Sie presst ihre Wunden zu, so gut es geht. Trotzdem ist alles voller Blut. Hände, Kleider, die Treppe, die sie soeben auf den Knien hochgekrochen ist, die Glastür, an der sie vorbeitorkelt. Um sie herum Menschen, die Ardana Peja*, die blutüberströmte, um Hilfe röchelnde Frau, nicht wahrzunehmen scheinen.

Dann, endlich: Eine hochschwangere Frau und ein Mann kommen auf sie zu. Er kniet nieder, hält die Schwerverletzte in den Armen, bis die Ambulanz eintrifft. Noch zwei Monate später wird man die Striemen und Kratzer an Armen und Oberkörper sehen, die Ardana Peja dem jungen Türken in ihrem Kampf mit dem Tod zufügt.

Er schreit den Umstehenden zu, sie sollen die Rettungskräfte mobilisieren. Erst jetzt kommt Bewegung in die Menge.

«Holt das Kind!»

Ardana Peja kann dem Mann begreiflich machen, dass ihre Tochter in der Tiefgarage im Auto sitzt. Er brüllt in die Runde, man solle das Kind holen. Ein paar Frauen gehen es suchen, kommen aber schnell wieder hoch. Panisch. Neben dem Auto liege ein schwer verletzter Mann, überall Blut. Das Mädchen haben sie nicht dabei. Wieder schreit der Retter die Umstehenden an: «Holt das Kind!» 

Diesmal klappt es, man bringt die Kleine zu ihrer blutüberströmten Mutter. «So hatte ich es natürlich nicht gemeint. Ich wollte nur, dass sie in Sicherheit ist», erzählt die junge Frau heute. «Ich wünschte mir, meine Tochter hätte mich nie so sehen müssen.»

Das war vor knapp fünf Jahren, im Sommer 2013. Tatort: die Tiefgarage eines Spielzeugladens, in dem Ardana Peja gerade etwas für die Tochter gekauft hatte. Sie war damals 26, die Tochter dreieinhalb. Da hatte die Familie Monate der Angst hinter sich, die Mutter, die Tochter und der vier Jahre ältere Sohn, der an jenem Tag in der Schule war. Denn der Attentäter war der Ehemann und Vater. 

Er war schon immer eifersüchtig

Wie so oft war am Anfang Verliebtheit. Die alleinerziehende Ardana Peja trifft auf den gut aussehenden Kosovaren mit serbischem Pass, der sie trotz unehelichem Kind heiraten will. «Man warnte mich. Seine Familie, die aus derselben Stadt stammt wie meine, habe in der Heimat einen schlechten Ruf.» Sie heiratet ihn trotzdem und wird bald schwanger. 

Einfach ist die Ehe von Anfang an nicht. «Er war schon immer eifersüchtig, machte mir wegen Lappalien eine Szene. Zum Beispiel wenn ich Kollegen mit drei Küsschen auf die Wangen begrüsste. Für mich war das normal. Ich bin zwar Muslima, bin aber hier in einem liberalen Elternhaus aufgewachsen und habe den Schweizer Pass.»

Sie nimmt seine Eifersucht nicht sehr ernst, gibt sich aber trotzdem Mühe, ihm keinen Anlass dazu zu geben. Dann lernt ihr Mann neue Freunde kennen. Ultrareligiös sind die – und bald auch er. Er lässt sich einen Bart wachsen und die Tätowierungen weglasern. Wird zum religiösen Eiferer, immer strenger mit sich, mit ihr, mit den Kindern. Kontrolliert jeden ihrer Schritte. Schliesst seine Frau in der Wohnung ein. Unterstellt ihr, einen Liebhaber zu haben. Randaliert, zertrümmert mal den Fernseher, mal ein Fenster. Die Nachbarn beschweren sich. Die Liegenschaftenverwaltung schaltet sich ein.

Er wird immer aggressiver. Ardana Peja hält den Terror nicht mehr aus. Sie will sich trennen. Er tobt. 

