Die Post von der Gemeinde kommt eingeschrieben und enthält ein Bündel Einzahlungsscheine sowie einen Brief der Sozialdienstchefin. Sie sei gezwungen, Folgendes mitzuteilen: «Ihr monatliches Budget weist einen Uberschuss von 1000 Franken auf. Davon kann die Hälfte als Unterstützungsleistung für Ihre Tochter eingesetzt werden.»

So nicht! In Waltraut Huser regt sich Widerstand. Was soll dieser amtliche Zwang zur familiären Solidarität? Sie beschliesst, sich zu wehren, und konsultiert eine Rechtsanwältin.

Der Impuls der Mutter von Vera Z., sich zu wehren, ist verständlich und berechtigt. Waltraut Huser hat in den vergangenen zehn Jahren viel für ihre längst erwachsene Tochter getan. Immer wieder hat sie die Drogenabhängige nach Abstürzen bei sich aufgenommen, sie betreut, ihr Geld gegeben oder Schulden bezahlt. Jetzt aber ist es genug. Waltraut Huser lebt selbst in bescheidenen finanziellen Verhältnissen. Sie hat sich zwar eine gute berufliche Stellung erarbeitet, aber ihr monatliches Einkommen deckt nicht viel mehr als ihren durchschnittlichen Lebensbedarf.

Jeden Monat 500 Franken will und kann sie nicht erübrigen. «Jetzt will ich endlich einmal zu mir selbst schauen und mir auch eine angemessene Altersvorsorge aufbauen», sagt sie, die als allein erziehende Mutter von zwei Töchtern über viele Jahre empfindliche wirtschaftliche Einschränkungen hinnehmen musste.

Die Chefin des Sozialdienstes sieht das anders, denn auch sie steht unter Druck. Sie hat die Sozialbehörde der Gemeinde im Nacken, und es gehört zu ihrer Pflicht, für den Vollzug gesetzlicher Bestimmungen zu sorgen, auch wenn diese bald hundert Jahre alt sind. Die Artikel 328 und 329 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB) schreiben nämlich vor, dass Verwandte in gerader Linie verpflichtet sind, «einander zu unterstützen, sobald sie ohne diesen Beistand in Not geraten würden».

Willkommene Finanzquelle

In den Jahren der Hochkonjunktur geriet diese gesetzliche Pflicht zur Unterstützung naher Verwandter fast in Vergessenheit. Das hat sich gründlich geändert. Was einst gedacht war als Druckmittel gegen pflichtvergessene Verwandte, wird heute, in Zeiten leerer Sozialhilfekassen, zur willkommenen Finanzquelle. Immer häufiger und systematischer versuchen die Behörden der Kantone und Gemeinden, ihre Sozialhilfeausgaben bei den pflichtigen Verwandten wieder einzutreiben.

Auch Vera Z., Waltraut Husers Tochter, musste von ihrer Gemeinde unterstützt werden. Nach dem Abschluss der Berufslehre wurde sie mit kaum 20 Jahren drogenabhängig. Die Folgen waren fatal. Zu den gesundheitlichen Problemen kamen bald auch wirtschaftliche hinzu: Arbeitslosigkeit, Schwierigkeiten mit Polizei und Justiz, Schulden. Dann die Abhängigkeit von den Sozialhilfeleistungen der Gemeinde. Die Mutter ganz und gar nicht pflichtvergessen half, so gut es ging.

Das war nicht immer einfach. Die Mutter schwankte zwischen Fürsorge und Abgrenzung. Zu Letzterer rieten die Fachleute der Drogenberatungsstelle. Es ist bekannt, dass übertriebene elterliche Fürsorge das Suchtverhalten stabilisieren kann. Eltern sollten darum lernen, ihren Söhnen und Töchtern Verantwortung zu übertragen, sie in die Selbstständigkeit zu entlassen. Das heisst die Geldfrage zum Tabu erklären; das heisst nein sagen können, wenn die Tochter wieder einmal völlig abgebrannt vor der Tür steht auch wenn es schwer fällt. Doch die ganze Anstrengung mit der Abgrenzung fällt in sich zusammen, wenn die Geldfrage durch die Hintertür der Verwandtenunterstützungspflicht wieder hereinkommt.

Zudem wird den Eltern, die sich langsam vom Klischee befreien konnten, schuld an der Sucht des Kindes zu sein, durch die Geldforderungen der Gemeinde indirekt wieder eine Mitschuld angelastet.

