Zürich, Bahnhofstrasse. Vor den Schaufenstern der UBS beginnt das tägliche Mittagsritual: Leute bleiben stehen, werfen gezielte Blicke auf eine der unzähligen Zahlenreihen auf den Bildschirmen, nicken zufrieden oder zucken mit den Schultern – und gehen weiter.

Zum Beispiel der pensionierte Banker: Er hat vor einigen Tagen Lonza-Aktien gekauft – «für 630 Franken». Jetzt stehen sie bei 655 Franken pro Stück. «Die steigen noch weiter, garantiert.» Der 18-jährige Wirtschaftsgymnasiast Daniel Weber hält «UBS und etwas Ebner» in seinem Portefeuille und würde gern auf weitere Blue Chips setzen. Und der Aussendienstmitarbeiter Erich Marrer besitzt Optionen und Roche-Aktien. «Ich arbeite dort.»

Die Schweizerinnen und Schweizer haben das Börsengeschäft entdeckt. Wer etwas auf sich hält, hat eine Ahnung von «Dow Jones» und «New Economy» und besitzt mindestens einige Aktien oder Fondsanteile.

Am Ende des Rekordbörsenjahrs 1998 lagen in den Wertschriftendepots der Schweizer Banken Aktien und Fondsanteile im Wert von 881 Milliarden Franken. 310 Milliarden davon wurden gemäss der Wertpapierstatistik der Nationalbank von «inländischen, unselbstständig Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen» gehalten – also von Angestellten und Rentnern. Ein Jahr danach explodierten die Werte geradezu: Ende 1999 hatten die Aktien und Anlagefonds einen Gesamtwert von 1069 Milliarden Franken; 413 Milliarden davon waren im Besitz von Privaten.

Riesenumsätze dank Kleinanlegern
Solche Zahlen lassen nicht bloss die Herzen der Anleger höher schlagen, auch die Finanzinstitute frohlocken: Das Geschäft mit Kleinanlegern bringt gute Margen – und es wächst weiter. Gemäss einer Umfrage der Kantonalbank-Tochter Swissca ist die Zahl der Fondsanleger in den vergangenen drei Jahren von 11 auf 27 Prozent gestiegen. UBS und Postfinance sprechen sogar von 33 Prozent. Bald jeder zweite Schweizer und jede zweite Schweizerin wissen ausserdem, dass ein Fonds ein Sammeltopf aus kleinen, professionell verwalteten Anlagevermögen ist.

Woher kommt das plötzliche Interesse an der Börse? Selbst Experten geraten ins Grübeln. «Seit Beginn der neunziger Jahre sind die Zinsen auf Sparkonten von knapp fünf auf rund ein Prozent gesunken», sagt Roger Kunz von der Abteilung Economic Research bei der Credit Suisse (CS). «Da hatten die Banken gute Argumente, um Kleinsparer zum Börseneinstieg zu motivieren.» An der Börse tut sich tatsächlich einiges: Allein in den letzten zehn Jahren legte der Swiss Performance Index (SPI) der wichtigsten Schweizer Aktien um fast 500 Prozent zu.

60 Millionen über Nacht verdient
Zudem waren die Geschichten vom «wundersamen Reichtum über Nacht» in den vergangenen zwei Jahren fast täglich in den Medien zu lesen und zu hören. Die Geschichte von David Nüscheler etwa, dem Technologiechef von Day Interactive. Die Basler Software-Firma, die 1999 noch einen Verlust von 2,3 Millionen schrieb, erreichte an ihrem ersten Handelstag an der Schweizer Börse SWX New Market einen Wert von 726 Millionen Franken. Der Anteil des 25-jährigen Studienabbrechers Nüscheler war an jenem Abend 60 Millionen Franken wert.

Solche Zahlen beflügeln die Fantasie – auch unter Leuten mit kleinem Portemonnaie. «Die exorbitanten Kurssprünge von Firmen wie Day Interactive haben Illusionen genährt», sagt Hermann Plüss, Anlageberater bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB). «Berichte über solche Wertsteigerungen lassen bei vielen Leuten Geldgier aufkommen.» Eine Erfahrung, die auch Plüss’ Berufskollege Cedric Bürgin von der UBS macht: «Vor allem Junge kommen oft mit einem fiebrigen Blick zu uns. Wer jedoch aufs schnelle Geld aus ist, den schicke ich ins Spielkasino.»