Mann bedroht Frau

Der Attentäter war der Ehemann und Vater.

Quelle: Andreas Gefe
Drohungen, aber keine Schläge

Im Mai 2013 geht sie zur Polizei und meldet ihren Mann. Weil er Morddrohungen ausstösst, gegen sie, die Kinder und ihre Eltern, selbst gegen ihre Chefin und die Arbeitskolleginnen. Weil er sie nicht mehr aus der Wohnung lassen will. Weil er droht, die Tochter zu entführen und in den Kosovo zu seiner Verwandtschaft zu bringen. Weil er sagt, sie habe sein Leben zerstört und es ihm deshalb zustehe, ein Leben aus ihrer Familie zu nehmen. Und wegen der SMS eines Verwandten ihres Mannes: Über 50 Mitglieder des Clans hätten sie einst akzeptiert. Doch wenn sie ihren Mann verlasse, müsse jemand bezahlen für die Schmach. Es geht um die Ehre. Blutrache steht im Raum.

Ob er sie auch schlage, fragt der Polizist auf dem Posten. Sie verneint. «Dann können wir nichts tun.»

Eine Kugel trifft sie in die Brust. Eine in den Hals. Die dritte geht ins Leere. Ardana geht zu Boden. «Ich stellte mich tot.»

Ardana Peja hat Schlaf- und Angststörungen, verliert in sechs Wochen acht Kilo. Sucht psychiatrische Hilfe und wird krankgeschrieben. Mehrfach zeigt sie ihren Mann an, zieht die Anzeigen aber wieder zurück, weil er ihr und ihrer Familie droht. 

Zwei Monate vor der Tat gelingt es der jungen Mutter endlich, ein Rayon- und Kontaktverbot für den Ehemann zu erwirken. Er wird in Untersuchungshaft genommen. Zweimal. Und kommt wieder frei. Die letzte Verlängerung des Rayonverbots ist bis zum 21. September 2013 angesetzt. Seine Bluttat begeht er einen Monat vor Ablauf der Frist.

Auch an diesem Tag stellt er seiner Frau nach. Als sie vom Einkauf zu ihrem Wagen zurückkehrt, taucht er plötzlich zwischen den parkierten Autos auf. Er stellt sie zur Rede: «Wenn du jetzt zu mir zurückkommst, verzeihe ich dir. Wenn nicht, wirst du es bereuen.» Sie weigert sich, es kommt zum Streit. Die Dreijährige, für die Heimfahrt bereits im Kindersitz im Auto angegurtet, schaut zu.

Eine Unique, Modell 15, Kaliber 7,65

Er entreisst seiner Frau die Autoschlüssel, sie will sie zurück. Plötzlich zieht er vorne aus der Hose eine Pistole, eine Unique, Modell 15, Kaliber 7,65. Die gibts im Internet für 150 Euro, im Kosovo vermutlich noch billiger. Er schiesst. Drei Mal. Eine Kugel trifft sie in die Brust, nur knapp neben dem Herzen, geht durch die Lunge und tritt unter dem Schulterblatt wieder aus. Eine Kugel trifft sie in den Hals, schrammt an der Wirbelsäule vorbei. Eine trifft ins Leere. Ardana geht zu Boden. «Ich stellte mich tot.» 

Dann richtet sich der Attentäter. Er wird kurz darauf im Spital seinen Verletzungen erliegen. Erweiterter Selbstmord, heisst das in der Fachsprache. 

Am 11. Oktober 2017 wird der Bundesrat ein Paket von Verschärfungen des Zivil- und Strafrechts zum Schutz vor häuslicher Gewalt und Stalking verabschieden. 

Die junge Mutter hatte Glück. Erst hiess es, sie werde möglicherweise geistig behindert sein, weil ihr Hirn durch den Lungendurchschuss nicht genügend Sauerstoff erhielt. Und dass sie wegen der angeschossenen Halswirbelsäule im Rollstuhl landen werde. Beides hat sich nicht bewahrheitet. 

