Die 70-jährige, kleingewachsene und etwas ängstliche Teresa Bernasconi* ist eine Betrügerin – das behauptet die Tessiner Staatsanwaltschaft. Im Frühling 2015 wird sie zum Verhör aufs Polizeirevier vorgeladen. Sie ist fassungslos. Und als ihr der Polizist den Grund für die Einvernahme nennt, bricht für sie eine Welt zusammen.

Das Drama beginnt 2003 in der zahnmedizinischen Klinik der Uni Bern: Bernasconi, ehemalige Mitarbeiterin im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, möchte ihre bröckelnden Schneidezähne reparieren lassen. Man empfiehlt der gebürtigen Tessinerin, wegen des zeitlichen Aufwands die Behandlung in ihrem Wohnkanton vornehmen zu lassen; zum Beispiel bei Dr. Guglielmo Costa.*

Ihr Mund ist ein Desaster, sagt Dr. Costa

Als Teresa Bernasconi die Praxis des Zahnarztes in Lugano betritt, ist sie überzeugt, dass sie gesunde Zähne hat – bis auf die Schneidezähne eben. Dr. Costa ist anderer Meinung: Ihr Mund sei ein Desaster. Es folgt eine Behandlungs-Odyssee, die Jahre dauert. Dr. Costa reisst Zähne aus, verankert Implantate, setzt Kronen, behandelt Wurzeln, ersetzt Füllungen. Auch die beiden Schneidezähne – der eigentliche Grund für den Besuch – versieht er mit Kronen. Doch die fallen schon nach kurzer Zeit heraus. Nun sei nichts mehr zu machen, meint der Zahnarzt, es brauche Implantate. Doch die Kronen halten auch auf den zwei Implantaten nicht und lösen sich immer wieder. Nach dem vierten Mal – die Rechnungen haben inzwischen die Höhe von 35'000 Franken erreicht – ist Bernasconi psychisch wie physisch am Ende. «Nein, ein fünftes Mal lasse ich mich nicht mehr von diesem Zahnarzt behandeln», schwört sie und sucht einen neuen Dentisten.

Kostet 10'000 Franken, sagt Dr. Buzzi

Eine Bekannte empfiehlt 2008 Dr. Tommaso Buzzi*, der schon vielen Promis auf den Zahn gefühlt haben soll. Der Gang zum Zahnarzt werde bei ihm zum Verwöhn- und Lifestyleprogramm, sagt man. Nach all dem Schmerz, den Teresa Bernasconi ertragen musste, klingt das verlockend. Dottor Buzzi repariert für 10'000 Franken die Schneidezähne und setzt zwei neue Kronen unten links. Doch auch diese Kronen halten nicht lange.

Ein klassischer Garantiefall, denkt die Patientin. Doch der Verwöhn- und Lifestylezahnarzt erkundigt sich nach ihrer Unfallversicherung. Es entspinnt sich ein merkwürdiger Dialog.

«Wir lassen das aussehen wie einen Unfall. Das machen viele so.»

Teresa Bernasconi: «Sie meinen, Ihre Versicherung übernimmt das?»

Dottor Buzzi: «Nein, ich meine Ihre Versicherung. Wir lassen das aussehen wie einen Unfall. Das machen viele so.» Er zieht aus einer Schublade ein Dossier und wühlt darin: «Dieser hier hat einen Unfall in der Küche angegeben.»

Teresa Bernasconi schüttelt ungläubig den Kopf und bemerkt nach einer Weile: «Also wenn schon, dann im Bad. Da rutscht man schon eher mal aus.»

Später wird sie erfahren, dass der Zahnarzt gegenüber den ermittelnden Behörden den Vorfall mit umgekehrten Rollen schildert: Die Patientin habe ihn zum Betrug angestiftet.

Dabei erinnert sich Bernasconi nicht einmal mehr daran, das Schadenformular der Krankenkasse KPT unterschrieben zu haben, schliesst das aber auch nicht aus. Sie ist zum damaligen Zeitpunkt überfordert mit allem, zu erschöpft, zu naiv und zu vertrauensselig.

Lücken im Mund und im Portemonnaie

Immerhin kommen ihr Zweifel, ob der neue Zahnarzt eine gute Wahl war. Sie wechselt erneut, und weitere 10'000 Franken werden fällig. Das genüge aber nicht, meint der allerneuste Zahnarzt, es brauche noch einmal so viel, um die Schäden der Vorgänger zu reparieren. Das wären dann alles in allem 65'000 Franken.

Teresa Bernasconi stammt aus einfachen Verhältnissen. Die Eltern waren Landwirte und lebten vom Obst- und Blumenverkauf auf dem Markt von Lugano. Ihre Tochter sollte es einmal besser haben, und so förderte der Vater die kleine Teresa nach Kräften. Über die Literatur entdeckte sie die Welt, schloss die höhere Handelsschule ab und verdiente später als Staatsangestellte gut. «Wenn ich heute einen tadellosen Mund hätte, würde ich dem Zahngeld nicht nachtrauern. Aber so, mit den Lücken im Mund, den unnatürlich wirkenden Kronen und dem ständig schmerzenden Zahnfleisch …»

Im Mai wird sie von der Polizei befragt. Man wirft ihr vor, sie habe die Versicherung betrogen.

