«Früher war alles viel einfacher»: Beim Thema Pränataldiagnostik trifft der immer wieder zu hörende Spruch wirklich zu. Nicht dass eine Schwangerschaft vor 50 Jahren einfacher gewesen wäre. Aber es wurde weniger Aufhebens darum gemacht.

«Schwangerschaft war für mich etwas ganz Normales», sagt die achtfache Grossmutter Anna Venegoni. Die 76-jährige Glarnerin ist Mutter von fünf Kindern und merkte jeweils lange nichts von ihren Schwangerschaften. Erst etwa im fünften Monat ging sie zum Hausarzt und liess sich den Bauch abtasten. Ein Blut- und ein Urintest wurden noch gemacht – damit hatte es sich aber auch schon.

Heute sieht das alles ganz anders aus. «Schwangerschaften werden a priori als Risiko betrachtet», sagt Suzanne Braga, Fachärztin für medizinische Genetik in Bern. Bereits sehr früh suchen die Ärzte nach Hinweisen auf eine mögliche Behinderung der Föten.

Gutes Geschäft für die Labors
Mit dem neu eingeführten Erst-Trimester-Test kann schon ab zehnter Schwangerschaftswoche das individuelle Risiko für ein Down-Syndrom (auch Trisomie 21 oder Mongolismus genannt) oder eine andere Störung der Chromosomen berechnet werden. Ähnlich funktioniert auch der Bluttest AFP-Plus. Diese zwei Tests werden laut Schätzungen von Fachleuten bereits bei rund zwei Dritteln aller Schwangeren durchgeführt.

Davon profitieren insbesondere die Labors, die die Tests auswerten. «Mit dem Argument, alle Frauen sollen von den vorgeburtlichen Untersuchungen profitieren können, wurde der Erst-Trimester-Test vorangetrieben», kritisiert die Zürcher Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle. Ursprünglich wurden nämlich nur bei so genannt Risikoschwangeren – zum Beispiel Frauen über 35 oder erblich vorbelasteten – umfassende vorgeburtliche Untersuchungen unternommen und von den Versicherungen bezahlt. Jetzt werden diese Tests immer mehr auch bei Schwangerschaften ohne erhöhtes Risiko durchgeführt.

Brisant ist, dass die Krankenkassen die Kosten für den Erst-Trimester-Test bereits übernehmen, obwohl er noch gar nicht zu den Pflichtleistungen gehört. «Der Antrag dafür ist noch hängig. Deshalb darf er eigentlich von der Grundversicherung nicht bezahlt werden», erklärt Gertrud Mäder vom Bundesamt für Sozialversicherung. Reto Guetg, Vertrauensarzt beim Konkordat Schweizer Krankenkassen, meint dazu nur: «Bei schwangeren Frauen sind die Kassen kulant.»

Und trotzdem findet Humangenetikerin Suzanne Braga es problematisch, dass die frühen vorgeburtlichen Tests immer mehr zu Routineuntersuchungen werden. Denn mit diesen Tests werden keine Diagnosen gestellt, sondern ausschliesslich Risiken berechnet. Wenn vom Arzt oder von der Ärztin eine Behinderung gefunden wird, gibt es meist keine medizinische Therapiemöglichkeit. Die Störungen können also mehr oder weniger zuverlässig festgestellt, aber nicht behandelt werden. Ob sie das Kind behalten möchten oder die Schwangerschaft abbrechen wollen, müssen dann die Eltern entscheiden.

«Je früher in der Schwangerschaft nach möglichen Missbildungen gesucht wird, desto mehr findet man sie auch», erklärt Roland Zimmermann, leitender Arzt für Geburtshilfe am Unispital Zürich. Es bestehe eine Tendenz zur Überdiagnostik, kritisiert er. «Eine Garantie für ein gesundes Kind gibt es aber trotz allen pränatalen Tests nicht», bringt Braga es auf den Punkt. Die allermeisten Behinderungen ergeben sich durch die Geburt oder durch Krankheiten oder Unfälle danach. Tatsächlich kommen nur ein bis drei Prozent aller Kinder behindert auf die Welt. Verunsichert sind viele werdende Eltern dennoch. So auch die 29-jährige Krankenschwester Eva Strucken. Als sie vor drei Jahren schwanger wurde, liess sie sich ohne grosse vorgängige Beratung testen. Nach einem Anruf ihrer Ärztin erlebte sie «die schlimmste Zeit meines Lebens». Die Untersuchung zeigte, dass ein erhöhtes Risiko für ein behindertes Kind bestand. «Niemand konnte mir helfen. Ich fühlte mich völlig allein gelassen mit diesem Resultat», erinnert sie sich. Heute ist ihr Sohn gut zwei Jahre alt – und völlig gesund.

Bei ihrem zweiten Kind hat Eva Strucken keine vorgeburtlichen Tests mehr gemacht. Weshalb auch? Wirkliche Klarheit hätte ohnehin erst ein weiterer Test gebracht. Auf dessen Resultat muss man aber drei quälend lange Wochen warten. Heute brechen über 90 Prozent der Frauen mit der Diagnose Trisomie 21 die Schwangerschaft ab.

«Je früher so ein Test gemacht wird, desto geringer ist die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind. Dementsprechend leichter treibt sie ab, wenn eine Behinderung vorliegt», erklärt Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin des Instituts für Ethik im Gesundheitswesen in Zürich. Sehr bedenklich findet sie, dass viele Menschen glauben, mit vorgeburtlichen Untersuchungen sei behindertes Leben vermeidbar. Zudem stellt sie fest, dass der gesellschaftliche Druck auf die Mütter gestiegen ist, nur ein gesundes Kind zu gebären.

Ähnlich urteilt auch Clara Bucher, Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbands: «Schwangere, die sich gegen die vorgeburtlichen Untersuchungen wehren, sind oft harter Kritik ausgesetzt – sowohl von Seiten der Ärzte als auch vom persönlichen Umfeld.» Behinderte sind in der heutigen Gesellschaft immer noch nicht vollständig akzeptiert.

Eingehende Beratung der Eltern
Das erfahren auch viele Eltern von Trisomie-21-Kindern. Dazu gehören Adrian und Ursula S. aus dem Berner Mittelland. Ihre mongoloide Tochter ist heute vier Jahre alt. Sie haben Aussagen wie «Ein behindertes Kind muss doch in der heutigen Zeit nicht mehr auf die Welt kommen» auch schon gehört. «So was tut uns sehr weh», sagt Ursula S. Man müsse sich mit der Zeit schon eine dicke Haut zulegen.

Claudia Babst, Zentralsekretärin der Elternvereinigung Insieme, die sich für Menschen mit geistiger Behinderung einsetzt, weist darauf hin, wie wichtig eine ausführliche Beratung ist. Damit die Mütter und Väter wirklich frei entscheiden können, müssten sie Bescheid wissen über die angebotenen Tests, die Lebenssituation behinderter Menschen, die medizinischen Gegebenheiten und die damit verbundenen Risiken. «Nur so können sie sich unabhängig für oder gegen ein behindertes Kind entscheiden», sagt Babst. Insieme fordere deshalb schon seit Jahren unabhängige Beratungsangebote.

Das neue Bundesgesetz über genetische Untersuchungen am Menschen soll nun endlich Klarheit in Sachen vorgeburtliche Tests schaffen. Im Frühling kommt der Gesetzesentwurf vor die Räte. Neu soll jede Art von Pränataldiagnostik von einer umfassenden Beratung über genetische Aspekte begleitet werden. Bis es so weit ist, wird munter weitergetestet.