Beobachter: Frau von Salis, wie erleben Kinder einen jahrelangen Streit ihrer Eltern?
Giuletta von Salis: Verletzende Streitereien oder gar Gewalt mitzuerleben, ist für Kinder sehr belastend. Vor allem, wenn sie nicht nachvollziehen können, was in ihrer Familie passiert. Kinder haben eine egozentrische Weltsicht, besonders am Anfang ihrer Entwicklung. Sie sehen sich somit automatisch als Ursache der Auseinandersetzungen. Darum ist es wichtig, ihnen zu sagen, dass der Streit zwischen Mama und Papa nichts mit ihnen zu tun hat.


Manche Mütter und Väter instrumentalisieren ihre Kinder im Kampf gegen den Partner.
Dass Eltern ihre Kinder bewusst einsetzen, um dem Partner zu schaden, ist selten. Was wir aber sehen, sind Mütter und Väter, die versuchen, die Kinder auf ihre Seite zu ziehen. Das bringt Kinder in enorme innere Konflikte.


Wie schlimm ist das?
Das Selbstwertgefühl des Kindes kann Schaden nehmen. Es erlebt sich als ohnmächtig, lernt nicht, wie Meinungsverschiedenheiten fair ausgetragen werden, wie Partnerschaft liebevoll gelebt wird. Zudem fehlt in hochkonfliktiven Familien die Energie, auf die Kinder einzugehen. Das kann ein Leben lang belasten.


Wie ist es möglich, dass zwei Menschen, die verliebt waren, sich so streiten?
Das ist ein sehr grosses Rätsel. Für uns, aber auch für die Eltern. Immer wieder höre ich: Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal an diesen Punkt komme.


Realisieren die Eltern, dass sie das Wohl ihres Kindes aus den Augen verlieren?
Sie wissen es in den meisten Fällen. Aber dieses Wissen hilft ihnen nicht unbedingt, anders zu handeln; sie sind zu sehr in den Konflikt verstrickt. Im Vordergrund steht, recht haben zu wollen, die eigenen Werthaltungen durchzusetzen.


Wie zeigt sich das konkret?
Etwa daran, das «Recht» auf Besuche einzufordern, oder an Erziehungsprinzipien, die einem Elternteil sehr wichtig sind, wie Ernährung, die Zeit, zu der das Kind ins Bett soll – Alltagsdinge. Auch dann, wenn die Eltern wissen, dass sie mit ihrem Beharren dem Kind schaden, ist es für sie fast unmöglich, davon abzurücken. Die Erkenntnis allein reicht oft nicht, um das Verhalten zu ändern. Das wissen alle, die schon mal eine Diät machen wollten.


Heute werden Kinder vor Gericht angehört. Können Sie unter solchem Druck ihre Meinung überhaupt frei äussern?
Es kommt sehr darauf an, wie eine Anhörung gestaltet ist. Das Kind muss verstehen, was mit seiner Meinung passiert, etwa, wer davon erfährt. Aber auch, dass am Ende die Erwachsenen entscheiden werden. Ein grosses Missverständnis ist, dass man davon ausgeht, eine Meinung sei nur dann eine eigene, wenn sie von jener des Betreuenden abweicht. Dem ist fast nie so. Kinder haben eine eigene Meinung, auch wenn sie von einem Elternteil beeinflusst ist. Wir alle bilden Meinungen, indem wir uns an Vorbildern orientieren.

«Kinder dürfen den Anspruch haben, dass Eltern auch einmal über ihren Schatten springen.»

Giulietta von Salis, Psychologin

Wenn nichts hilft, kommt es am Ende zum Abbruch des Kontakts mit einem Elternteil. Ist das in jedem Fall schlimm?
Nein, für gewisse Kinder ist es ein Vorteil, wenn die ewigen Streitereien um die Besuche enden. Für andere hingegen ist es sehr schlimm. Das hängt auch davon ab, wie stark die Beziehung zum wegfallenden Elternteil vor der Trennung war. Und davon, ob das Kind einen Sinn sieht im Ganzen. Wenn zum Beispiel ein Vater gewalttätig war und man dem Kind sagen kann, dass der Vater jetzt Zeit braucht, um sich helfen zu lassen, kann es das verstehen.


Hat das gemeinsame Sorgerecht Entspannung gebracht?
Die Forschung aus den USA lässt den Schluss zu, dass das gemeinsame Sorgerecht helfen kann, Scheidungen nicht hochstrittig werden zu lassen. Ist der Konflikt bereits verhärtet, passiert jedoch leider das Gegenteil. Es ist für den Elternteil, der die Kinder hauptsächlich betreut, aber auch für die Kinder, enorm belastend, wenn gegen jede Freizeitaktivität, jede notwendige medizinische Intervention Einspruch erhoben wird.


Was bleibt, sind enttäuschte Kinder.
Ja, es verletzt Kinder, wenn Eltern es nicht schaffen, ihre Bedürfnisse zurückzustellen. Zu Recht, denn Kinder dürfen den Anspruch haben, dass Eltern auch einmal über ihren Schatten springen, um ihnen eine Freude zu machen, zum Beispiel am Geburtstag. Was wir aber auch erleben: Wenn Eltern sich entschuldigen und zu ihren Fehlern stehen, vergeben Kinder schnell.

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Zur Person

Giulietta von Salis ist Psychologin am Marie-Meierhofer-Institut für das Kind in Zürich. Sie macht unter anderem Beratungen für Kinder und Eltern in Trennung.

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