Friedrich Dürrenmatt gab das Geld mit beiden Händen aus, selbst wenn er keins hatte. «Ich lebte immer, auch in schlechten Zeiten, fürstlich», schrieb er einmal. Selbst als ihm Beobachter-Leser 1952 drei Jahre lang monatlich gut 600 Franken spenden, so viel, wie damals ein Hilfsbuchhalter verdiente, will Dürrenmatt das Geld sofort ausgeben und ein Segelboot kaufen. Sein Cousin kann ihn nur mit Mühe davon abbringen.

Im Schweizer Kulturkuchen ist Dürrenmatt damals kein Unbekannter mehr. Doch der internationale Durchbruch mit dem «Besuch der alten Dame» liegt noch vier Jahre entfernt. Dürrenmatt ist 31, hat drei kleine Kinder und lebt von der Hand in den Mund. «Ich rechnete fest damit, mein Leben lang einen geldlosen Haushalt führen zu müssen», sagte seine Frau Lotti über die ersten Ehejahre. «An Selbstvertrauen hat es mir nie gefehlt», sagte er.

Pfiffe vom Publikum

Der junge Charakterkopf fällt auf. Sein Theaterstück «Es steht geschrieben» verreisst die Presse als «Rausch eines wildgewordenen Pubertäts-Dramatikers». Das Zürcher Theaterpublikum pfeift und verlässt den Saal. Dürrenmatt freut die hitzige Debatte über sein Drama. Aber vom Schreiben kann er nicht leben.

Im Oktober 1951 muss er nach einem Zusammenbruch notfallmässig zwei Wochen ins Berner Inselspital. Er leidet an Diabetes und steckt in seiner grössten finanziellen Krise. Schriftstellerkollegen sammeln etwas Geld, sorgen sich aber um das Wohl seiner drei Kinder. Die Not bleibt dem Beobachter-Chefredaktor Max Ras nicht verborgen. Der unkonventionelle Verlagspatron aus Basel kennt den aufmüpfigen Dichter persönlich. Dürrenmatt hatte ihm 1949 zum 60. Geburtstag eine Parodie auf das Pressewesen geschrieben.

1952: Spendenaufruf für Dürrenmatt im Beobachter

Beilage aus dem Beobachter, 1952, mit Spendenaufruf für Dürrenmatt

(auf das Bild klicken, um es zu vergrössern)

Quelle: Beobachter

Fünf Franken pro Monat

Anfang 1952 ruft Max Ras mit der «Aktion Dürrenmatt» seine Leserschaft auf zu helfen. «Ist es nicht vernünftiger und menschlicher, dem lebenden Künstler das Schaffen zu ermöglichen, statt ihm nach seinem Tode Gedenksteine zu setzen?», fragt er in grossen Lettern. Der Dichter Friedrich Dürrenmatt stecke in einer prekären Situation und müsse eine fünfköpfige Familie erhalten. Er könne durch regelmässige monatliche Spenden «von den drückendsten materiellen Sorgen entlastet werden». Der Schweizerische Beobachter sei überzeugt, dass sich Friedrich Dürrenmatt «in der literarischen Welt der Schweiz und des Auslandes bald durchsetzen» werde, sofern er Hilfe erhalte.

170 Beobachter-Leserinnen und -Leser spenden Dürrenmatt darauf fünf Franken pro Monat, nach drei Jahren sind es noch immer 112 Personen. Das vielleicht grösste Crowdfunding für einen jungen Schweizer Künstler bringt 21'350 Franken ein, nach heutigem Wert sind das rund 95'000 Franken.

