Den Lehnherr Werner kennt hier jeder. «Grüessech, Herr Lehnherr», sagen die Frauen. «Sälü Werner», sagen die Männer. Schliesslich war schon fast jeder einmal bei ihm im Büro, am langen Sitzungstisch, und hat seine Zukunft vor ihm ausgebreitet. «Ich muss zum Lehnherr», sagt in Frutigen BE einer, der ein Haus bauen will. Oder die Werkstatt vergrössern. «Gäld etlehne», heisst das dann. Und dafür muss man eben zum Direktor der Spar- und Leihkasse Frutigen (SLF).

Natürlich könnte man auch zur Raiffeisenbank, nur ein paar Häuser weiter. Aber die Alteingesessenen, die Haris, Haugs, Wandfluhs und wie sie alle heissen, die geschäften mit der «Frutigkasse».

Heute strahlt Werner Lehnherr. Es ist der grosse Tag im Jahr der Frutigkasse: Es ist Generalversammlung in der Eishalle Kandersteg. 1535 Frauen und Männer sind gekommen, um sich mit ihm über das gute Geschäftsjahr zu freuen.

Marcel Ospel kennt auch jeder. Und Alex Krauer erst recht. Aber «Sälü Marcel, hoi Alex»? Unvorstellbar. Und unmöglich. Zwar müssen sie denselben Eingang wie das Publikum benutzen. Aber das Händeschütteln bleibt dem Group Chief Executive Officer und dem Verwaltungsratspräsidenten der UBS erspart. Die «Global Players» warten in einem Nebenraum auf ihren Auftritt.

«Herzlich willkommen zur Generalversammlung der UBS AG», heisst es auf der riesigen Leinwand, als sie auf der Bühne Platz nehmen. Sie sehen nicht aus, als ob diese Veranstaltung zu ihren Lieblingsbeschäftigungen zählen würde. Immerhin gelingt Verwaltungsratspräsident Krauer schon beim zweiten Satz ein Lächeln. «Ich freue mich ganz besonders, dass diese Generalversammlung in Basel stattfindet», sagt er. «Das ist für mich eine Art Heimspiel.» Die 3450 Shareholder im Saal lächeln dankbar zurück.

In der Eishalle Kandersteg BE eröffnet Verwaltungsratspräsident Peter Allenbach die Versammlung. Als Erstes gratuliert er seinem Vorgänger, alt Nationalrat Fritz Hari. Der hat nämlich am europäischen Parlamentarier-Skirennen – «mit 71!» – den zweiten Platz herausgefahren, zusammen mit Bundesrat Adolf Ogi.

Nur Bundesrat Ogi fehlt
Ogi, der prominenteste Aktionär der Frutigkasse, hat sich für die Versammlung entschuldigen lassen. Dafür spielt die Musikgesellschaft den Bundespräsidentenmarsch «Freude herrscht». Ausser ein paar unverschämten Unterländern schmunzelt niemand.

Dann redet der Verwaltungsratspräsident. Vom Sturm «Lothar» und davon, dass es seither nicht mehr gleich aussieht im Tal. Und von der Gesellschaft, die durch die «passive Konsumation der Meinungsmache», die Medien also, entzweit wird. Und davon, dass es gut ist, «dass man wie heute zusammenkommt und miteinander redet».

Dann spricht er von der unerfreulichen Wirtschaftslage im Kanton Bern und davon, dass wieder mutigere Entscheide gefällt werden müssen. «Die Frutigkasse», ruft er in den Saal, «die Frutigkasse hat die Aufgabe, die einheimische Bevölkerung und Zuzüger mit vermehrt wertschöpfenden Ausleihungen zu unterstützen. Dazu brauchen wir auch Sparer. Gerade in der Zeit der Globalisierung ist der regionale Zusammenhang wichtig!» In der zweiten Reihe ruft einer Bravo. Es bleibt der einzige Zwischenruf des Nachmittags.

Die Bilanzsumme der Spar- und Leihkasse Frutigen belief sich 1999 auf 863,3 Millionen Franken. Im Jahresbericht steht: «Es freut uns, dass wir unsere Aktionärinnen und Aktionäre erneut über ein erfolgreiches und gutes Geschäftsjahr informieren dürfen.»

