Im persönlichen Gespräch kam der Visana-Vertreter zur Sache. «Die teuren Versicherten solltest du in andere Krankenkassen versetzen», sagte er im Januar der Leiterin einer kleinen Ostschweizer Visana-Filiale. «Eine Namenliste hast du ja schon.» Die Frau war schockiert: «Diese Leute haben über Jahrzehnte teure Prämien bezahlt, und jetzt werden sie kaltschnäuzig rausgeschmissen.»

Eine neue Abschiebeaktion von Alten und Kranken? Das Vorgehen der Visana-Geschäftsstelle in St. Gallen lässt zumindest aufhorchen:

  • Mitte Oktober 1999 erhalten die lokalen Filialen eine Liste mit den Namen von Versicherten aus ihrem Einzugsgebiet. Es handle sich um Leute, «die bei einer Versicherungserhöhung mit einem Ausschluss oder einer Ablehnung rechnen müssten», heisst es im Begleitbrief. Im Klartext: Es sind Kunden, die die Visana sehr viel Geld kosten. Auffallend ist die Häufung der Jahrgänge 1900 bis 1930.

  • Eine Woche später doppelt der Leiter der St. Galler Geschäftsstelle in einer Mitteilung nach: «Warum benützen wir nicht die Gelegenheit, wenn Versicherte auf der ihnen zur Verfügung gestellten Liste Einsparmöglichkeiten suchen, diese zu günstigeren Anbietern zu wechseln?» Verknüpft wird der Aufruf mit einem Tipp: «Empfehlen Sie aber nicht nur den billigsten Versicherer, sondern sprechen Sie von zwei oder drei "günstigeren" Krankenversicherern.» Ein «Prämienvergleich 2000» liegt bei.

  • Im Januar gibt die St. Galler Zentrale die «Marktbearbeitung Januar bis September 2000» bekannt. Neben «Kundenbindung», «Kundenzufriedenheit» oder «Gewinnung neuer Kunden» gehört die «Verbesserung der Risikostruktur» zu den Zielen. Was das unter anderem heisst, erfahren die lokalen Stellenleiter allerdings nur mündlich: Die teuren Kunden auf der Liste vom Oktober seien abzustossen.

Die Visana-Zentrale in Bern reagiert alarmiert auf die Recherchen des Beobachters. «Unsere Weisung ist ganz klar: Es gibt keine Abschiebungen», sagt Fritz Zaugg, Mitglied der Geschäftsleitung. «Jeder Versicherte entscheidet selber, ob er unser Kunde sein will oder nicht.»

Nervosität in der Visana-Zentrale
Fritz Zaugg hat sich die in St. Gallen verfassten Rundschreiben unterdessen besorgt. Sein Fazit: «Mit der Andeutung, die Personen auf der Liste seien "zu günstigeren Anbietern zu wechseln", hat sich der Geschäftsleiter zu weit aus dem Fenster gelehnt.» Verurteilen will Fritz Zaugg den Kadermann und dessen Aussendienstmitarbeiter jedoch nicht. Er glaube den Beteuerungen des Teams, dass in St. Gallen keine Kunden abgeschoben würden.

Klar ist: Eine in Bern ausgeheckte nationale Konzernstrategie zur Abschiebung schlechter Risiken gibt es nicht. Das bestätigen Visana-Mitarbeiter in anderen Regionen. Die Nervosität in der Chefetage hat aber guten Grund. 1997 lancierte die überalterte Berner Kasse ein Konzept, wie zu teure Versicherte bei anderen Krankenkassen untergebracht werden könnten. Als die Sache bekannt wurde, stand die Visana am Pranger. Ein Jahr später folgte der freiwillige Rückzug aus acht Kantonen – begleitet von öffentlicher Schelte.

Das Resultat war ein riesiger Imageschaden und Kundenschwund: Innert drei Jahren sank die Zahl der Versicherten von 1,1 Millionen auf weniger als 600'000. Auch letzten Herbst wanderten wieder 28'000 Mitglieder ab. «Unsere Prämien sind immer noch hoch», begründet Visana-Sprecher Urs Pfenninger den Aderlass.

Die Visana kämpft um ihren Ruf
Inzwischen versucht die Visana, den angeschlagenen Ruf durch seriöse Arbeit im Hintergrund aufzupolieren. In öffentlichen Gesundheitsdebatten hält sie sich auffallend zurück. Und auf dem Werbemarkt war sie im letzten Herbst kaum präsent. Querschläger und negative Schlagzeilen sind in diesem Prozess unerwünscht. Deshalb beschafft sich die Zentrale jetzt alle Rundschreiben und Weisungen der regionalen Geschäftsstellen.

Offen steht die Visana zu ihrem Informationskonzept. «Wenn sich unsere Kunden nach Sparmöglichkeiten erkundigen, gehört der Hinweis auf günstigere Krankenkassen dazu», sagt Fritz Zaugg. Tatsächlich können St. Galler Versicherte bis zu 50 Franken im Monat sparen, wenn sie ihre Grundversicherung bei einer Konkurrenzkasse abschliessen. Diese Methode ist in der Branche gang und gäbe. Doch was heisst «Aufklären über günstigere Kassen»? Und wann beginnt das «Auffordern und Uberreden zum Kassenwechsel»?

Speziell im Dilemma sind nebenamtliche Visana-Filialleiter, die nach Kundenzahl entlöhnt werden. Mit jedem verlorenen Mitglied sinkt ihr Salär um CHF 1.65.