Es kommt vor, dass der Papagei Rocco noch heute nach ihm ruft, so wie Monika Joss früher ihren Sohn zum Frühstück gerufen hat: «Stefan, s isch Ziit!» Stefan, der Rocco als Bub von Hand aufgezogen hat. Aber Stefan Joss lebt nur noch in der Erinnerung in der kleinen Wohnung im Gewerbegebiet von Uetendorf bei Thun. Auf dem Tischchen bei der Polstergruppe lächelt er von einem Porträtfoto, an der Wand sieht man ihn als Skifahrer.

«Wir können nicht abschliessen»

Beim Skifahren ist der damals 26-Jährige auch, als er am 7. September 2004 um 9.25 Uhr ums Leben kommt. Im Zermatter Skigebiet Klein Matterhorn wird der am Pistenrand stehende Stefan Joss von Claude Leblanc (Name geändert), einem 19-jährigen Nachwuchsfahrer der französischen Ski-Nationalmannschaft, mit voller Wucht frontal gerammt. Dabei wird Joss so schwer verletzt, dass er noch auf der Unfallstelle stirbt. Der Vorfall ist den Medien eine Kurzmeldung wert: «Tod auf der Piste», schreiben sie tags darauf lapidar. Hinter den Kulissen setzt sich gleichzeitig die Abklärungsmaschinerie in Gang.

7. Februar 2005, Eröffnung der Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Tötung durch das Untersuchungsrichteramt Oberwallis:

«Der Unfall ereignete sich im Skigebiet, das allen Gästen offenstand. (…) Demnach hat jeder Skifahrer die Geschwindigkeit den äusseren Gegebenheiten anzupassen. (…) Diese Grundsätze hat Claude Leblanc nicht beachtet und somit den Tod von Stefan Joss verursacht.»

Dokumente mit solch amtlichen Inhalten haben Kurt und Monika Joss seither dutzendfach erhalten, sie füllen ganze Ordner. Der Tod ihres Sohnes ist zum «Fall» geworden – er ist es bis heute, über fünf Jahre danach. Immer wenn sie ein Schreiben einer Behörde, des Gerichts, von Versicherungen oder ihres Anwalts im Briefkasten finde, gebe es ihr einen Stich ins Herz, erzählt Monika Joss leise: «Wir können nicht abschliessen.» Als wäre der Verlust eines Kindes nicht schon tragisch genug. Etwas Trost findet sie, wenn die beiden Enkel sie besuchen, die Kinder von Stefans Schwester.

Dass die Strafuntersuchung derart zäh verläuft, ist für die Eltern – er Spengler, sie Hausfrau – nicht nachvollziehbar. Wieder und wieder erhalten sie Kopien von Gutachten oder seitenlange Protokolle mit Aussagen, etwa vom beschuldigten Rennfahrer, von den beiden Kollegen, mit denen Stefan am Unglückstag auf der Piste war, oder von sonstigen Zeugen. Die Gegenpartei zieht alle Register, um abzuklären, ob Stefan Joss eine Mitschuld an der Kollision angelastet werden kann. Die Eltern Joss werden nach Visp ins Untersuchungsrichteramt vorgeladen; unterdessen ist es Juni 2006. Man will von ihnen Persönliches über ihren Sohn wissen, über dessen Beziehung zu seiner Freundin, sie geben Details preis über ihre eigene finanzielle Situation und jene von Stefan. Das Fragengewitter ist unbehaglich: «Es kam mir vor, als seien wir die Angeklagten», sagt der Vater. In den Augen des sonst so gefassten, fast resigniert wirkenden Mannes blitzt kurz Zorn auf.

Nochmals ein Jahr später, unmittelbar vor dem dritten Todestag Anfang September 2007, wird eine Begehung am Unfallort angesetzt. Kurt Joss empfindet es als Schikane: «Was sollte das nach so langer Zeit noch bringen?» Jetzt steht er auf, um Fotos zu holen. Sie zeigen eine Gruppe Leute in der Bergstation am Klein Matterhorn – Claude Leblanc, seine Eltern, ihr Anwalt. Man hatte Kurt Joss in dieselbe Seilbahnkabine gesetzt wie den Mann, der seinen Sohn getötet hatte. «Es war eine Tortur!» Kein Wort habe Leblanc geredet, seinem Blick sei er ausgewichen, erinnert sich der 63-Jährige. Nicht einmal die Eltern des Sportlers haben ihm die Hand gegeben.

14. September 2007, Urteil des Bezirksgerichts Visp:

«Egoistisch und ohne auf weitere Skifahrer Rücksicht zu nehmen, befuhr der Angeklagte in hohem Tempo die Pistenkreuzung. (…) Negativ fällt ins Gewicht, dass er wenig bis keine Einsicht in sein Fehlverhalten zeigt. (…) Eine Mitschuld von Stefan Joss ist zu verneinen. (…) Claude Leblanc wird der fahrlässigen Tötung für schuldig erkannt.»