Die Bilanzsumme der UBS AG betrug im vergangenen Jahr 981,57 Milliarden Franken. «Wir freuen uns, Ihnen über ein gutes Geschäftsjahr 1999 berichten zu können», heisst es im Jahresbericht.

Die Freude lässt sich an Marcel Ospels Gesicht nur schwer ablesen, trotz der riesigen Leinwand, auf die es projiziert wird. Der CEO schaut ernst, als er vom Gewinn der Division «Private Banking» spricht (2,65 Milliarden), noch ernster, als es um die Division «Privat- und Firmenkunden» geht (Gewinn: 1,16 Milliarden) – und geradezu besorgt, als er auf das «Asset Management» und die «UBS Capital» zu reden kommt (Gewinn: 500 Millionen).

Auch von den Löhnen und Bonuszahlungen spricht Marcel Ospel. Muss er auch. Schliesslich stand in der Zeitung, dass die 50-köpfige Konzernspitze jährlich 190 Millionen Franken kassiert. Und dass es junge Börsenhändler bei der UBS mit etwas Talent und Glück jährlich zu einigen Millionen bringen können.

Das wollen die Kleinanleger im Saal erklärt haben. Schliesslich sind ihre Aktien nur noch 430 Franken wert, fast 100 Franken weniger als im Jahr davor. Und andere kassieren.

UBS-Kleinaktionäre protestieren
«Das Finanzgeschäft», sagt der Konzernchef, «ist ein Personengeschäft, und Erfolg oder Misserfolg hängen von den verfügbaren, hoch qualifizierten Spezialisten ab. Wenn wir diese für uns gewinnen wollen, müssen wir auch bezüglich Kompensationen konkurrenzfähig sein.»

Auf der Tribüne brummt einer: «Der kann schon reden, mit seinem Zapfen.» Andere machen ihrem Ärger vor dem Publikum Luft, die Diskussion ist eröffnet. Wer etwas sagen will, meldet sich am «Wortmeldeschalter» und wird dann vom Verwaltungsratspräsidenten auf die Bühne geheissen.

Dort, sichere zehn Meter abseits des offiziellen Podiums, treten die Empörten und Enttäuschten unter den Aktionärinnen und Aktionären auf: der ältere Herr, der meint, dass die Kleinanleger nicht ernst genommen werden; der Mann, der wissen möchte, was denn die Buchstaben «UBS» eigentlich heissen – und die Frau, die eine Million des Gewinns gerne an Hilfswerke spenden möchte.

Auf der riesigen Leinwand sehen die Rednerinnen und Redner klein aus. Nur wenn der Präsident spricht, zoomt die Kamera ganz nah auf sein Gesicht. Und wenn einer der Shareholder ausfällig wird, stellt der Präsident per Fernbedienung einfach das Mikrofon ab. Alex Krauer hat schon viele Generalversammlungen hinter sich gebracht.

«Hat jemand unter "Diverses" noch etwas zu sagen?» Verwaltungsratspräsident Peter Allenbach hat soeben die Liste der über 85-jährigen Aktionärinnen und Aktionäre heruntergelesen, die an der Versammlung teilgenommen haben. 46 sind es. Irgendwann in den nächsten Tagen wird Prokurist Klaus Greber bei ihnen mit einem Blumenarrangement auftauchen. Als Dank für die Treue zur Frutigkasse.

Frutigkasse-Anleger sind zufrieden
Auf die Frage des Präsidenten meldet sich niemand. Weshalb jetzt noch etwas sagen? Schliesslich hat doch Werner Lehnherr vorher versichert, dass der Shareholder-Value für eine Regionalbank nicht die oberste Maxime sein darf. Dass die Sparerinnen und Kreditnehmer ebenso wichtig sind. Und schliesslich muss man sich als Frutigkasse-Aktionär auch nicht über hohe Bonuszahlungen ärgern. Die gesamte Lohnsumme beträgt laut Jahresbericht exakt 3,845 Millionen Franken – Direktoren und Verwaltungsratsentschädigungen inklusive.

Nur Vizepräsident David Wandfluh wünscht noch das Wort. Er dankt und fordert zum Applaus für den Verwaltungsratspräsidenten und den Direktor auf. Der Saal klatscht. Es ist 16.19 Uhr, die 163. Generalversammlung der Frutigkasse ist vorbei. Der wichtigste Teil des Tages naht.

