Das 500-Seelen-Dorf im Kanton Thurgau, nennen wir es Streitlingen, ist gespalten. Stein des Anstosses ist Primarlehrer Walter Köchler (Name geändert), der seit mehr als 20 Jahren in Streitlingen unterrichtet. Dem 55-Jährigen wird von wenigen vieles vorgeworfen: Er soll Kinder treten - sie schütteln, bis sie blaue Flecken haben. Er soll sie lächerlich machen, anschreien, beschimpfen. Köchler sei depressiv und akut selbstmordgefährdet. Er sei gefährlich, und sogar pädophile Neigungen werden ihm hinter vorgehaltener Hand nachgesagt.

Der Kampf dauert seit Jahren an, doch er wird mit ungleich langen Spiessen geführt: Weder Köchler noch die Schulbehörde wurden je mit konkreten Vorwürfen der Eltern konfrontiert. «Das meiste höre ich jetzt zum ersten Mal. Und schriftliche Beschwerden wurden schon gar nicht eingereicht», sagt Streitlingens Schulpräsident auf Anfrage des Beobachters. Vielmehr sandte eine Elterngruppe die Anschuldigungen direkt an Heinrich Lang, Generalsekretär des Thurgauer Departements für Erziehung und Kultur - unter dem Siegel der Verschwiegenheit.

Solch hinterrücks geäusserte Verdächtigungen sind besonders effektiv: Sie lassen sich nicht ausräumen, weil die Gegenpartei von ihnen keine Kenntnis hat. Die Ankläger müssen keine Beweise liefern, und dennoch hinterlassen und nähren sie Zweifel am Beschuldigten. Als Ausrede für die Feigheit vor dem Feind müssen jene herhalten, um deren Wohl es eigentlich gehen sollte: die Kinder. Doch die werden, wie so oft bei Konflikten zwischen Eltern und Lehrern, zum Spielball der Parteien (siehe Nebenartikel «Schulpsychologin: ‹Die Kinder leiden immer›»).

Ende März, rund ein Jahr nachdem die Unterlagen gegen Lehrer Köchler beim Erziehungsdepartement gelandet waren, nahm der Kanton die Streitlinger Dorfschule unter die Lupe. Nun hoffen die einen, dass der angeschuldigte Pauker endlich gehen muss - die andern möchten Köchlers Rehabilitation und Ruhe im Dorf. Denn angefeindet ist mittlerweile nicht nur der Lehrer, sondern auch die Schulbehörde, die sich bislang schützend vor Köchler gestellt hat.

Der Sündenbock ist schnell gefunden



Streitlingen ist typisch für das heutige Spannungsfeld zwischen Schule und Elternhaus. Die Gründe liegen im gesellschaftlichen Wandel: Der Lehrerberuf geniesst nicht mehr das frühere Ansehen - die einstigen Könige über Dutzende von Knirpsen sehen sich in Frage gestellt und mit ungewohnter Kritik überhäuft. Die Eltern vertrauen den Lehrkräften nicht mehr blind wie damals, als der Ohrfeige des Lehrers noch eine von der Mutter folgte. Durch Lehrstellenmangel und Zukunftsängste verunsichert, fürchten sie um die bestmögliche Chance für ihr Kind und schiessen dabei oft übers Ziel hinaus. Die Schulbehörden sind meist Laiengremien und ungeschult im Umgang mit Konflikten. Und da durch die Streitereien - gerade in kleineren Gemeinden - auch die ausserschulischen Beziehungsnetze der Betroffenen tangiert sind, werden Konflikte meist anonym ausgetragen. Schliesslich soll die Kirche trotz allem im Dorf bleiben.

Verhindern liessen sich solch verfahrene Situationen nur durch bessere Kommunikation zwischen den Parteien (siehe Nebenartikel «Konfliktbewältigung: Streiten - aber richtig»). Doch da ist noch allerhand zu tun. Weil es an klaren Zuständigkeiten fehle, herrsche zwischen Elternhaus und Schule «ein Nichtverhältnis», hält etwa der Zürcher Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers fest. «Was Verantwortung der Schule, der Eltern und der Schüler genannt wird, darf nicht im moralisierenden Nebel verborgen bleiben, sondern muss explizit und verbindlich formuliert werden», fordert der Experte.