«Diese Aktion war ausserordentlich wichtig für die Entwicklung von Dürrenmatts Werk», sagt Ulrich Weber. Er betreut den Dürrenmatt-Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern und publizierte diesen Herbst bei Diogenes eine Biografie. Für den jungen Schriftsteller sei es enorm wichtig gewesen, dass er von den allerdrängendsten finanziellen Sorgen befreit wurde. «Es war für ihn ideal, eine längerfristige Unterstützung zu geniessen, für die er nicht unmittelbar etwas abliefern musste», sagt Weber. Die Spende der Beobachter-Leser sei vergleichbar mit der Vergabe von Werkjahren, mit denen die öffentliche Hand heute Künstlerinnen und Künstler unterstützt.

Dürrenmatt benötigte das Geld dringend. Sparsam damit umgehen konnte er nicht. Im Elternhaus war er Mutters Liebling, ein Dienstmädchen half im Haushalt mit, also leistete er sich auch jetzt ein Kindermädchen. «Ich reihte mich handelswertmässig stets in die Klasse kleinerer Bankdirektoren ein, ohne natürlich deren Einkommen zu haben, und steckte deshalb ständig in furchtbaren Schulden», erzählte er ein Jahrzehnt später einem Reporter.

Weltliteratur im Beobachter

Doch Dürrenmatt arbeitet wie ein Besessener. Die Schreibmaschine klappert die halbe Nacht, Stücke schreibt er bis zu 15-mal um. Über Wasser hält er sich mit Theaterkritiken, Radio-Hörspielen und Verlagsvorschüssen. Und mit zwei lukrativen Aufträgen des Beobachters: 1950 bestellt Chefredaktor Max Ras bei ihm eine Fortsetzungsgeschichte für seine Zeitschrift. «Aber es müsste ein Kriminalroman sein, einen solchen würde unsere Leserschaft goutieren.»

Dürrenmatt liefert «Der Richter und sein Henker» ab. Die erste Folge des Kriminalromans, der später Millionenauflagen erreichen wird, erscheint am 15. Dezember 1950 im Beobachter – umrahmt von Dutzenden Inseraten. Im Begleittext steht: «Der Beobachter hat dem jungen Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt, dessen Stücke in Zürich und Basel grosse Beachtung gefunden haben [...], den Auftrag gegeben, einen schweizerischen Kriminalroman zu schreiben.» Dem Autor sei mit «Der Richter und sein Henker» ein «interessanter Wurf» gelungen, urteilt die Redaktion. Das Honorar beträgt 3000 Franken, das wären heute rund 13'000.

So sah die Erstausgabe von «Der Richter und sein Henker» aus

Erstausgabe von «Der Richter und sein Henker» im Beobachter, 1950

Beobachter-Ausgabe vom 15. Dezember 1950. – (auf das Bild klicken, um es zu vergrössern)

Quelle: Beobachter

Chefredaktor Max Ras ist begeistert. Er will Kommissar Bärlach ein zweites Mal für den Beobachter ermitteln lassen. Doch Dürrenmatt lehnt ab, Wiederholungen langweilen ihn. Als Ras das Honorar verdoppelt, erweckt Dürrenmatt seinen todkranken Kommissar Bärlach doch nochmals zum Leben und lässt ihn in Arztkreisen einen «Verdacht» ermitteln. Das Buch wäre ohne den Beobachter nie entstanden, sagt Biograf Ulrich Weber.

Die erste Folge von «Der Verdacht» wird am 15. September 1951 gedruckt. Es sei «ein Schweizer Kriminalroman, der im Auftrage des Beobachters verfasst worden ist». Der Krimi greife «in kühner Weise Gegenwartsprobleme auf», schreibt die Redaktion. Es handelt sich um eines der ersten deutschsprachigen Werke, die den Holocaust thematisieren. Der Bösewicht ist ein Schweizer KZ-Arzt.

Das leidige Abgabedatum

Bärlachs zweiter Fall geht Dürrenmatt nur zäh von den Fingern, er liefert ihn scheibchenweise ab. «Hier die ersten vier Kapitel des Romans, die medizinisch nun in Ordnung sind», schreibt er am 20. Mai 1951 an Beobachter-Redaktor Hermann Schneider. «Die nächsten vier werde ich Ihnen bis zum 1. Juni schicken, und so fort. Bis spätestens 1. Juli wird der Roman abgeschlossen sein – als Enddatum.»