Claude Leblanc, der nach wie vor dem Europacup-Kader der Franzosen angehört, und sein Anwalt verzichten auf einen Weiterzug, das Urteil wird rechtskräftig. Kurt und Monika Joss vermögen sich darüber kaum zu freuen, sie haben andere Sorgen. Ihr Leben ist seit dem Verlust ihres Sohnes aus den Fugen geraten, nicht nur emotional, auch finanziell. Vater Joss hat seine eigene Spenglerei aufgegeben, um Stefans Skigeschäft «Joss Carving» zu übernehmen. Für den Aufbau des Ladens hatte Kurt Joss seinem Sohn, Handwerker wie er, ein Darlehen von gut 300'000 Franken gegeben: «Unser Altersguthaben.» Vereinbart war eine Rückzahlung in Raten, sobald «Joss Carving» schwarze Zahlen schreibt. Just 2004 wäre das erstmals der Fall gewesen.

Doch mit Stefans Tod gehen auf einen Schlag Know-how und Beziehungen verloren, die sein Vater erst wieder aufbauen muss. Joss senior krampft täglich 14 bis 16 Stunden, um sich und seine Frau über Wasser zu halten: «Dabei wollten wir es im Alter doch etwas ruhiger haben.» Es läuft mehr schlecht als recht, Bankzinsen und Materialschulden drücken. Nur eine Woche vor dem Unfall ist beispielsweise eine Lieferung mit Skiern im Gegenwert von 100'000 Franken eingetroffen. Bis heute stottert er jeden Monat etwas davon ab – den Lieferanten will er nichts schuldig bleiben, das verbietet sein Ethos als Kleinunternehmer. «Ich hatte noch nie eine Betreibung im Haus.»

«Der Laden war sein grosser Traum»

Rückblickend ist Kurt Joss klar, dass es ein Fehler war, das Geschäft weiterzuführen. Aber: Hätte er es fallenlassen, wäre sein eingesetztes Darlehen futsch gewesen. Und vor allem hätte er das als eine Art Verrat an seinem Sohn angesehen. «Der Laden war sein grosser Traum.» Auch jener fatale Ausflug nach Zermatt, der Stefan den Tod brachte, war dem Geschäft gewidmet. Geplant war, im Hinblick auf die neue Skisaison Fotos für Werbematerial zu machen.

Mitte 2008 schreibt Joss seinem Anwalt: «In den letzten Jahren konnten wir von unseren Reserven leben, doch die sind jetzt aufgebraucht. Meine Frau und ich sind auf dem finanziellen Nullpunkt. Es wäre mir sehr geholfen, wenn mir die Gegenpartei wenigstens eine Anzahlung gewähren würde.» Damit ist der Schadenersatz angesprochen, über den seit über einem Jahr aussergerichtlich verhandelt wird. Doch die Haftpflichtversicherung des schuldig gesprochenen Unfallverursachers denkt nicht daran, Hand zu bieten.

14. August 2008, Schreiben von Anwalt Jean-Pierre Schmid an Kurt Joss:

«Die Gegenpartei teilt mit, auf unsere Ansprüche könne nicht eingegangen werden, weil wir unserer Substantiierungspflicht nicht genügend nachgekommen seien. Das ist wohl eine billige Ausrede. (…) Wir werden um eine Forderungsklage nicht herumkommen.»

«Substantiierungspflicht»: Bei Zivilforderungen ist es an den Geschädigten, auf Punkt und Komma nachzuweisen, dass sie von der Gegenseite etwas zugut haben – häufig ein zermürbendes Spiel auf Zeit. «Für Betroffene ist diese Situation eine Zumutung», sagt dazu der Zürcher Geschädigtenanwalt Kurt Pfändler. «Sie stehen als kleine Bittsteller einer mächtigen Versicherung gegenüber – David gegen Goliath.» Auf ein Einlenken von Goliath darf David dabei immer seltener hoffen. Laut Pfändler konnten noch vor fünf Jahren über 90 Prozent der Fälle aussergerichtlich erledigt werden, doch das habe sich «krass geändert». Die Leute würden heute dazu genötigt, ihre Ansprüche einzuklagen.

Als Stefan noch lebte, lief der Laden gut: «Er war eben dick drin im Geschäft», erzählt sein Vater.

Quelle: Michael Sieber
Verzögerungen zermürben die Kläger

Wer dabei den längeren Atem hat, ist klar, zumal es etliche kantonale Prozessordnungen den Versicherungen erleichtern, ein Verfahren zu verschleppen, oft über mehrere Jahre. So werden Geschädigte regelrecht ausgehungert und dazu gebracht, sich mit weniger zufriedenzugeben. Hinzu kommt, dass eine lange Verfahrensdauer mit erheblichen Kosten und somit einem beträchtlichen Risiko für die Kläger verbunden ist. Experte Pfändler hält es deshalb für unerlässlich, die Abläufe bei Schadenersatzforderungen zu straffen und zu vereinfachen.

