Ein Kind? Nein, das kam für Peter Sigerist nicht in Frage. Als politisch aktiver Achtundsechziger hatte er anderes im Sinn: Er kämpfte an der Basis als Gewerkschafter und später als rot-grüner Stadtparlamentarier in Bern für Veränderungen in der Gesellschaft – auch für die Emanzipation der Frau. «Selber ein Kind zu zeugen und damit die herrschenden bürgerlichen Familienstrukturen zu untermauern war für mich schlicht undenkbar», erinnert sich der heute 61-Jährige.

Doch gegen die Liebe ist man machtlos. Mit 45 funkte es zwischen Peter Sigerist und einer 18 Jahre jüngeren Frau. Und mit dem neuen Glück wuchs der Kinderwunsch. Nachdem er sich schliesslich zum Grossprojekt Kinder durchgerungen hatte, blieb er mit aller Konsequenz dabei: Der politische Workaholic gab Karriere und Erfolg für Sandkastenspiel, Windeln und Spucktuch auf. Er trat gar nach zehn Jahren aus dem Stadtparlament zurück und steht nun kurz vor der Frühpensionierung.

Ein wenig muss Peter Sigerist über sich selbst staunen: «Ja, ich habe mich schon gewandelt. Aber meine späte Vaterschaft hat für mich auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung: Ich will damit einen konkreten Beitrag zur Gleichstellung leisten, indem ich beweise, dass ein Mann volle Erziehungsverantwortung übernehmen und als Hausmann funktionieren kann.» Denn er wollte nie «bloss» Familienernährer seiner heute neun und elf Jahre alten Söhne sein. Keiner, der als Schönwettervater praktisch nur am Wochenende existiert.

Sigerist ist kein Einzelfall. Die meisten späten Väter wollen jede Minute mit ihren Kindern geniessen. Denn sie wissen, wie schnell die Zeit vergeht, und sie sind sich der Endlichkeit stärker bewusst als junge Väter. «Mit diesem Wissen widmen sie sich emotional sehr stark dem Kind», hat der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl festgestellt. Zugleich ängstigten sie sich aber auch mehr um die Kleinen, würden oft zu richtigen «Glucken».

Jedenfalls beobachtet Guggenbühl immer wieder, «dass die Kinder älterer Väter überversorgt werden. Kinder muss man aber auch mal allein lassen, ihnen erlauben, unbeaufsichtigt Risiken einzugehen. Kinder brauchen ihren Freiraum.»

Klaus Sorgo, 72, kann dem nur zustimmen: Er habe als später Vater lernen müssen, Distanz zu wahren, den Kindern Spielraum zuzugestehen «und nicht immer hinter ihnen her zu sein».

Für ihn hat sich das Leben als Vater total verändert. «Früher war der Beruf als Verkehrsplanungsingenieur mein Ein und Alles», erzählt Klaus Sorgo. Doch dann kam die Midlife-Crisis: Das kann doch nicht alles gewesen sein im Leben! Er suchte nach einer neuen Rolle, ging zu Pro Senectute in die Altershilfe, trennte sich von seiner Frau – die Ehe war kinderlos geblieben. Und er war bereit, sich auf eine neue Beziehung mit einer 20 Jahre jüngeren Psychotherapeutin einzulassen. Der Wunsch nach Kindern sei dann stark von ihm ausgegangen; denn eigentlich sei er schon immer ein Familienmensch gewesen. Heute sind seine Kinder 19 und 25 Jahre alt. Klaus Sorgo ist überzeugt: «Es war rückblickend das einzig Richtige, was wir tun konnten. Das Vatersein hat mir eine komplett neue Seite des Lebens gezeigt.»

«Es war das einzig Richtige. Das Vatersein hat mir eine komplett neue Seite des Lebens gezeigt»: Klaus Sorgo, 72, Vater von 19- und 25-Jährigen

Quelle: Andreas Eggenberger

Irgendwelche Schattenseiten? Sorgo überlegt eine Weile: «Ach ja – ich habe immer als geduldiger Mensch gegolten. Aber bei der Erziehung bin ich manchmal schon an Grenzen gestossen. Vielleicht gehen junge Väter gelassener mit eigenen Unvollkommenheiten um. Aber ich wollte mir besonders Mühe geben, wollte perfekt sein.» Vielleicht sei er zu stark auf die Vaterrolle fixiert gewesen, resümiert Klaus Sorgo.

