Endlich einen Fuss in der Tür
Ein Praktikum in der realen Wirtschaft gibt Andreas Springer neues Selbstwertgefühl. Und es stärkt die Hoffnung, trotz seiner psychischen Erkrankung wieder im Berufsleben Fuss zu fassen.
Veröffentlicht am 8. April 2009 - 17:32 Uhr
Beobachter Serie: Der Weg zurück
Menschen mit psychischen Erkrankungen beruflich wieder einzugliedern, bevor sie eine Invalidenrente beziehen, ist ein vordringliches Ziel der 5. IV-Revision, die seit Anfang 2008 in Kraft ist. In einer losen Artikelserie hat der Beobachter seit Februar letzten Jahres den 39-jährigen Andreas Springer auf dem Weg zurück in die «normale» Arbeitswelt begleitet. Der kaufmännische Angestellte ist als Folge einer Angststörung arbeitsunfähig geworden und sucht in der Stiftung Espas in Winterthur wieder den Anschluss. Das momentane Praktikum bildet voraussichtlich den Abschluss von Springers Eingliederungsmassnahmen – und damit endet auch unsere Serie.
Draussen ist es, trotz kalendarischem Frühling, so grau und nasskalt wie beim letzten Besuch im November. Doch während damals Wetter und Gefühlslage übereinstimmten, ist heute Andreas Springers Stimmungsbarometer im Hoch. «Es geht mir gut», versichert er – überflüssigerweise, denn es ist ihm ohnehin anzusehen: Da sitzt ein Mann bei bester Laune, mit offenem Blick, einem Schmunzeln im Gesicht und Gel in der Kurzhaarfrisur. Der Optimismus ist zurück.
Zum Ort des Treffens ist man durch lange Gänge in einem verwinkelten Geschäftshaus gekommen, vorbei an offenen Büros voller emsiger Menschen. Noch vor wenigen Monaten hätte sich Andreas Springer niemals in solche Gefilde vorgewagt: Die Angststörung Agoraphobie, an der er leidet, kann Panikattacken auslösen, sobald sich ein Betroffener in eine unvertraute Umgebung begibt. Dies führte beim kaufmännischen Angestellten letztlich zur Arbeitsunfähigkeit.
Vertraut waren ihm bisher die Räumlichkeiten der Stiftung Espas, bei der er ein Programm zur beruflichen Wiedereingliederung absolviert. Anfang Februar verliess er diesen geschützten Rahmen, wo die Realität oft nur simuliert werden kann, und trägt nun am Hosenbund den Mitarbeiter-Badge der Versicherungsgesellschaft Axa Winterthur. In einem Halbtagespensum bearbeitet Springer Schadenmeldungen, als Teil eines kleinen Teams.
«Es ist echte, produktive Arbeit in einem realen Wirtschaftsunternehmen», sagt er in einem Tonfall, als müsse er sich dessen selber immer wieder vergewissern. Der Bezug zur Realität spornt ihn ebenso an wie die Gewissheit, wieder nah dran zu sein am Berufsleben: «Zu merken, dass ich nach so langer Zeit meine Leistung wieder bringen kann, tut meinem Selbstwertgefühl extrem gut.»
Dieses ist dem Winterthurer im Sommer 2006 fast gänzlich abhandengekommen. Damals erhielt er, für den Arbeit einen so hohen Stellenwert hat, in seinem letzten regulären Job die Kündigung, nachdem ihm seine psychischen Probleme immer mehr zu schaffen gemacht hatten. Nur dank dem Arbeitstraining habe er sich wieder aufrappeln können, um heute an diesem Punkt zu sein, ist er überzeugt.
Das Praktikum bei der Axa erlaubt es Andreas Springer, zumindest wieder einen Fuss in die Tür zum Berufsleben zu setzen. Der bis Ende April befristete Einsatz bildet voraussichtlich den Abschluss seiner Eingliederungsmassnahmen. Die Invalidenversicherung hat das Praktikum bewilligt, damit Springer den Nachweis erbringen kann, zumindest für ein 50-Prozent-Pensum arbeitsfähig zu sein. «Ein letzter Test unter realen Bedingungen», erklärt Espas-Gruppenleiter Eugen Strahm (siehe Nachfolgender Kasten «Reintegration»). Besteht Springer, erhält er einen Job-Coach der IV zugeteilt, der ihm hilft, eine dauerhafte Teilzeitstelle zu finden. Besteht er nicht, hiesse eine Option: Prüfung einer Vollrente – das Worst-Case-Szenario. Zentrales Kriterium ist, ob es gelingt, die krankheitsbedingten Fehlzeiten zu minimieren. Bisher ist der Mann, der früher zur See fahren wollte, auf Kurs.
«Andreas Springer erledigt seine Aufgaben als vollwertiger Angestellter», sagt Alfred Haug, der bei Axa Winterthur den Bereich Heilungskostenkontrolle leitet. Dort bietet der Versicherungskonzern seit fünf Jahren Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen die Chance, sich eine Zeitlang im Beruf zu bewähren. Die Befürchtung anderer Arbeitgeber, sich mit solchen Angeboten nur Probleme aufzuhalsen, teilt Haug nicht. «Wer lange von der Arbeit ausgeschlossen war, ist motiviert, es besonders gut zu machen», stellt er fest. Seinen Schützling Springer behandelt er so wie alle anderen zuvor – «so normal wie möglich». Er unterstütze ihn, ohne ihn zu verhätscheln, «das macht später nämlich auch niemand». In der Abteilung sei Springers Geschichte kein Thema, so Haug, und das sei ein gutes Signal – so sei er ein Kollege wie jeder andere. Ganz normal eben.
