anrecht auf Alimente. Doch was, wenn der zahlungspflichtige Elternteil nicht zahlen kann? Für solche Fälle wurde 1980 die Alimentenbevorschussung zum Schutz des Kindes eingeführt: Die Behörde schiesst das Geld vor und versucht es beim Vater einzutreiben. Selbst dann, wenn die Chancen für das Inkasso gleich null sind oder der Schuldner im Ausland lebt, zahlt der Staat – in der Theorie.

Ganz anders sieht die Praxis aus: In den meisten Gemeinden werden die Kinderalimente nämlich nur dann bevorschusst, wenn Einkommen und Vermögen der Einelternfamilie – in der Regel ist das die Mutter mit dem Kind – bestimmte, niedrige Grenzen nicht übersteigen. In Adligenswil LU etwa, dem Wohnort der allein erziehenden Mutter Ursina Schmid, ist die Höhe des steuerbaren Einkommens ausschlaggebend: Beträgt es mehr als 43'000 Franken (33'000 Franken plus 10'000 Franken pro Kind), gibt es gar keine Vorschüsse. «Kein Problem», dachte die Alleinerziehende, denn sie erzielt ein Reineinkommen von 41'625 Franken. Rechnet man aber die im Jahr 2003 ausbezahlte Alimentenbevorschussung dazu, steigt ihr Einkommen auf 47'357 Franken. Folge: Die Adligenswiler Behörde strich die Bevorschussung für 2004 – und das Reineinkommen sank unter die festgelegte Grenze. 2005 gibts folglich wieder Geld von der Gemeinde – und so weiter.

Die allein erziehende Mutter beschwerte sich erfolglos beim kantonalen Sozialdepartement. Denn selbst die Gesetzesklausel, dass auch die tatsächlichen Verhältnisse statt jene des Vorjahres für die Berechnung berücksichtigt werden können, kam bei ihr nicht zum Tragen: «Die Abweichung müsste mehr als 15 Prozent des Reineinkommens betragen», sagt Liliana Paganini vom Adligenswiler Sozialamt.

Für Rose Nigg vom Schweizerischen Verband für Alimentenfachleute (SVA) ist das ein unhaltbarer Zustand: «In anderen Kantonen können für die Anspruchsberechtigung die bevorschussten Alimente vom Reineinkommen abgezogen werden, und so tritt die unbefriedigende Situation gar nicht ein.» Aber auch Kantone, die bisher anstandslos bezahlt haben, legen sich heute quer. So erhielt die Tessinerin Laura Codoni (Name von der Redaktion geändert) zu Weihnachten eine wenig frohe Botschaft: Ab Januar werden ihr die Alimentenvorschüsse gestrichen, weil sie diese schon länger als fünf Jahre bezieht.

Mit diesem neu eingeführten Zeitlimit will der Kanton Tessin jährlich zwei von zwölf Millionen Franken auf Kosten der Frauen sparen. Das treffe nur die Reichen, den Armen bleibe die Ergänzungsleistung für Tessiner Kinder, verharmlost der Staatsrat die radikale Sparmassnahme.

Plötzlich fehlen 1000 Franken
«Das ist ein Witz, weil viele Frauen auf das eine und auf das andere angewiesen sind. Meine Klientin, Signora Codoni, ist völlig verzweifelt. Ihr fehlen für ihre zwei Kinder Knall auf Fall 1000 Franken monatlich», erklärt die Luganeser Rechtsanwältin Rosemarie Weibel. Sie will wenigstens eine faire Anpassungsfrist erreichen.

Andernorts bekommen Alleinerziehende Probleme, sobald sie einen neuen Lebenspartner haben. So geschehen bei Sabina Bauert im Glarnerland. Sie näht im Stundenlohn Matratzen und kommt so – je nach Auftragslage – auf einen Monatslohn zwischen 1200 und 3000 Franken. Der Vater ihres Sohnes ist nicht in der Lage, Alimente zu zahlen. Als Sabina Bauert bei ihrer Wohngemeinde eine Bevorschussung beantragte, «war ich so ehrlich und habe gesagt, dass ich einen Freund habe». Daraufhin wurde sein Einkommen zu ihrem dazugeschlagen, «und man hat mir vorgerechnet, wie viel die Wohnung kosten darf, dass mir mein Freund Haushaltsgeld und ich ihm ein Kinderbetreuungsgeld zahlen müsse». Dann hätte sie auch noch jeden Monat mit dem Lohnausweis auf der Gemeinde vorbeikommen müssen, «damit man mir – im besten Fall – zwölf Franken auszahlt».

Tatsächlich erlaubt es das Gesetz einiger Kantone, das Einkommen des Konkubinatspartners bei der Berechnung der Bevorschussungsgrenze einzubeziehen. Jahrelang hat Felix Diener in Kirchberg SG «gegen die Willkür eines Gemeindeammanns», wie er sich ausdrückt, gekämpft. «Um Mietkosten zu sparen, zog ich mit meiner damaligen Freundin und deren Sohn in eine gemeinsame Wohnung.» Der leibliche Vater des Kindes hatte sich ins Ausland abgesetzt.

Widersprüchliches vom Bundesgericht
Die Gemeinde machte geltend, sie müsse keine Bevorschussung zahlen, weil 1999 die kantonalen Bestimmungen geändert worden seien. Demnach sei das Einkommen des «obhutsberechtigten Elternteils, des Konkubinatspartners und des Stiefelternteils» für die Unterstützungspflicht des Kindes anzurechnen – also liege das Einkommen von Diener und seiner Freundin über der Bevorschussungsgrenze.

