Mehr Karibik geht nicht: weisse Strände, blaues Meer, Korallenriffe, Palmen und Flamingos – das winzige Atoll Anegada ist ein Paradies. Und es ist der Ort, wo Leo Ferraro «den Tod gesehen hat», sagt er. Es ist der 17. März 2016. Wie jedes Jahr seit 1989 ist Ferraro in die Karibik in die Ferien gefahren, auch auf sein geliebtes Anegada, die nördlichste der Britischen Jungferninseln. «Ich besuche immer Freunde, die dort in der abgelegensten Ecke der Insel neben einer Strandbar dauercampen.» Er ist mit der Fähre von der Hauptinsel Tortola herübergekommen. Eine gute Freundin, mit der er angereist ist, bleibt zurück. Man will sich in drei Tagen wieder treffen, wenn die Fähre zurückfährt.

Der verhängnisvolle Roller

Die erste Nacht verbringt er in einem Guesthouse. «Es war ein wunderschöner Abend. Ich genoss die Atmosphäre, die karibischen Speisen, die Gespräche mit dem Gastgeber, den ich seit Jahren kenne. Und ich freute mich auf meinen Ausflug ans andere Ende der Insel, wo ich meine Freunde treffen würde.»

Manchmal kommt der Teufel in seltsamer Gestalt. «Schon am Vorabend hatte ich am Hafen zwei Roller und ein handgeschriebenes Schild gesehen: ‹for rent›.» Die letzten Jahre hat er sich immer zu Fuss auf die mehrstündige Wanderung gemacht. «Ich fand es verlockend, einmal motorisiert unterwegs zu sein.» Und so mietet er am nächsten Morgen einen der Roller.

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Ferraro macht sich auf den Weg, über Schotterpisten, die hier auf der Insel Strassen genannt werden. Nach dem Mittag verabschiedet er sich wieder von den Freunden und macht sich auf den Rückweg. Er will noch einen kleinen Abstecher machen zu einer versteckten Stelle, wo seltene wilde Orchideen wachsen. «Ich wollte sehen, ob sie blühen.» 

Das ist das Letzte, woran er sich erinnern kann. Das nächste Bild in seinem Kopf: der Blick auf ein Flugzeugfenster. Danach wieder allumfassende Dunkelheit.

«Es war kein Nahtoderlebnis, wie man es immer wieder hört. Es war einfach das grosse Aus.»

Leo Ferraro, Journalist

Alle fragen, ob er nüchtern war

Drei Tage später erwacht Ferraro im Spital auf der Nachbarinsel, zu dem man ihn geflogen hat. Er hat keine Erinnerung, weiss nicht, wie es zu dem Unfall kam und wie lange er auf der Schotterpiste gelegen hat, geschweige denn, wer ihn gefunden hat. 

«Natürlich fragt mich jeder, ob ich beim Unfall betrunken war, schliesslich hatte ich ja meine Freunde in der Bar besucht. Aber ich bin seit Jahren trockener Alkoholiker, Alkohol ist für mich schon lange keine Option mehr», sagt der 50-Jährige. 

«Am wahrscheinlichsten ist, dass mich etwas erschreckt hat und ich als unerfahrener Scooterfahrer viel zu stark und vor allem mit der Vorderradbremse gebremst habe», sagt Ferraro. Ein Auto könne es kaum gewesen sein. «Es gibt auf der Insel vermutlich weniger Autos, als ich Finger habe.»

«Es war nicht unangenehm, da war einfach nichts.» Es sei kein Nahtoderlebnis gewesen, wie man es immer wieder höre. Einfach das grosse Aus, ohne Tunnel oder Licht oder sonst eine spirituelle Erfahrung. «Seither nenne ich diesen, meinen Wunschtod, Fliegenklatsche.»

Die Ärzte versagen

Nicht einmal an Schmerzen kann er sich erinnern. Unvorstellbar bei seinen Verletzungen: das Gesicht von Schürfwunden entstellt und völlig verschwollen, die Arme mit Wunden übersät, der halbe Oberkörper ein einziger Bluterguss. 