Bleiben die Kompetenzen indessen schwammig, wird Missverständnissen Tür und Tor geöffnet. «Wenn Schulbehörden und Lehrpersonen bei Kritik von Eltern zu lange abwiegeln - ob zu Recht oder zu Unrecht -, laufen solche Zwistigkeiten gern aus dem Ruder», sagen der Anwalt Johann-Christoph Rudin und der ehemalige Schulpsychologe Christian M. Waser von der Beratungsfirma Schulsupport. «Gerade in kleinen Gemeinden, in denen Abhängigkeiten bestehen und jeder mit jedem per du ist, sollten Behörden und Erziehungsdirektionen um grösstmögliche Transparenz besorgt sein. Denn die Heimlichtuerei kann schnell in Mobbing, Rufmord und Verleumdung enden.»

Beide Seiten fahren Anwälte auf



Schulsupport bietet Beratung in Schulfragen - allerdings nur für Schulbehörden und Schulleitungen. Dass ein Bedarf besteht, bestätigt die Nachfrage: «Es gibt uns seit vier Jahren, und in dieser Zeit haben wir 70 bis 80 Schulpflegen beraten und begleitet», so Rudin und Waser. Die beiden sprechen von einer eigentlichen Verrechtlichung des Schulwesens. Zum einen seien sowohl das Volksschul- als auch das Personalrecht unübersichtlich und komplex. Zum andern würden beide Seiten schneller einen Anwalt einschalten, wenn sich Differenzen mit der Schule ergäben.

Seit 2002 vertritt auch die Fachstelle Schulrecht in Goldach SG Schulbehörden und Lehrer in Konfliktfällen. Für Fachstellenleiter Peter Hofmann ist dies eine Antwort auf gesellschaftliche Tendenzen: «Die Kompromissbereitschaft der Eltern ist geringer geworden, wenn es darum geht, ihre Interessen durchzusetzen.» Weil die Eltern dafür auch vermehrt Anwälte beiziehen würden, sei es nur folgerichtig, dass auch auf Seiten der Schulen juristisch aufgerüstet werde.

«Diese Note ist falsch»



Manchmal reicht eine Zeugnisnote, um Anwälten Mandate zu bescheren. «Unser Sohn hatte im Zeugnis der vierten Sek in Geschichte eine Vier statt eine Fünf. Diese Note ist falsch», behauptet Vater Karl Rohner aus Lengnau AG. Da die Schulpflege sich für nicht zuständig erklärte und die Schule an der Notengebung festhielt, trug Familie Rohner den Streit zum Bezirksschulrat. Als dieser geltend machte, dass nur laufbahnentscheidende Noten beschwerdefähig seien, war für Rohner genug Wasser den Bach runter. Er schrieb kurzerhand einen Brief an die Eltern aller Schüler von Lehrerin Margrit Matyscak: Er stellte ihre Ausbildung und ihre Qualifikationen in Frage und empfahl den Adressaten, jeweils ein Tonbandgerät zu den Elterngesprächen mitzunehmen: «Sonst spricht Frau Matyscak plötzlich von Gesprächen, deren Inhalt ganz anders war.»

Das liessen sich Margrit Matyscak und die Schulpflege nicht bieten: Sie nahmen sich einen Anwalt und drohen jetzt dem streitbaren Vater mit einer Anzeige wegen Verleumdung. «Ich fühle mich in meiner persönlichen und beruflichen Ehre zutiefst angegriffen. Zudem geht es darum, solch ein Verhalten nicht ungeahndet zu lassen. Wie sollen mich meine Schüler ernst nehmen, wenn derartige Verleumdungen im Raum stehen?», begründet die Lehrerin den angedrohten Gang vor den Kadi. Auch Rohner will nun einen Juristen bemühen: «Lieber zahle ich eine Busse, als mich bei der Lehrerin zu entschuldigen.»

Sind Lehrer erst einmal ins Visier besserwisserischer Eltern geraten, leiden viele von ihnen an sich selber. «Am schlimmsten waren die Selbstzweifel, die in mir nagten», sagt Markus Blumer (Name geändert), Primarlehrer in einem 2’000-Seelen-Dorf im Bernbiet: «War alles falsch, was ich bisher gemacht habe? Kann ich das noch?» Bevor Blumer im letzten Sommer am Druck zerbrach und eine Auszeit nehmen musste, lag ein halbes Jahr hinter ihm, in dem eine Gruppe Eltern systematisch gegen ihn mobil gemacht hatte - für den seit zehn Jahren im Ort tätigen Lehrer «aus heiterem Himmel».

«Ein unerträgliches Gefühl»



Begonnen hatte es schleichend: Irgendwie sei in der sechsten Klasse, die er damals unterrichtete, plötzlich der Wurm drin gewesen, erzählt Markus Blumer. Die Kinder seien sozial schlecht miteinander umgegangen. Kurz vor Weihnachten habe ihm der Schulleiter erstmals von «Elternreklamationen» berichtet. Man wollte das Problem durch Aussprachen klären, doch die federführenden Eltern verweigerten ein konstruktives Gespräch. Stattdessen taten sie sich im Hintergrund zusammen, um den Protest zu koordinieren. Zu ahnen, dass er und seine Arbeit in der Dorfbeiz und am Familientisch durchgenommen werden, sei «ein unerträgliches Gefühl» gewesen, so Blumer. Ein Teil der so aufgestachelten Kinder habe in der Folge denn auch seinen Unterricht sabotiert.