«So nicht», sagten sich die beiden und zogen bis vor Bundesgericht, das aber gemäss der Juristenzeitschrift «Plädoyer» «den zweitgrössten Fehlentscheid des Jahres» fällte: Es kam zwar zum Schluss, der Konkubinatspartner sei vom Gesetz her – im Gegensatz zu Stiefeltern – nicht verpflichtet, für das Kind des Partners Unterhalt zu zahlen. Für die Bemessung einer Alimentenbevorschussung dürfe sein Einkommen aber mitberücksichtigt werden.

Ganz anders im Kanton Aargau, wo Margrit Bächtold (Name von der Redaktion geändert) mit ihren zwei Kindern lebt. Deren Vater hat sich nach Süditalien verdrückt. Die Wohngemeinde genehmigte die Bevorschussung der ausbleibenden Alimente, aber diese wurde unregelmässig ausgezahlt. «Manchmal musste ich gar auf die Gemeinde gehen, um das mir zustehende Geld abzuholen. Dabei bekam ich immer dumme Bemerkungen zu hören wie ‹Dieses Geld sehen wir sicher nie mehr›», erzählt Margrit Bächtold. 2004 kam dann die Mitteilung, es gebe per sofort keine Alimente mehr, weil der Stiefvater zu viel verdiene. «Komisch daran ist, dass wir seit acht Jahren immer gleich viel verdienen.» Margrit Bächtold schaltete den Beobachter ein. Daraufhin gab es plötzlich wieder Geld. Warum? Im Kanton Aargau gibt es keine gesetzliche Grundlage, um das Einkommen des Stiefvaters miteinzubeziehen.

Im Aargau entscheiden die Gemeinden
Nun soll das Gesetz geändert werden. Bis es so weit ist, hat der kantonale Sozialdienst in einem Kreisschreiben angeordnet, wie in diesen Fällen vorgegangen werden muss: Je nach Umfang der Leistungen des Stiefvaters an den Unterhalt des Kindes könne die Gemeinde selber entscheiden, ob sie die Alimente bevorschusst oder nicht. Wenn also der Stiefvater nicht zahlt, hilft die Gemeinde; wenn er freiwillig das Kind unterstützt, hilft sie nicht.

Wie diese Richtlinie in der Behördenpraxis gehandhabt werden dürfte, ahnt Anna Hausherr, die Zentralsekretärin des Schweizerischen Verbands allein erziehender Mütter und Väter: «Die Tendenz, Gesuche abzulehnen, nimmt allgemein in der Schweiz zu. Was den Gesuchstellern am Schluss oft nur noch bleibt, ist das unterste Auffangnetz, die Sozialhilfe.» Bereits steht hinter jedem dritten Sozialhilfedossier ein Kind oder ein Jugendlicher unter 18 Jahren. Und 19 Prozent der Alleinerziehenden sind Working Poor – Menschen, die trotz Vollzeitarbeit nicht genug für ihren Lebensunterhalt verdienen.

Sind die, die arbeiten, blöd?
Oft lohnt es sich für sie gar nicht, zu arbeiten. Wie bei Sabina Bauert: «Wenn ich mein Arbeitspensum reduziere oder gar nicht arbeite, muss die Gemeinde zahlen. Ich bin selber blöd, dass ich arbeite.» Tatsächlich: Die Studie «Existenzsicherung im Föderalismus» der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) belegt, dass Einelternfamilien in zehn Kantonshauptorten weniger Einkommen haben, wenn sie mehr verdienen. Beispielsweise fällt in Aarau die Bevorschussung der Kinderalimente von 700 Franken pro Monat dahin, wenn sich das Nettoeinkommen von 3100 Franken um 500 Franken erhöht.

Um solchen Ungereimtheiten wirkungsvoll zu begegnen und unter den Kantonen für gleich lange Spiesse zu sorgen, «braucht es eine Lösung, die auf Bundesebene geregelt und dem Sozialversicherungssystem angegliedert wird», sagt Anna Hausherr. Beim Bund werden Einheitslösungen diskutiert. Denn allen ist klar: Auch um dem Armutsrisiko zu entgehen, verzichten immer mehr Frauen auf Kinder. 1950 brachten Frauen durchschnittlich noch 2,4 Kinder zur Welt, im Jahr 2000 nur noch 1,4. Überalterung und Probleme für die AHV-Finanzierung sind die Folgen. Es wäre wohl gescheiter, das Kinderhaben nicht noch weiter zu verleiden.

Grosse Unterschiede

Die Alimentenbevorschussung wird je nach Gemeinde unterschiedlich geregelt. Mancherorts spielen die finanziellen Verhältnisse der Empfängerin keine Rolle, in anderen Gemeinden orientiert sich die Berechnung an den Ansätzen der Ergänzungsleistungen, der Höhe des steuerbaren Einkommens oder des Lohneinkommens.

Auch das Maximum des bevorschussten Betrags variiert. In 15 Kantonshauptorten entspricht er zum Beispiel der maximalen einfachen Waisenrente gemäss AHV-Gesetz; in anderen ist er weit niedriger: 400 Franken in Freiburg und Neuenburg, 535 Franken in Sitten. Unter 700 Franken liegt er auch in Chur, Genf, Solothurn und Zürich. Zum Vergleich: Ein Einzelkind «kostet» nach Schätzungen des Kantons Zürich je nach Alter 1820 bis 1980 Franken im Monat.