Als sich Samuel Buser, 51, Pfarrer im Strafvollzug, mit der Frage «Wie wärs mit einem Kind?» konfrontiert sah, zweifelte er anfangs: «Habe ich noch die nötige Geduld? Bin ich nicht zu alt – vom Denken her? Kann ein 65-Jähriger ein Kind in der Pubertät noch verstehen? Was, wenn ich pflegebedürftig werde – oder schlimmer noch, wenn meine Frau mit dem Kind allein zurückbleibt?» Doch Samuel Buser liess sich vom Kinderwunsch seiner Frau anstecken. «Ausserdem hatten wir damals viele Todesfälle in der Familie und wollten etwas fürs Leben tun.»

Auch in seinem Fall hat sich das Leben mit dem heute knapp 18 Monate alten Matthias total verändert: Sein «Sinnhorizont» habe sich verschoben. «Ich war immer generell für die Menschen da, nun richtet sich der Fokus auf das Kind.» Alle Bedenken und Fragen sind damit freilich noch nicht vom Tisch.

«Ich war immer generell für die Menschen da, nun richtet sich der Fokus auf das Kind»: Samuel Buser, 51, Vater von Matthias, 18 Monate

Quelle: Andreas Eggenberger

Vor allem die Endlichkeit bleibt bei den späten Vätern ein zentrales Thema. Zwangsläufig werden deren Kinder früh mit körperlichen Gebrechen, Zerfall und Tod konfrontiert werden. Das sind Konflikte, denen sich Alfred Albertini von Beginn weg stellte, als er mit 70 nochmals Vater wurde. Dass er sich letztlich aber mehr freute als sorgte, hatte mit seiner Einstellung zu tun: «Ich fühle mich nicht so alt, wie ich bin, und verdränge dabei auch den Alterungsprozess», erzählte der frühere District-Manager eines amerikanischen Maschinenkonzerns 2007 dem Beobachter. Albertini starb im Februar 2010. Sein Sohn ist heute vier Jahre alt.

Allgemein gilt jedoch die späte Vaterschaft als eigentlicher Jungbrunnen. Der Altersforscher François Höpflinger spricht von einer soziokulturellen Verjüngung: «Wenn ein Mann über 60 mit seinem Nachwuchs die Kinderplätze ausprobiert, bleibt er geistig und emotional jünger als alle seine Kollegen, die bereits das Seniorenprogramm studieren.»

Dennoch kann ein alter Vater nicht leugnen, dass er viel weiter weg ist von der Welt eines Teenagers als ein 40-Jähriger. Zumal die Erziehung in der modernen, schnellen Welt kompliziert geworden ist: Früher gab es weder Computerspiel noch Gewaltvideos, kein Internet und keine Handys. Da entstehen zwangsläufig Reibungsflächen.

Kleinkinder sind nicht immer nur pflegeleichte Wonneproppen. Christoph Enzler, 53, kann davon ein Lied singen. Er fand sein grosses Glück erst in zweiter Ehe. Der erfolgreiche Elektroingenieur ist heute Vater dreier Kinder im Alter von 20, vier und zwei Jahren. Die Geburt des ersten Nachzüglers war schwer, dann folgten Jahre, «in denen uns das Kind kaum atmen liess – zu vital, stur und trotzig». Da sei man dann doch stark gefordert. Christoph Enzler spricht von einem «Lernfeld», wirkt dabei aber doch erstaunlich gelassen: «Ja, natürlich sind meine Frau und ich überglücklich – trotz allem.»

Nur mit seiner ersten Familie gebe es Probleme. Für sie sei die Nachricht, dass es bei ihm nochmals Nachwuchs gebe, ein Schock gewesen. «Zumal sich meine Tochter aus erster Ehe als Kind immer ein Geschwisterchen gewünscht hatte.» Nun kam es, aber zu spät und aus einer anderen Verbindung. Inzwischen hätten die Kinder jedoch ein gutes Verhältnis zueinander. Doch zu seiner ersten Frau riss der Beziehungsfaden.

Wie Enzler haben die meisten späten Väter bereits Kinder im Erwachsenenalter, sind in erster Ehe geschieden oder verwitwet und wieder verheiratet – mit einer markant jüngeren Frau, die den Wunsch nach Kindern verspürt. Die Männer sind von dieser Idee allerdings auch angetan: Viele wollen wieder gut oder gar besser machen, was sie in jungen Jahren bei ihren ersten Kindern verpassten. Damals waren sie beruflich belastet, hatten kaum Zeit für die Familie und wenig Geduld für Bauklötzchen- und Legospiele.