Dort sind die Gewinnaussichten mitunter grösser als an der Börse. Denn Kleinanleger haben kaum Chancen, beim grossen Börsenspiel mit Internet- und Biotechaktien gross mitzumischen. «Manchmal rufen mich Kunden an, die 1500 Franken auf dem Konto haben, aber für 20'000 Franken Aktien einer Technologiefirma zeichnen wollen, die in den kommenden Tagen an die Börse geht.»

Kleinanleger ziehen den Kürzeren
«Kleininvestoren haben im Normalfall nicht die geringste Chance, an solche Aktien heranzukommen», sagt Bürgin. «Beim Börsengang von Day Interactive erhielt nur ein Prozent unserer Kunden Aktien.» Selbst treue Klienten gingen leer aus: Das Los entschied, wer investieren durfte.

Doch die Erfolgsgeschichten zeigen auch bei Kleinanlegern Wirkung, die nur indirekt mit Fondsanteilen an der New Economy teilhaben können. Die Sparstrümpfe sind gefüllt – die Spareinlagen bei Schweizer Banken wuchsen zwischen 1989 und 1999 um 170 Prozent –, und die Leute sind wagemutig. Das Sparkonto ist out, eine Rendite von knapp über einem Prozent reicht vielen nicht mehr. «Die Kunden sind heute eher bereit, Risiken einzugehen», sagt UBS-Anlageberater Bürgin.

CS-Ökonom Roger Kunz hat noch eine weitere Erklärung für die Spekulationslust: «In den neunziger Jahren erlebten wir einen einmaligen Börsenboom. Die Anleger haben dabei fast nur die positive Seite des Risikos erfahren, nämlich steigende Kurse.»

Mahnende Stimmen mehren sich
Ein Land im Börsenfieber? Hat das Streben nach dem maximalen Shareholder Value, das während der Rezession als Jobkiller Nummer eins galt, plötzlich seinen Schrecken verloren?

Vieles deutet darauf hin. Jeder Dritte in der Schweiz ist am Kapitalmarkt beteiligt. Die Anzahl der angebotenen Fonds ist allein 1999 um zehn Prozent gestiegen. Und: Die Aktienkurse, das verlässlichste Indiz für das Interesse an der Börse, steigen trotz diversen Rückschlägen weiter.

Bereits mehren sich warnende Stimmen. Felix Bührer, Geschäftsleitungsmitglied der Alternativen Bank Schweiz, erachtet den gegenwärtigen Zustand als «Stimmungsmache», bei der nur wenige profitieren. Bührer: «Realwirtschaftlich betrachtet erkenne ich hinter dem Börsenboom weder Produktivitätsfortschritte noch besonders geschickt geführte Firmen.»

Leise Befürchtungen, dass die «Luftblase platzt», hegt auch CS-Volkswirtschaftler Roger Kunz. «Möglicherweise nähern wir uns einer so genannten"Dienstmädchenphase"», sagt er.

Mit dem politisch nicht korrekten Ausdruck wird der Moment bezeichnet, in dem sich routinierte Anleger von der Börse zurückziehen, weil euphorische Neueinsteiger eine Hausse verursachen, die früher oder später zum Kurssturz führt. Kunz: «Problematisch wirds, wenn sich plötzlich viele Leute an der Börse tummeln, die allfällige Verluste finanziell nicht verkraften können.» Sprich: wenn Kleinanleger hochriskante Geschäfte tätigen.

Auch Gymnasiast Daniel Weber weiss, «dass es an der Börse langsam kritisch wird, wenn Leute wie ich mitmischeln». Er hat kürzlich einiges aus seinem Portefeuille verkauft – nicht aus Angst vor einem Crash allerdings: Die Fahrprüfung steht an, «und dazu muss ich liquide sein».