NUm 17.49 Uhr, nach drei Stunden und 19 Minuten, sind auch die UBS-Anleger erlöst. In den Gängen der Basler Sankt-Jakobs-Halle kann der Kampf um Käseküchlein, Silserli, Pouletschenkel und Erdbeertörtchen beginnen.

Sandwichberge und volle Gläser
Zwei Stunden hat sich das Servicepersonal freundlich, aber beharrlich gewehrt. Hat «Ja, die Fleischbällchen gibts auch dieses Jahr wieder» gesagt – oder: «Nein, wir dürfen erst nach dem Versammlungsende mit dem Service beginnen.»

Junge Frauen in schwarzen Jupes und weissen Blusen haben Speckgugelhöpfe auf den Stehtischen verteilt und mit Servietten zugedeckt. Allerdings vergeblich. Wer nicht mehr warten mochte, würgte die trockenen Stücke auch ohne Drink hinunter und verfolgte Alex Krauers Ausführungen zu kritischen Publikumsfragen via TV-Bildschirm.

Jetzt endlich öffnen sich die Deckel der Warmhalteschalen, geben den Blick frei auf Appetithappen, auf hoch getürmte Sandwichberge. Jetzt endlich sind die Gläser voll. Jetzt darf zugelangt werden.

Die Verwaltungsräte und Direktionsmitglieder sind gehalten, sich nach der Versammlung unters Volk zu mischen. Verwaltungsratspräsident Alex Krauer, schreibt das Wirtschaftsmagazin «Bilanz», stehe jeweils nach dem Sonntagsspaziergang in einem Selbstbedienungsrestaurant an, «wie alle anderen Normalsterblichen auch».

Der Mann muss sich wohl fühlen hier: Bauch an Rücken, drängeln sich die Normalsterblichen vor den Tischen, in einer Hand den Teller mit Glashalter, die andere Hand frei. Da brauchts kein Servicebesteck mehr, da wird zugepackt.

Zum Uberlegen bleibt keine Zeit, von hinten schubsen hungrige Kleinanleger. Man stapelt auf den Teller, was einem unter die Finger kommt: Silserli, Canapes, Süssigkeiten. Was nicht auf dem Teller Platz hat, wandert in den mitgenommenen Plastikbeutel und dann in die Handtasche. Für die Rückreise, schliesslich ist alles gratis. Wer Aktien hat, dem wird gegeben.

42'000 Häppchen fürs Volk
Dann stehen die Shareholder an den viel zu kleinen Tischen und essen. Vor sich schmutzige Gläser und abgenagte Hühnerknochen. Noch ein Sandwich. Und noch ein Schinkengipfeli. Das Erdbeertörtchen spart man sich für den Schluss.

«Früher, beim Bankverein, wars besser», sagt einer zwischen zwei Bissen. «Ubrigens, kommst du auch zur Ciba-Spezialitätenchemie?»

An der Generalversammlung der UBS in der Sankt-Jakobs-Halle haben 3450 von rund 200000 Shareholdern teilgenommen. Sie besitzen 46 Millionen oder 52,16 Prozent der stimmberechtigten Aktien. Für ihre Verpflegung stehen 42'000 Appetithäppchen bereit, zwölf Stück pro Person.

Essensbon für 40 Franken
Zur Generalversammlung der Spar- und Leihkasse Frutigen sind 1535 von 4160 Aktionären nach Kandersteg in die Eishalle gekommen. Sie vertreten 16'057 oder 50,17 Prozent der stimmberechtigten Aktien. Für die Verpflegung erhält jeder und jede einen Gutschein über 40 Franken, einlösbar bis zum 31. Dezember 2000 in allen Gasthäusern des «Frutiglandes».

Im Restaurant der Eishalle Kandersteg schlängelt sich die Serviererin mit Tabletts voller Biergläser zwischen den Stühlen hindurch. Im Bahnhofbuffet nebenan gibts Kaffee und Kuchen. Bezahlt wird bar, der Gutschein bleibt im Portemonnaie. Den löst man an besseren Adressen ein.

In der «Blümlisalp» etwa. «Geniessen Sie bei uns nach der Versammlung gemütlich ein Glas Wein oder ab 17.00 Uhr unser SLF-Menü zu SFr. 40.–», hat die Wirtin schon eine Woche zuvor per Inserat im «Frutiger Amtsanzeiger» vorgeschlagen.