Im Alter nehmen sie dann plötzlich alle Unbill, die Kleinkinder nun mal mit sich bringen, auf sich: Schöppeln mitten in der Nacht, Gezänk und Gekreische am Tag, schmutzige Windeln wechseln. Lauter Dinge, um die sie sich bei ihren ersten Kindern nicht kümmern wollten. Das ist für diese nicht unproblematisch: Selber sind sie zu kurz gekommen, während die neuen Geschwister nun gehätschelt und verwöhnt werden. Ganz abgesehen davon, kommen die vergötterten Schreihälse mit Erbansprüchen zur Welt.

Das ist von Bedeutung, weil späte Väter meist gut betucht sind. Zwar hat sich die Zahl der Männer, die mit über 50 noch oder nochmals Vater werden, in den letzten 25 Jahren verdreifacht. Aber ein Massenphänomen ist es bei weitem nicht. «Es ist ein schichtspezifisches Privileg des akademisch gebildeten, erfolgreichen und gut verdienenden Mannes – der durch seinen Status Macht und Anziehung auf jüngere Frauen ausstrahlt», sagt François Höpflinger. Dass auch Peter Sigerist in diese Liga gehört, gibt dieser unumwunden zu: «Ich bringe als Gewerkschaftssekretär mit flexiblen Arbeitszeiten ganz andere Voraussetzungen mit als etwa ein Lastwagenchauffeur.» Solange sich die gesellschaftlichen Strukturen nicht änderten, «können sich nur Privilegierte eine gewollte späte Vaterschaft leisten».

Ivo Knill, Redaktor der «Männerzeitung», wurde mit 22 und 25 Jahren Vater – mitten im Studium. «Zuerst konnte ich die Erziehungsarbeit mit meiner ebenfalls noch studierenden Frau problemlos teilen», sagt er. Schwierig sei es erst mit dem Wechsel ins Erwerbsleben geworden: «Ich musste beruflich Gas geben. Gleichzeitig mit dem Lohn stiegen dann auch die Ausgaben, die Steuern, die Einzahlungen in die Pensionskasse.» Die Familien müssten entlastet werden. Sonst stehe man zwangsläufig im ständigen Konflikt zwischen Arbeit, Partnerin und Kindern. «Eine engagierte Vaterschaft ist deshalb aus rein ökonomischen Gründen schwierig», konstatiert er. Ältere Väter hätten hingegen Beruf und Karriere meist hinter sich und könnten ihrem Nachwuchs eine finanziell abgesicherte Zukunft bieten – und nochmals eine völlig neue Rolle ausprobieren. Der offizielle Fachbegriff amerikanischer Soziologen für diese Gruppe heisst «start-over dad», frei übersetzt: «noch mal durchstartender Vater».

Oder wollen die alternden Herren lediglich ihre intakte Männlichkeit beweisen? Hinter vorgehaltener Hand musste sich Christoph Enzler hin und wieder den Vorwurf gefallen lassen: «Dabei ging ich eigentlich davon aus, nicht mehr zeugungsfähig zu sein, weil in meiner ersten Ehe ein zweites Kind ausgeblieben war.»

Das Getuschel über Enzler kommt nicht von ungefähr. So spricht die Psychologin Anna Schoch in ihrem Buch «Perspektiven für erwachsene Männer» von purem Egoismus: «Wer glaubt, sich mit Kindern einen Jungbrunnen zu schaffen, betrügt nicht nur sich selber, sondern auch alle anderen Beteiligten.» Vor allem die viel jüngere Frau sei sich nicht bewusst, dass sie in der Blüte ihres Lebens einen Greis versorgen müsse.

Auch François Höpflinger sieht das Problem einer späten Vaterschaft vor allem beim Altersunterschied zwischen Mann und Frau. Das berge grosses Konfliktpotential: «Beide stehen biographisch an völlig unterschiedlichen Punkten.» Der Kinderwunsch gehe dann in der Regel nicht vom älteren Mann, sondern von der viel jüngeren Partnerin aus.

Was nun doch auch die Frage aufwirft, wie sich ein Kind wohl fühlt, wenn es später in der Schule wegen seines Grossvater-Papas gehänselt wird. «Aus Sicht des Kindes sind Eltern immer alt», meint Samuel Buser. Und Peter Sigerist hat seine Kinder direkt darauf angesprochen, ob es ihnen peinlich ist, einen alten Vater zu haben. «Für sie scheint das bisher kein Thema zu sein. Wohl auch deshalb nicht, weil ich körperlich fit bin und im Sport mit den Jungen durchaus mithalten kann.» Früher hörte er allerdings schon mal Mütter tuscheln: «Der Opa macht das aber gut mit den Kindern.» Das habe ihn jedoch mehr gefreut als gestört.