Und wenn Andreas Springer auf seine eigene Geschichte zurückblickt? Viel gelernt habe er, vor allem über sich selber: «Ich kann jetzt zu meinen Schwächen stehen und weiss, wo ich aufpassen muss. Und ich habe gelernt, offen über meine Gefühle zu reden.» Das Arbeitstraining bei Espas hat der 39-Jährige als fordernd erlebt – «aber das hat es wohl gebraucht, sonst wäre ich kaum vorwärtsgekommen». Gestresst haben ihn die periodischen Zwischeneinstufungen, als Dritte darüber entschieden, wie es mit ihm weiterging. Er hoffe, bald wieder selber über sein Leben bestimmen zu können, sagt er. Dabei ist ihm bewusst, dass sich demnächst wieder Fragen stellen, die nicht allein er beantworten kann. «Kriege ich den Job-Coach?» Und vor allem: «Gibt es in der momentanen Wirtschaftslage überhaupt Stellen für mich?» Sein Fazit: «Ich brauche in nächster Zeit wohl ziemlich viel Glück.»
Ein Unglück wäre, wenn abermals eine längere Phase der Ungewissheit eintreten würde. Andreas Springer kennt sich selber gut: Dann liefe er Gefahr, zu grübeln, sich zurückzuziehen – das mühsam wiedererlangte Selbstwertgefühl könnte sich erneut davonschleichen. Denn geheilt von der Agoraphobie, die ihn früher in eine totale soziale Isolation gebracht hat, ist er nicht. Er braucht weiterhin Medikamente und psychiatrische Begleitung. Doch seine Krankheit ist heute viel besser unter Kontrolle. Panikattacken hat er nur noch, wenn ein Ereignis eintritt, das ihn besonders stark belastet. Springer hat seine Angststörung einst mit einem lauernden Raubtier verglichen, das ihn jederzeit attackieren könne. «Jetzt fällt es mich nur noch an, wenn es spürt, dass ich geschwächt bin. Das Tier ist etwas feige geworden.» Sagts und lacht sein ansteckendes Lachen, das er sich die ganze Zeit bewahrt hat. Hinter dem Scherz verbirgt sich aber auch Entschlossenheit: Heute ist er so weit, den Angriffen zu trotzen.
Da sollte es auch mal erlaubt sein, die Gedanken fliegen zu lassen. Wovon träumt Andreas Springer? «Dass mich morgen jemand anruft und sagt: Springer, komm zu uns, wir haben Arbeit für dich.» Der Mann bleibt am Boden. Wie sagte er doch, gefragt, wie die Erfahrungen der letzten Zeit ihn verändert haben? «Ich bin bescheidener geworden. Das ist schon gut so.»
Eugen Strahm hat das Arbeitstraining von Andreas Springer begleitet. Jetzt ist er vorsichtig optimistisch.
Beobachter: Nach 15 Monaten lassen Sie Andreas Springer gehen. Mit welchem Gefühl?
Eugen Strahm: Mit einem guten, ohne überschwänglich zu sein. Die Richtung stimmt. Doch die wirkliche Bewährungsprobe folgt erst, wenn er sich in einem Job in der realen Wirtschaft durchsetzen muss. Er hat von seiner Leistungsfähigkeit her das Potential, es zu packen.
Beobachter: Ihnen liegt ein «Aber» auf der Zunge…
Strahm: Ja, einen Restzweifel gibt es immer. Die persönlichen Grenzen, die ihm seine Krankheit setzt, bleiben. Für ihn wird es wichtig sein, ein Umfeld vorzufinden, das diese Grenzen versteht und so weit als möglich toleriert.
Beobachter: Springers Zeit bei Espas war ein Auf und Ab. Ein üblicher Verlauf?
Strahm: Durchaus. Wir sind immer wieder an einen Punkt gekommen, wo wir feststellen mussten: Es reicht noch nicht ganz. Er hat einfach etwas mehr Zeit gebraucht, die ihm die IV zum Glück gegeben hat. Aber nach einer derartigen Krise die berufliche Wiedereingliederung zu schaffen dauert einfach eine Weile. Im Schnitt anderthalb Jahre sind üblich.
Beobachter: Bleiben wir bei der positiven Annahme: Weshalb schafft er den Weg zurück?
Strahm: Weil es über alles gesehen mehr Ups als Downs gab und er sich schrittweise stabilisieren konnte. Und weil seine Einstellung stimmt: Arbeit ist Andreas Springer enorm wichtig, er will unbedingt auf eigenen Beinen stehen. Zudem gibt ihm das jetzige Praktikum zusätzlichen Schub, den er noch gebraucht hat.
Interview: Daniel Benz
Eugen Strahm, 49, ist Gruppenleiter bei der Stiftung Espas in Winterthur. Er betreut Andreas Springer in dessen Eingliederungsprogramm. (Privataufnahme)