Im Fall Joss, bei dem Stefans geschäftliche Rechtsschutzversicherung die Deckung sicherstellt, rechnet Anwalt Jean-Pierre Schmid aus Sitten damit, dass das Verfahren «sicher nicht vor Mitte 2010» abgeschlossen sein wird – und dies nur in der ersten Instanz, deren Entscheid angefochten werden kann. Zur Debatte steht eine Forderungssumme von insgesamt rund 540000 Franken, davon die vorgeschossenen 300'000 Franken als Unterstützungsausfall, der Rest als Schadenersatz und als Genugtuung für die engsten Hinterbliebenen des Opfers.

Da bisher kein einziger Franken geflossen ist, bleibt die finanzielle Lage der Familie Joss prekär. Als müsste er sich rechtfertigen gegen einen unausgesprochenen Vorwurf, sagt Kurt Joss: «Wir wollen doch kein Kapital schlagen aus Stefans Tod, sondern nur dafür entschädigt werden, was uns weggenommen wurde.» Doch das Recht sorgt nicht immer für Gerechtigkeit, schon gar nicht im gewünschten Tempo: Ihre Bemühungen, es recht zu machen, ihre ehrlichen Antworten auf alle Fragen, die Nachweise, die sie geliefert haben – dass all das bis heute ohne Effekt geblieben ist, erfüllt das Ehepaar mit einer Mischung aus Wut und Ohnmacht. Den Eindruck, von einem übermächtigen Gegner hingehalten zu werden, bringt Monika Joss auf den Punkt: «Sie spielen mit uns, bis wir aufgeben.»

9. Juni 2009, Gerichtskreis X Thun an das Ehepaar Joss:

«Wir wurden vom Bezirksgericht Visp beauftragt, mit Ihnen ein Parteiverhör durchzuführen. (…) Sie werden vorgeladen auf Donnerstag, 16. Juli 2009, 15.00 Uhr.»

Wieder ein «Verhör»! Bei Kurt Joss löst der Ausdruck ungute Erinnerungen aus. Er sieht sich bei diesen Befragungen durch die Anwälte Fallenstellern gegenüber: «Sie wollen einen ‹verwütschen›, um einem aus einer unbedachten Formulierung einen Strick zu drehen.» So habe die Gegenpartei etwa versucht, sein Darlehen für «Joss Carving» als Schenkung auszulegen, um so ein Forderungsbegehren zu unterbinden.

In gleicher Weise wie die Eltern des getöteten Stefan Joss werden weitere Personen aus dessen Umfeld ins Thuner Gericht zitiert, um sich den Fragen zu stellen, die vornehmlich auf den Geschäftsverlauf des Skiladens zielen: die Freundin, die Schwester, sein Buchhalter, frühere Angestellte, gelegentliche Aushilfen im Laden. Diese müssen in einer separaten Zeugeneinvernahme beispielsweise bestätigen, was auch der Buchhaltung entnommen werden könnte: dass sie im Lauf der Zeit ein Honorar von 2600 Franken bezogen haben. So vergeht der Sommer, und die Aktenberge wachsen: Auch fünf Jahre nachdem das Schicksal wie ein Blitz aus heiterem Himmel eine kleine Familie aus dem Berner Oberland getroffen hat, läuft die Abklärungsmaschinerie noch immer auf vollen Touren.

«Sein Anwalt plagt unsere Familie»

Wer ist für die Eltern Joss der Schuldige an ihrer Not? Claude Leblanc, der Todesfahrer, ist es nicht – nicht mehr: «Er ist ein junger, übermütiger Giel, der seinen Fehler ja nicht absichtlich gemacht hat», sagt Kurt Joss. Seine Verbitterung gilt dem Mann, der dem anonymen Apparat, der sich gegen seine Familie richtet, gleichsam ein Gesicht gibt: dem Anwalt der Gegenpartei. «Er nutzt jede Gelegenheit, um uns zu schaden, er plagt unsere Familie, auch wenn er ja nur seinen Job tut. Ihn habe ich jede Nacht im Kopf.»

Der Besucher darf nicht gehen, ohne im Nachbardorf Oppligen im «Joss Carving» vorbeizuschauen: Stefans Reich und Hinterlassenschaft. Im Laden steht die neue Kollektion für die neue Saison bereit, in den hinteren Räumen warten Skier auf den Service. Von diversen Fotos an den Wänden blickt einem ein junger Mann mit dunklem Haarschopf und offenem Blick entgegen: Stefan Joss. Ein gerahmtes Bild zeigt eine Collage aus Fotos, auf denen er mit Grössen des Skisports wie Vreni Schneider oder Peter Müller zu sehen ist. «Der Stefan war eben dick drin im Geschäft», sagt Kurt Joss. Jetzt huscht zum ersten Mal an diesem Tag so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht.