Es macht mir nichts aus, im Mittelpunkt zu stehen. Deshalb habe ich auch nicht vor, an der ersten Behindertensession der Schweiz, die am 24. März im Bundeshaus stattfindet, nur still dazusitzen. Wenn jemand etwas sagt, was mir nicht gefällt, werde ich aufstehen und meine Sicht der Dinge darlegen.

Meine Botschaft ist klar: Wir Menschen mit Behinderungen sind vielleicht nicht genau gleich wie die meisten anderen – aber wir wollen gleich behandelt werden und die gleichen Rechte haben. Das ist heute in vielen Lebensbereichen nicht der Fall. Das habe ich selber erlebt, als ich volljährig geworden bin.

Ich interessiere mich sehr für Politik und wollte bei der nächsten Abstimmung gleich mitmachen. Doch wegen meines Handicaps durfte ich das nicht «einfach so», zuerst musste bei der Kesb meine Beistandschaft abgeklärt werden. Eine umfassende Beistandschaft hätte mir die Bürgerrechte entzogen. Das ist doch nicht fair! Die anderen müssen ja auch niemanden fragen.

«Die Leute schauen erst auf das, was wir nicht können – statt auf unsere Stärken.»

Cloé Besse, Inklusionsaktivistin

Das Beispiel ist typisch für eine Haltung, die mir immer wieder begegnet: Die Leute trauen uns weniger zu. Sie schauen zuerst auf das, was wir (vielleicht) nicht können – statt auf unsere Stärken. Mein Ziel ist es, dass sich diese Sichtweise ändert.

Ich möchte als gewöhnlicher Mensch wahrgenommen werden und nicht in erster Linie als einer «mit Behinderungen». Ich bin ja nicht von einem anderen Planeten.

Die Behindertensession ist eine gute Gelegenheit, um auf solche Anliegen aufmerksam zu machen. Als ich davon gehört habe, war mir gleich klar: Da will ich hin! Ich habe mich beworben und wurde dann tatsächlich ausgewählt – mit 18 Jahren als Jüngste. Und als eine der wenigen mit einer kognitiven Beeinträchtigung.

Behindertensession – da will ich hin!

Insgesamt sind wir 44 Frauen und Männer, damit nehmen wir 22 Prozent der Sitze im Nationalratssaal ein. So gross ist auch der Anteil der Menschen mit Behinderungen in der Bevölkerung. Wir werden eine Resolution zum Thema politische Teilhabe verabschieden.Ich fiebere diesem Tag entgegen. Mit anderen Betroffenen für eine gemeinsame Sache kämpfen – das gefällt mir. Ich wünsche mir, dass wir selbstbewusst und entschlossen auftreten, ohne Angst, ohne Scham. Dafür gibt es auch keinen Grund.

«Wenn mich jemand fragt, sage ich ganz offen: ‹Ich habe eine geistige Behinderung.›»

Cloé Besse, 18

Im Vorfeld gab es Diskussionen über die korrekte Bezeichnung. Darf man «Behindertensession» sagen? Ich selber sehe das entspannt. Wenn man Behinderung nicht als etwas Negatives versteht, muss man ja nicht krampfhaft nach anderen Formulierungen suchen. Wenn mich jemand fragt, sage ich ganz offen: «Ich habe eine geistige Behinderung.» Und vielleicht noch: «Ich brauche einfach etwas mehr Zeit.» Damit bin ich immer gut gefahren.

Mit Carrousel auf Tournee – das wärs

Ich habe das Potocki-Lupski-Syndrom, das ist ein seltener Gendefekt. Eine Folge: Ich muss länger üben, bis ich etwas beherrsche. Deshalb konnte ich als Kind auch nur bis zur zweiten Klasse in die Regelschule. Oder der Weg von Emmetten, wo ich bei meiner Familie lebe, bis zu meinem Arbeitsort in der Stadt Luzern: Ich brauchte drei Wochen, bis ich mich allein zurechtgefunden habe.

Sicher fühle ich mich in einer geschützten Umgebung mit vertrauten Personen. Wie im Shop der Stiftung Brändi, wo ich eine Lehre als Kunsthandwerkerin mache. Wir stellen Produkte aus Stoff und Papier her, die in unserem Laden verkauft werden. Wenn ich sehe, wie sich eine Kundin über eins meiner Werke freut: ein grossartiges Gefühl.

Das Grösste für mich ist aber die Musik. Genauer: die French-Pop-Band Carrousel. Ich habe schon 24 Konzerte von ihr besucht. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann den: ein paar Wochen mit Carrousel auf Tournee gehen.

Was ich nicht mag? Ich bin sehr sensibel auf Stimmen um mich herum, und wenn jemand laut und aggressiv spricht, ist mir unwohl. Bei einer ruhigen, warmen Stimme hingegen fühle ich mich geborgen. Aber ich denke, dass auch das nichts mit meinem Handicap zu tun hat. Aggressivität tut schliesslich niemandem gut.

Aufgezeichnet von Daniel Benz