09-06-schule02.jpg Kritisiert wurde Blumers Arbeit querbeet: pädagogisch, didaktisch, organisatorisch - alles war auf einmal schlecht. Gefehlt habe eigentlich nur, dass man ihm auch noch sexuelle Übergriffe unterstellt hätte, erinnert sich der Lehrer mit bitterem Zynismus an diese «strube Zeit» - «dann hätte ich den Bettel hingeworfen». So weit ist es nicht gekommen. Markus Blumer hat sich wieder aufgerafft und ist in den Beruf zurückgekehrt, den er eigentlich über alles liebt. Im gleichen Schulhaus hat er eine neue Klasse übernommen - die Eltern sind andere. Es laufe jetzt gut, «aber das Misstrauen ist geblieben».

Kein Wunder, steht es um die Befindlichkeit der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer schlecht. In einer Untersuchung des Personalvermittlungskonzerns Kelly Services vom letzten Jahr gaben nur gerade 40 Prozent von ihnen an, in ihrem Beruf «zufrieden» zu sein - der zweittiefste Wert aller erfassten Branchen vor dem Schlusslicht Lastwagenfahrer. Im Vergleich dazu ist die Stimmung unter den Angestellten von Banken und Versicherungen geradezu blendend: Hier liegt die Arbeitszufriedenheit bei 72 Prozent.

Häufig bleibt es nicht bei blossen Schmähbriefen, hintenherum geäusserten Vorwürfen und Beschwerden durch sämtliche Instanzen. Immer öfter wird handfest gedroht - manchmal sogar mit dem Tod. Allein im Kanton Thurgau wurden in den letzten fünf Jahren 18 Todesdrohungen gegen Lehrer ausgestossen. Die Schulgemeinden tun gut daran, dergleichen ernst zu nehmen. Zu lebendig ist die Erinnerung an den St. Galler Lehrermord vom 11. Januar 1999, als Ded Gecaj den Lehrer seiner Tochter im Schulhaus Engelwies erschoss. Angesichts der zunehmenden Verrohung fordert Beat W. Zemp, Präsident des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), Kriseninterventionsgruppen in allen Kantonen.

Aber nicht nur die Eltern machen den Lehrern das Leben schwer. Oft kommen die Schüsse aus dem Hinterhalt auch aus den eigenen Reihen. Heinz Ramstein, Bezirksschullehrer im solothurnischen Breitenbach, hat seit mehr als zwei Jahren unter mangelnder Loyalität seiner Schulbehörden zu leiden. Auch Ramstein sah sich unvermittelt in einen Kampf gegen Windmühlen verwickelt: Angeblich hatten sich Eltern über ihn beschwert. Doch die Schule wollte ihm weder Namen noch konkrete Vorwürfe nennen - angeblich aus Rücksicht auf die Schüler, die ihm ja «ausgeliefert» seien.

Als wäre es die «eigene Todesanzeige»



Schliesslich wurde Heinz Ramstein gar die fachliche Kompetenz abgesprochen. Er sei methodisch-didaktisch ungenügend, solle deshalb eine entsprechende Weiterbildung machen. «Der Schulinspektor, der meinen Unterricht in Physik und Chemie als ungenügend bezeichnete, hat in diesen Fächern nicht eine einzige Schulstunde von mir besucht», empört sich der kritisierte Lehrer.

Als sich Ramstein weigerte, Kurse zu besuchen, die ihm wegen seiner angeblichen didaktischen Mängel verordnet wurden, erhielt er unter fadenscheinigen Gründen die Kündigung. Dass er so genannte Blitztests durchführte - eine landauf, landab gängige Prüfungsform -, wurde ihm dabei ebenso zum Verhängnis wie die Tatsache, dass er eine Schulreise ohne Begleitung der Parallelklasse durchführen wollte. Der 56-Jährige erlitt eine Erschöpfungsdepression, war ein halbes Jahr lang krankgeschrieben. Gleichwohl erhielt er den blauen Brief. Der Solothurner Regierungsrat erklärte die Kündigung allerdings für nichtig, weil sie ungesetzlich war.