Gemeinde klagt auf Unterstützung

Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) schreibt darum in ihren «Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe»: Es sei sinnvoll, Beiträge von Verwandten nicht nur aufgrund rein rechnerischer Kriterien zu erzielen, sondern in «gegenseitiger Absprache», also im Sinn einer gütlichen Einigung. Wichtig sei zudem, dabei «stets die Auswirkungen auf die Hilfe Suchenden und den Hilfsprozess mit zu bedenken».

Doch für die Leiterin des Sozialdienstes der Wohngemeinde von Vera Z. und ihre vorgesetzte Behörde, den Gemeinderat, bleibt es dabei: Waltraut Huser soll zahlen. Zwar reduzieren sie die Forderung etwas, aber Husers Angebot, 100 Franken monatlich zu bezahlen, wird zurückgewiesen. Die Verhandlungen werden abgebrochen, und die Gemeinde reicht beim Bezirksgericht eine Unterstützungsklage gegen Waltraut Huser ein.

Schliesslich trifft man sich vor Gericht. Eine einschneidende Erfahrung für Waltraut Huser, aber auch für Vera Z. Sie, die es «nicht fair» gefunden hat, dass ihre Mutter von der Gemeinde gerupft werden soll, hört nun mit, wie die Anwältin ihrer Mutter argumentieren muss; sie hört, dass es rechtsethisch anstössig sei, «eine Mutter für die finanziellen Folgen der von ihr nicht beeinflussbaren, allenfalls verunglückten Lebensführung der Tochter einstehen zu lassen».

Zudem seien auch andere Möglichkeiten der finanziellen Hilfe zu prüfen. Vera Z. sei offensichtlich schwer drogenkrank und müsse für Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet werden. «Das alles hat mich sehr getroffen und die Beziehung zu meiner Mutter vollends kaputtgemacht», sagt Vera Z. heute.

Das Gericht hat ein Einsehen. Zwar wird auch hier nur mit Zahlen gerechnet, aber mit einem wesentlich anderen Ergebnis als bei der Gemeinde: Die Differenz zwischen den anrechenbaren Einnahmen und Ausgaben von Waltraut Huser ergibt plötzlich nur noch einen Uberschuss von 66 Franken und nicht von 1000 Franken, wie der Sozialdienst vorgerechnet hatte.

Daraus ergäbe sich ein Verwandtenunterstützungsbeitrag von gerade noch 33 Franken monatlich. Die Unterstützungsklage wird abgewiesen. Waltraut Huser muss der Gemeinde nichts an die Aufwendungen für ihre Tochter bezahlen.

Behördlich verordnete Solidarität

Mittlerweile ist ein Jahr vergangen seit dem Gerichtsurteil. Doch Waltraut Huser ist immer noch aufgewühlt: «Der Entscheid des Richters war eine Genugtuung für mich.» Trotzdem ist die Sache für sie nicht bereinigt: «Es darf doch einfach nicht sein, dass man Eltern in dieser Weise für ihre erwachsenen Kinder haftbar macht und sie so womöglich noch selbst zum Sozialfall werden. Wo», fragt Huser, «bleibt da die gesellschaftliche Solidarität?»

In der Tat: Gegen eine freiwillige Unterstützung unter Familienmitgliedern ist sicher nichts einzuwenden. Problematisch wird es aber dort, wo sie erzwungen werden soll. Besonders dann, wenn die Pflichtigen selbst nicht sehr begütert sind und Konflikte das Familiensystem ohnehin belasten. Erzwungene Familiensolidarität erschwert nämlich ein gesellschaftliches Solidaritätsdenken und verschleiert die Tatsache, dass finanzielle Not nicht nur ein individuelles oder familiäres, sondern auch ein gesellschaftliches Problem ist.

Der Kampf zahlt sich aus

Der Kampf von Waltraut Huser hat sich jedenfalls gelohnt. Nicht nur für sich und ihre Tochter Vera Z., sondern letztlich sogar für die Gemeinde. Unter dem Druck der Ereignisse wurde nämlich schliesslich doch noch eine Anmeldung bei der Invalidenversicherung gemacht. Vera Z. macht jetzt eine zweite Ausbildung und bezieht von der IV ein Taggeld, das sie von der Sozialhilfe der Gemeinde und von der Mutter unabhängig macht. Ihre Drogenabhängigkeit hat sie mittlerweile ziemlich im Griff.

Und die Beziehung zwischen Mutter und Tochter? Die Recherchen des Beobachters brachten es mit sich, dass die beiden zum ersten Mal seit einem Jahr wieder miteinander telefonierten. Ein Treffen wird nicht mehr ausgeschlossen.