Seine eigene Deadline kann Dürrenmatt dann nicht einhalten. Er sei beim Verfassen unter enormem Zeitdruck gestanden wegen einer «akuten Krisensituation», sagt Biograf Weber. Im Frühsommer erfährt Dürrenmatt von seiner Diabetes-Erkrankung. Als er in München weilt, um sich beim Bayerischen Rundfunk um Aufträge für Hörspiele zu bemühen, spritzt ihm ein Arzt eine Überdosis Insulin. Dürrenmatt fällt zwei Tage ins Koma. Zurück in der Schweiz, muss er sich von Spezialisten untersuchen lassen. Zur gleichen Zeit erkrankt seine schwangere Frau Lotti. 

Mitte Juli 1951, zwei Wochen nach dem versprochenen Abgabetermin, schreibt Dürrenmatt einen Brief an den zuständigen Redaktor beim Beobachter: «Lieber Herr Schneider, hier das versprochene Kapitel. Ich kam diese Woche wieder nicht recht zur Arbeit, die Krankheit meiner Frau, die überdies erwartet, zwang mich die Tätigkeit einer Hausfrau zu übernehmen, endlich ist Hilfe gekommen, und nun kann ich die Mord-und-Totschlag-Geschichte weiter spinnen.»

So kommunizierte Dürrenmatt mit dem zuständigen Beobachter-Redaktor

So kommunizierte Dürrenmatt mit dem zuständigen Beobachter-Redaktor

Ein «jämmerlicher Schriftsteller» und «sechs Eissen (Furunkel) am Hintern.» – (auf das Bild klicken, um es zu vergrössern)

Quelle: Beobachter
Inspiriert vom eigenen Hinterteil

Eine weitere medizinische Erfahrung verarbeitet Dürrenmatt in «Der Verdacht», wie er in seinem Brief selbstironisch schreibt: «Materialien zu meiner Geschichte konnte ich vorige Woche an eigenem Leibe studieren, da ich nun, mit sechs Eissen am Hintern selber auf dem Schragen eines Chirurgen lag, wahrscheinlich schrieb diese Tortur die göttliche Weltregierung extra zu diesem Zweck vor.» Eissen sind Furunkel.

«Der Richter und sein Henker» und «Der Verdacht» stossen in den Fünfzigerjahren auf laues Interesse. Ein erster Verleger verweigert die Publikation der «Beobachter-Romane», wie Dürrenmatt sie nennt. Zu gross sind die Vorbehalte, Kriminalromane sind als minderwertige Unterhaltungsliteratur verschrien.

Heute gelten die beiden Krimis als Standardwerke der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Biograf Ulrich Weber erklärt ihren späten Siegeszug mit Dürrenmatts Erfolg am Theater. Ohne Karriere als Dramatiker wären die Romane heute in Deutschland keine Schullektüre, sagt er.

Weil Friedrich Dürrenmatt mit dem Beobachter-Geld kein Segelboot kaufte, habe er zwischen 1952 und 1955 «finanziell sorgenfrei» leben und sich dem «Besuch der alten Dame» widmen können, schreibt sein Cousin Peter in seinen Memoiren. Mit der Tragikomödie um die Milliardärin Claire Zachanassian wurde er dann aber tatsächlich so reich wie ein kleinerer Bankdirektor. 

Interaktiver Jubiläumskrimi zum Miträtseln

«Morde im Bad» ist ein mehrteiliger Podcast-Krimi zum 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt. Das Zürcher Max-Frisch-Bad Letzigraben ist Schauplatz eines Verbrechens.

Ab der zweiten Episode (30. 12.) können sich Leserinnen und Leser selbst auf die Suche nach Hinweisen machen.

Der Beobachter-Newsletter – wissen, was wichtig ist.

Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.

Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.

Jetzt gratis abonnieren