Einen Monat liegt sie im Spital. Dann entlässt sie sich selber, gegen den Rat der Ärzte. Sie will zu ihren Kindern. «In dieser Zeit wollte ich mich mehr als einmal umbringen, zog mir im Spital die Schläuche raus.»

Die Familie gibt ihr die Schuld...

Es wäre kein Fall von Blutrache, wäre die Geschichte hier zu Ende. Seine Familie gibt ihr, dem Opfer, die Schuld an seinem Tod. Behauptet, sie oder ein angeblicher Liebhaber habe den geliebten Sohn erschossen. Dabei beweisen Aufnahmen der Videokameras in der Tiefgarage eindeutig, dass er selber geschossen hat und niemand ausser den beiden und der kleinen Tochter zugegen war. Doch das interessiert die Familie nicht. Sie weigern sich, die Videos anzuschauen.

Ein paar Monate ist Ruhe. Dann beginnt der Terror erneut. Ardana Peja und ihre Familie erhalten Drohungen per SMS und den Chat-Dienst Viber. Man werde sie und ihre Mutter vergewaltigen, ihren Vater mit dem Auto schleifen und seinen Kopf fressen, wenn sie je in den Kosovo reisten. Selbst ein in Österreich lebender Onkel erhält solche Drohungen. Die Absender sind Bruder und Schwester des Exmanns. Der Bruder wird über das Fahndungssystem Ripol zur Verhaftung ausgeschrieben. Im Kosovo, wo Ardana Pejas Familie ebenfalls Anzeige erstattete, verlaufen die Nachforschungen im Sand. Dass auf das Haus von Ardana Pejas Grossmutter geschossen wurde, scheint niemanden zu interessieren.

Sie wird weiter bedroht

«Wenn sich unsere Familie auch an das ‹Gesetz› der Blutrache halten würde, müsste ich jetzt fünf Angehörige des Clans meines Exmanns umbringen. Weil durch seine Bluttat nicht nur ich, sondern auch meine Kinder und meine Eltern tangiert sind», sagt Ardana Peja. «Das ist doch Wahnsinn!»

Ardana Peja lebt heute noch in steter Angst – um sich, ihre Kinder, ihre Verwandten. «Ich traue mich kaum mehr aus dem Haus, sehe überall Bedroher. Bei jedem Knall bekomme ich eine Panikattacke.» Auch die Kinder leiden bis heute unter dem Trauma, haben Verlustängste. Alle drei sind in psychiatrischer Behandlung.

Von der Opferhilfe erhält Ardana Peja 30'000 Franken. Doch davon hat sie nichts. «Die Familie meines Exmanns forderte das Geld von mir. Ich sei schuld am Tod ihres Sohnes, deshalb müsse ich seine Beerdigung bezahlen. Genauso wie die Schulden, die er im Kosovo hatte.» Aus Angst gibt sie das Geld her, das für sie und ihre Kinder gedacht war. 

Trotzdem hat sie keine Ruhe. Immer wieder kommen Forderungen, begleitet von Drohungen. Sie sei jetzt ja reich, habe doch sicher Hunderttausende von Franken erhalten. Ardana Peja macht Schulden, um die Familie ihres Mannes zu befriedigen.

Geblieben sind ihr von dieser Ehe: seelische und körperliche Narben, die nie mehr weggehen werden. Zwei traumatisierte Kinder. Konstante Angst vor der Familie ihres Exmanns. Finanzielle Sorgen. Und ein Codewort für die polizeiliche Sondereinsatztruppe «Enzian» für den Fall, dass sie sich in konkreter Gefahr befindet.

Geblieben ist aber auch die Freundschaft zu jenem jungen Türken, der sich um sie gekümmert hatte, als sie zwischen Tod und Leben schwebte, während alle wegschauten. «Er ist wie ein Bruder für mich.»

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Raphael Brunner, Redaktor
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