Die Verwaltungsrätinnen Susanne Bettschen und Elisabeth Hartmann sind mit der Familie da. Auch Verwandte aus Zürich sind gekommen. Nur einer fehlt: Credit-Suisse-Chef Lukas Mühlemann – «Coucousin» der beiden Verwaltungsrätinnen und Frutigkasse-Aktionär dank Sonderbewilligung seines Arbeitgebers – hat sich entschuldigt.

«Die Generalversammlung ist ein wichtiges Ereignis», sagt Susanne Bettschen. Sie freue sich immer darauf, «schliesslich bin ich damit aufgewachsen». Ihr Vater Otto Stoller war 31 Jahre lang «Verwalter» der Frutigkasse, Bankdirektor also. Früher fand die Aktionärsversammlung noch in Frutigen im «Lötschberg» statt, mit «Chäsbrätel» zum Abschluss. Der Verwaltungsrat ging einmal pro Jahr separat essen, ein anderes Menü.

Im «Blümlisalp»-Saal ist das «kleine Appetithäppchen» verschlungen, und zugeprostet hat man sich auch. «Vor acht Jahren haben wir mit der Aeschikasse fusioniert», sagt alt Verwaltungsratspräsident Fritz Hari, «seither gab es keine sehr spannenden Versammlungen mehr. Das Essen ist heute fast das Wichtigste.»

Kurz bevor der «Fantasiesalat» serviert wird, erzählt er noch, wie er früher als Präsident vor der Versammlung jeden Teilnehmer einzeln begrüsste, mit Handschlag. «Doch das geht heute nicht mehr, wegen der Handgelenke.»

In der Gaststube des Hotels «Des Alpes» spielt das Duo Edelweiss Volkstümliches. Die Wirtin lädt zu «Kaffee, Apero oder Nachtessen». Das Salatbuffet im Saal ist noch unberührt; das «Des Alpes» ist nicht die Adresse, wohin man nach der Versammlung geht. Am einzigen besetzten Tisch sitzen Agathe Busslinger und eine Begleiterin.

«Am Abend nicht allein zu Hause»
Früher seien nur die Männer zur Versammlung gegangen, sagt Agathe Busslinger, «und dann gingen sie essen und danach auf Beizentour». Auch Stumpen und Kirschfläschli habe es gegeben, damals. Sie komme gerne an die Versammlung, sagt Agathe Busslinger, «ein Abend weniger, an dem man allein zu Hause sitzt». Dieses Jahr gabs für sie schon zum dritten Mal Blumen, weil sie über 85 ist.

«Zum Abschluss des Tages haben wir einen speziellen kulinarischen Markt zusammengestellt», heisst es im Inserat des «Waldhotels Doldenhorn». Und: «Gerne erwarten wir Ihre Reservation.»

110 Personen haben sich angemeldet, volles Haus. «Wir kommen jedes Jahr hierher», sagt ein Aktionär zwischen Hauptgang und Dessert, «mit den beiden Schwägerinnen und ihren Männern.» Den Tisch reserviere er immer schon im Februar.

Shareholder essen sich durch
Ins «Doldenhorn» geht man sonst nur, wenn der Göttibub konfirmiert wird. Oder wenn die Tochter heiratet. Aber mit einem 40-Franken-Gutschein sieht das natürlich anders aus. Dann steht man am Vegistand für Grünes an. Lässt sich am Fischstand Meeresfrüchte servieren. Wartet auf die saftigen Stücke am Grillstand. Und lädt sich schliesslich am Dessertstand süsse Kombinationen auf den Teller. Man isst sich durch. Und legt zum Schluss mit einer Mischung aus Nonchalance und Verlegenheit den Bon auf den Tisch. Dafür gibts beim Wein ein Trinkgeld. «S isch guet so.»

20 Uhr. In der Eishalle Kandersteg haben die Mitglieder des Eishockeyklubs Stühle und Podium längst zusammengeräumt. Der Sanitäter, der bis zuletzt gewartet hat – «Vielleicht klemmt sich noch einer den Finger ein» –, ist abgezogen.

Auch in den Gängen der Sankt-Jakobs-Halle in Basel beginnt das grosse Aufräumen. Es muss schnell gehen, denn die Nächsten warten. Morgen findet hier die jährliche Versammlung der «Zertifikatsinhaber» der Basellandschaftlichen Kantonalbank statt. Zum Dinner werden 5500 Gäste erwartet.