«Als ich zudem während der Krankheit meine Stelle zur Neubesetzung ausgeschrieben sah, fühlte ich mich, als wäre ich meiner eigenen Todesanzeige begegnet», erzählt Ramstein. Und kaum war er wieder gesund, wurde ihm erneut gekündigt. Heinz Ramstein reichte im letzten September Beschwerde ein - er arbeitet nun in gekündigter Stellung: «Die Unsicherheit macht mir schwer zu schaffen», sagt er. Therese Grolimund, Präsidentin der zuständigen Kreisschulkommission, will sich zum Fall nicht äussern, da es sich um ein hängiges Beschwerdeverfahren handle: «Nach Vorliegen eines rechtskräftigen Entscheids sind wir zu einer Stellungnahme gern bereit.»

Ein Fall für die IV



Allein gegen alle - das geht an den Lehrerinnen und Lehrern nicht spurlos vorbei: Die Pädagogik gehört zu den Berufsgattungen mit der höchsten Burn-out-Rate, und dies in wachsendem Ausmass. So zeigt etwa eine Statistik der Berner Lehrerversicherungskasse, dass sich die Zahl der invalidisierten Lehrkräfte im Kanton allein seit 2000 verdoppelt hat. 2004 hatte in Affoltern am Albis ZH ein Konflikt zwischen der Schulpflege und zwei Lehrern einen der beiden sogar in den Selbstmord getrieben. Die Schulpflege wollte sich von den Lehrkräften trennen, obwohl weder an ihrem Unterricht etwas auszusetzen war, noch gravierende Fehlhandlungen wie sexuelle Übergriffe vorlagen. Da erstaunt es nicht, dass der LCH Seminare mit dem Titel «Balancieren im Lehrberuf - im Spannungsfeld Schule wirksam und gesund bleiben» veranstaltet.

Entsprechend regen Zulauf haben Anlaufstellen, die Lösungen in Konfliktsituationen anbieten. Die Beratungsstelle für Lehrpersonen im Kanton Bern etwa verfügt über eine bereits zwölfjährige Erfahrung in diesem Bereich. Belastende Eltern-Lehrer-Beziehungen seien in den letzten Jahren vermehrt ein Thema, sagt Ueli Zürcher, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Beratungsstelle. Konflikte würden sich schwerpunktmässig an unterschiedlichen Vorstellungen bei der Einschulung oder bei Übertritten in eine höhere Stufe entzünden. «Es klagen oft Eltern, die sich bei Ungenügen ihres Kindes selber angegriffen fühlen», hat Zürcher festgestellt. Dennoch warnt er vor einer Generalisierung des Problems: «In unserer Beratungsstelle hören wir nur von den Konflikten, nicht aber von den vielen guten Gesprächen zwischen Lehrpersonen und Eltern.»

Dass die Eltern bei der Schulkarriere ihrer Sprösslinge ein Wörtchen mitzureden haben, ist in den Gesetzen von Bund (Zivilgesetzbuch) und Kantonen (Bildungsgesetze und -verordnungen) verankert. Nachdem dieser Auftrag durch die nahezu unantastbare Autorität von Schule und Lehrern lange Zeit nur auf dem Papier bestand, ist die konkrete Mitwirkung der Eltern in den letzten Jahren vehement auf dem Vormarsch: Überall im Land schiessen Elternräte und ähnliche Gremien wie Pilze aus dem Boden. Laut Maya Mulle, Leiterin der schweizweit tätigen Fachstelle Elternmitwirkung, kennen beispielsweise im Kanton Zürich bereits 71 der 222 Schulgemeinden eine institutionalisierte Form der Elternmitbestimmung.

«Nicht nur Kuchenbacken»



«Sehr zufrieden» ist Mulle mit dieser Entwicklung. Sie verhehlt aber nicht, dass es auch Widerstände und Schwierigkeiten zu überwinden gilt - Angst vor übermässiger Einmischung auf der einen, falsch verstandene Kompetenzbereiche auf der anderen Seite. So hat etwa der Regierungsrat des Kantons Bern unlängst beschlossen, die Mitbestimmung der Eltern beim Übertritt von der sechsten Klasse in die Oberstufe wieder abzuschaffen - zu weit ging ihm das Mitspracherecht der Erziehungsberechtigten in Schulfragen.

Entscheidend beim Aufbau von Elterngremien sei die gegenseitige Wertschätzung, betont Maya Mulle: «Es darf nicht nur ums Kuchenbacken gehen, sondern es muss ein partnerschaftlicher Austausch über Schulinhalte stattfinden.» Allerdings sei Mitwirkung nicht mit Mitbestimmung im pädagogisch-didaktischen Bereich zu verwechseln: Das gehöre nach wie vor klar zu den Kompetenzen der Lehrerinnen und Lehrer.

Quelle: Andy Kamber