Klaus Sorgo hat eine ganz andere Erfahrung gemacht: «Mein Alter gab nicht zu reden, aber meine Rolle als Hausmann.» Die Gspäändli wunderten sich, dass der Vater die Hosen bügelt und die Mutter arbeiten geht.

Allan Guggenbühl ortet die Konflikte auch weniger in der eigentlichen Kindphase, sondern eher im Alter zwischen 20 und 30 Jahren: «Die Chancen, im Erwachsenenleben einen fitten Vater oder überhaupt noch einen Vater zu haben, sind gering. Gerade in der beruflichen Aufbauphase fehlt dann die Hintergrundunterstützung. Schlimmstenfalls müssen die Kinder den Vater dann sogar pflegen. Mit 50 ist das selbstverständlicher als mit 20.»

«Jetzt übernehme ich Verantwortung, stelle meine persönlichen Bedürfnisse hintenan.»: Philipp Dreyer, 52, Vater von Julian, 3

Quelle: Andreas Eggenberger

Vielleicht war das auch mit ein Grund, warum Philipp Dreyer, 52, nie den Wunsch verspürte, Vater zu werden. Er sei ein grosser Individualist und gar nicht bereit für ein Kind gewesen. Als er dann doch noch mit 49 Vater wurde, veränderte sich sein Leben derart zum Positiven, dass er ein Buch darüber verfasste. Er suchte in der ganzen Schweiz Männer, die wie er in der zweiten Lebenshälfte zum ersten Mal Vater wurden, und porträtierte sie. Einig sind sich fast alle in einem Punkt: Ihr Leben sei mit der Geburt des Kindes «sinnvoll» geworden. Herrschte zuvor also die grosse Sinnlosigkeit?

Nein, wehrt sich Dreyer. «Aber als Vater gibt man einen Teil von sich. Man hat seine Rolle im Leben erfüllt, indem man sich reproduziert hat.» Er wolle das nicht verherrlichen, aber dies habe die Art und Weise, wie er das Leben wahrnehme und wo er Prioritäten setze, verändert. «Jetzt übernehme ich Verantwortung, stelle meine persönlichen Bedürfnisse hintenan und investiere viel Zeit in die Beziehung zu meinem Sohn. Er ist die grösste Bereicherung in meinem Leben.»

Dann fügt er allerdings noch an, dass Frauen auf sein Buch unterschiedlich reagiert hätten. Sie machten als Mütter das, was er als etwas Ausserordentliches beschreibe, ganz selbstverständlich – tagtäglich. Ohne dass darüber ein Buch erscheine.

Die Krux der späten Vaterschaft

Das Phänomen des Last-Minute-Vaters ist alles andere als neu. Laut der Bibel soll Stammvater Abraham noch mit 100 Jahren Kinder gezeugt haben. Auch Könige und Adlige hatten bereits vor Jahrhunderten dank ihrem Status noch im hohen Alter Nachkommen. Und bei Naturvölkern galt schon immer: Vitale Senioren geben wertvolles Erbmaterial weiter, das ihren Nachfahren hilft, gesund alt zu werden. In der industrialisierten Welt haben die Männer ihre Kinder spät und hören mit der Kinderproduktion früh wieder auf – zwischen 30 und 35 Jahren.

Bei jedem 20. Neugeborenen in der Schweiz ist der Vater heute aber über 50 Jahre alt (in der Statistik werden unverheiratete Männer nicht erfasst), in den Vereinigten Staaten sogar schon bei jedem zehnten Baby. Dabei ist die Natur nicht gerecht: Während bei Frauen mit über 40 die Chancen, schwanger zu werden, schwinden, können Männer theoretisch bis ins Greisenalter Kinder zeugen.

Doch das Ausreizen physiologischer Grenzen hat nicht nur Vorteile: Die Gefahr, ein Kind mit genetischen Defekten zu zeugen, ist bei 50-jährigen Männern doppelt so hoch wie bei 25-jährigen. Und das Risiko, ein autistisches Kind zu bekommen, ist sechsmal grösser. Das berichten Forscher vom Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien. Am häufigsten fanden sie im Sperma älterer Männer eine Genmutation, die zu einer gestörten Knorpelbildung und damit zu Zwergwuchs führt.

Auch die Gefahr, dass die Mutter eine Fehlgeburt erleidet, steigt mit zunehmendem Alter des Vaters markant an. Und bei Töchtern sinkt aus bislang ungeklärten Gründen die Lebenserwartung, wie eine russische Studie belegt.

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Buchtipp

 

  • Philipp Dreyer: «Späte Väter. Nachwuchs in der zweiten Lebenshälfte – 18 Porträts»; Werd-Verlag, 2008, 136 Seiten, Fr. 39.90