Quelle: Andreas Gefe

Der neue Zahnarzt empfiehlt ihr, sich von der «commissione arbitrale» begutachten zu lassen, der Schlichtungskommission der Zahnarztgesellschaft SSO. Teresa Bernasconi hört zum ersten Mal von dieser Möglichkeit und nimmt sie sogleich wahr. Im Herbst 2011 wird sie von drei Vertrauensärzten der Tessiner SSO-Sektion untersucht. Im Lauf der Begutachtung erzählt die Frühpensionierte nebenbei, dass Tommaso Buzzi eine unter Garantie fallende Leistung als Unfall deklariert und ihrer Versicherung gemeldet habe.

Am 30. Januar 2012 erhält Teresa Bernasconi den Schlussbericht der Kommission. Sie ist eine gebildete Frau, spricht fliessend vier Sprachen, war für die Schweizer Botschaft in Deutschland tätig. Aber mit der Entzifferung des Medizinerlateins im Bericht ist sie schlicht überfordert. Nur das Fazit ist unmissverständlich: Beide Zahnärzte werden von der Kommission reingewaschen. Dottor Buzzi habe allerdings 2000 Franken zu viel verrechnet.

Der Fall kommt den Ärzten wie gerufen

Es folgt gleich ein zweiter Hammer: «Die Kommission ist gezwungen, den Vorfall [gemeint ist der Versicherungsbetrug] den zuständigen Instanzen zu melden.» Dieses Vorgehen entspricht allerdings nicht dem Reglement der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft. Danach haben die von einer Sektion zugezogenen Experten «absolute Unparteilichkeit und Schweigepflicht zu wahren». Auch Bernasconi hatte mit der Verschwiegenheit der Kommission gerechnet.

Die mittlerweile 67-Jährige protestiert gegen den Vertrauensbruch. Sie will wissen, an wen die Meldung geht. Und sie ist bitter enttäuscht; sie fühlt sich von der Kommission betrogen. «Ärzte decken sich immer gegenseitig, und der Patient ist der Dumme», denkt sie. Sie schreibt der Kommission: «Ich lasse mich nicht von Titeln und Finanzmächtigen beeindrucken. Mein Gewissen ist zu rein, als dass ich mich einschüchtern liesse.»

Fall landet beim Kantonsarzt

Eine Antwort bekommt sie nicht. Auch sonst herrscht Ruhe vor dem Sturm. Was sie nämlich nicht weiss: Tommaso Buzzi ist ein äusserst unbeliebtes Mitglied der Tessiner Sektion der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft. Er bricht Standesregeln, wirbt zu bunt und zu grell für seine Dienstleistungen, legt sich mit vielen an. Und so kommt ein Betrugsfall, in den er verwickelt sein soll, für einen Rausschmiss aus der Sektion wie gerufen. Zudem meldet die Kommission den Fall dem Kantonsarzt. Das ist heikel. Denn von dieser Meldung ist auch die Patientin betroffen, und für sie gälte eigentlich das Arztgeheimnis.

Es gibt zwar Fälle, in denen ein Arzt von der Schweigepflicht befreit ist – Betrug gehört aber nicht zu den gesetzlich definierten Ausnahmen. Hingegen ist der Kantonsarzt als Amtsträger verpflichtet, eine Straftat dem Staatsanwalt zu melden. Was er auch tut. Allerdings seien die Personalien der Patientin anonymisiert worden. Denn eigentlich sollte sich das Verfahren nicht gegen sie richten, sondern gegen den Arzt. Sie sei ja das Opfer, ist auch der Kantonsarzt überzeugt.

«Das Resultat müsste ein anderes sein»

Wieder ziehen Monate und Jahre ins Land. Plötzlich erhält Teresa Bernasconi ohne Begründung die Kündigung ihrer Zahnzusatzversicherung bei der KPT. Verdutzt fragt sie nach und bekommt zur Antwort, sie solle sich bei der Staatsanwaltschaft erkundigen.

Diese Kündigung ihrer Versicherung ist für die stolze Teresa Bernasconi eigentlich das Schlimmste, was ihr in der ganzen Angelegenheit passiert ist: Nie hat sie sich etwas zuschulden kommen lassen, hat immer ordentlich und rechtschaffen gelebt. «Und nun denken die von der Versicherung, ich sei eine Betrügerin!»

Zur Krönung – eine Vorladung der Kantonspolizei

Anfang Mai 2015 kommt als Krönung der langjährigen Passion die Vorladung der Kantonspolizei wegen eines Strafverfahrens gegen sie. Sie trifft auf einen äusserst verständnisvollen Polizisten. Aber wie es weitergeht, ist unklar. Teresa Bernasconi fühlt sich in einer kafkaesken Situation: «Ich habe ein Vermögen ausgegeben, muss noch mehrere tausend Franken investieren, und was bleibt? Ein ruinierter, schmerzender Mund. Ausserdem stehe ich als Betrügerin da, und der Zahnarzt wird von seinem Anwalt gewiss weissgewaschen.»

Im Sommer 2015 rafft sich Teresa Bernasconi nochmals auf und lässt ihre Zähne ein weiteres Mal begutachten, diesmal im Zentrum für Zahnmedizin der Universität Zürich. «Ja, für das viele Geld müsste das Resultat ein anderes sein», bekommt sie dort zu hören – nebst der Diagnose einer fortgeschrittenen Parodontose. «Was geschehen ist, ist geschehen. Ihnen bleibt höchstens noch der juristische Weg», sagt man ihr in Zürich. Doch dafür ist es längst zu spät. Teresa Bernasconi hat resigniert: «Ich mag einfach nicht mehr neue Gutachten einholen, Anwälte aktivieren und die in meinem Alter knapp bemessene Zeit sowie eine Menge Geld verlieren. Denn was kommt heraus?»

*Name geändert