Lena, Lilly oder doch Julia? Bevor sie sich definitiv für einen Vornamen entschieden, wollten die Eltern ihr kleines Mädchen erst sehen. «Hätte sie blonde Haare gehabt, wäre es wohl eine Lilly geworden», sagt die 35-jährige Mutter Katrin Schärli, fügt dann aber an: «Eigentlich hat uns ein Wink des Schicksals die Entscheidung abgenommen. Die Hebamme, die mir in der schwersten Zeit der Geburt beistand, hiess Lena. Da war für uns der Fall klar.»

Schicksal oder Zufall - hübsch ist die Geschichte allemal und zeigt zumindest im Ansatz Parallelen zur Art und Weise, wie die alten Ägypter Neugeborenen einst Namen gaben: Der Vater sprach nach der Entbindung des Kindes ein Wort, das seiner Eingebung entsprach. Man war überzeugt, die Götter würden den Mund des Vaters als Instrument benutzen, um dem neuen Geschöpf einen Namen zu geben, der ihm göttliche Lebenskraft verleihen sollte.

Kultur und Mode sind mitentscheidend

Von göttlicher Eingebung kann heute fürwahr keine Rede mehr sein. An deren Stelle ist vielmehr ein Findungsprozess getreten, der oft Monate vor der Geburt eines Kindes beginnt. Auf der Suche nach geeigneten Namen recherchieren Eltern auf Websites und konsultieren ihr Umfeld. Im Kino können sie sich nicht wirklich auf den Inhalt konzentrieren, weil sie in Gedanken die Namen der Protagonisten halblaut vor sich hin sagen, um zu hören, wie diese klingen. «Folgen Sie nicht gleich den spontanen Einfällen», warnen derweil Autoren in Ratgeber-Büchern, die es zu diesem Thema gibt, als ob sich Eltern diese Entscheidung leicht machen würden. «Der Rufname ist ein Begleiter durch das Leben und mehr als ein Etikett», führt eine Website an und zitiert zur Verdeutlichung gar den Schriftsteller Thomas Mann: «Der Name ist ein Stück des Seins und der Seele.»

Doch nach welchen Gesichtspunkten gehen werdende Eltern bei der Namensgebung konkret vor? In früheren Generationen - oder in anderen Kulturen auch heute noch - wurden Namen vor allem gewählt, um die Zugehörigkeit des Kindes zur Familie anzuzeigen. «Einst standen Namen für ein Wir-Gefühl. Das zeigte sich etwa darin, dass die Vornamen der Grosseltern weitergegeben wurden», sagt Bettina Hannover, Psychologieprofessorin und Identitätsforscherin an der Freien Universität Berlin. Zu Thomas Manns Zeiten fanden auch die Erwartungen der Eltern, wie der Lebensweg des Kindes aussehen soll, häufig in der Namenswahl Niederschlag: «Mit dem Namen wurden Hoffnungen verbunden, daran gleichzeitig aber auch Verpflichtungen geknüpft. Wenn der Sohn nach dem Grossvater benannt wurde, erwartete die Familie implizit, dass das Kind in seine Fussstapfen treten - also zum Beispiel das Familiengeschäft weiterführen - würde», so die Expertin.

Tempi passati: Heute spielt dieser Aspekt eine deutlich kleinere Rolle, wie Psychologin Hannover weiter erklärt: Solcherlei kollektivistische Gedanken seien zunehmend dem Wunsch nach Individualität gewichen. «Die Eltern wollen heute einen einzigartigen Namen für ihr Kind.» Wie sehr die Namensfindung inzwischen einer Selbstdarstellung der Eltern gleichkommt, zeigt sich nirgends besser als in der Welt der Prominenten: Sie nennen ihre Kinder Fifi Trixibelle (Bob Geldof), Brooklyn (David und Victoria Beckham) oder Apple und Moses (Gwyneth Paltrow). Hauptsache speziell. Unabhängig davon spielen bei der Namensgebung auch soziale Herkunft, kulturelle Faktoren und Moden eine Rolle. Ein Beispiel der Wissenschafterin: «Auffallend häufig ist der Name Kevin bei Kindern, die in der Zeit geboren wurden, als der amerikanische Film ‹Kevin - allein zu Haus› in den Kinos lief.» Viele Eltern würden von solcherlei sozialen Einflüssen gelenkt, ohne sich dessen bewusst zu sein. «Es ist ein ähnlicher Mechanismus wie in der Mode.»

Schlechte Noten für seltene Namen

Bei aller Kreativität, etwas Vorsicht ist bei der Selbstdarstellung geboten: «Das Risiko, dass ein Kind mit einem sehr speziellen Namen später gehänselt wird, ist gross», sagt Bettina Hannover. Noch gibt es keine wissenschaftlichen Studien, die Auswirkungen des Vornamens auf die Identität belegen, und auch bei der Wahrnehmung von aussen kommen Experten zu unterschiedlichen Resultaten. So will eine Untersuchung herausgefunden haben, dass Kinder mit seltenen Vornamen in der Schule schlechtere Noten erhalten. Andere behaupten, die Chancen bei einer Stellenbewerbung würden dadurch erhöht. Dritte raten werdenden Eltern weder zu altmodischen noch zu modernen Namen, sondern zu zeitlosen wie Anna oder Alexander.

So viel zur Theorie, die sich im Fall von Nepomuk Neunhoeffer kaum als richtig erweist. «Ich glaube nicht, dass mein Name einen Einfluss auf meine Persönlichkeit hatte. Überdies wurde ich auch nie von anderen Kindern gehänselt», sagt der 45-jährige Kameramann. Und findet: Nepomuk sei gar nicht so selten, zumindest in Gebieten des einstigen Böhmens; in Tschechien gäbe es gar eine Stadt mit diesem Namen. Und einige würden Nepomuk wohl auch wegen des Kinderbuches «Jim Knopf» kennen. Eine einzige Eigenschaft kann Nepomuk Neunhoeffer nach längerem Überlegen auf seinen Namen zurückführen: «Ich kann mir keine Namen merken. Sobald ich sage, wie ich heisse, beginnen mir die Leute zu erzählen, was ihnen zu Nepomuk in den Sinn kommt, so dass ihr Name untergeht. Das kann manchmal etwas nerven», meint der gebürtige Basler. Anders sei dies bei Jüngeren: Die seien sich gewohnt, ihnen unbekannte Namen zu hören.

Ob Nepomuk oder Lena: Eine Website empfiehlt, Kinder auf jeden Fall beim Namen zu nennen − und nicht «Spätzli» oder «Schätzli». Denn: «Wer ein Kind mit dem Namen anspricht, gibt ihm die Chance, es selbst zu werden mit allen Ecken und Kanten.