Die Ärzte im Provinzspital auf der Nachbarinsel Tortola röntgen zwar beide Arme, kommen aber nicht auf die Idee, den Mann in die Röhre zu legen, eine Computertomografie des Kopfs zu machen, geschweige denn, den Rumpf mit dem riesigen Bluterguss zu röntgen. Die Freundin, die mit ihm angereist war, kümmert sich inzwischen um die Versicherungsdinge. «Sie hatte eine schreckliche Zeit. Ich bin ihr sehr dankbar für alles, was sie für mich getan hat», sagt Ferraro.

Die Unfallversicherung verlangt vom Spital eine Transportfähigkeitsbescheinigung – die das Spital dreimal ausstellt. Und so kommt es, dass Leo Ferraro mit zerschmetterter Wirbelsäule den Heimweg antritt, ganz normal in der Holzklasse seines Linienflugs. Da er immer wirreres Zeug redet, bestellt seine Begleiterin bereits bei der Zwischenlandung in Paris eine Ambulanz an den Flughafen Zürich.

Die Ärzte in der Schweiz stellen das wahre Ausmass der Verletzungen fest: Vom dritten bis zum siebten Halswirbel sind alle zerschmettert. Hinzu kommen drei gebrochene Brustwirbel und blutende Risse im Hirn. 

Drei Tage später wird er in Baden operiert. Eine Titanstange wird eingesetzt. Sie hält die fünf oberen Wirbel zusammen, die drei kaputten Wirbel weiter unten werden mit Schrauben stabilisiert. 

Gegen die Schmerzen bekommt er eine Morphiumpumpe, mit der er sich alle fünf Minuten eine Dosis geben kann. Heute ziert eine fingerdicke Naht vom Schädel bis unter die Schulterblätter den 50-Jährigen. 

Knapp an der Lähmung vorbei

«Es stellte sich heraus, dass das Rückenmark schwer beschädigt ist», sagt Ferraro. Ein paar Zehntelmillimeter mehr, sagten die Ärzte, und ich wäre vom Hals an gelähmt gewesen.» Doch er hat unvorstellbares Glück gehabt: Leo Ferraro hat eine Tetraparese, ist ein sogenannter unvollständiger Tetraplegiker. Er kann mit Einschränkungen beide Arme bewegen und sogar gehen.

Es folgen sechs lange Monate in der Rehab Basel, einer Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie. «Die Zeit in der Rehab versöhnte mich tatsächlich bis zu einem gewissen Grad mit meiner Situation.» Schon beim Eintritt sei ihm schlagartig bewusst geworden, dass er zu den Privilegierten unter den Patienten gehörte. 

Der Körper sendet Warnsignale

«Als ich bei der ersten Mahlzeit in der Gemeinschaft eine Pflegerin fragte, wo ich mich hinsetzen solle, sagte sie, ich solle einfach einen Platz mit Stuhl nehmen.» Nur vor drei von zwölf Gedecken stand ein Stuhl. «Die anderen brauchten keinen. Konnten nicht.»

Sechs Monate sind eine lange Zeit. Doch Leo Ferraro, von Beruf Journalist, tut in der Rehab das, was sein Leben ausmacht, schon immer ausgemacht hat: beobachten, recherchieren, Fragen stellen. «Ich hatte ja so viel Zeit.» Er beginnt, einen Blog für das Pflegepersonal zu schreiben. Über ihre Sorgen und Nöte, aber auch Lustiges. «Der Blog kam sehr gut an. Es machte mir Freude, die Leute zu unterhalten. Und es war für mich ein erster Schritt zurück in die Normalität. Ich wollte ja so bald wie möglich wieder arbeiten.»

Natürlich plagen ihn bis heute Existenzängste. Zurzeit ist er zwar fest angestellt, aber 50 Jahre alt und in einer Branche tätig, die ohnehin zu kämpfen hat. Und mit seiner Hirnverletzung ist es ihm bis heute unmöglich, länger als zwei Stunden konzentriert zu arbeiten. «Wenn ich die Warnsignale meines Körpers ignoriere, bekomme ich Bewusstseinsstörungen und schlafe danach auch mal 20 Stunden am Stück.» 

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«Ich sehe den Unfall auch als Chance»

Seine frühere Tätigkeit als Reporter beim «Blick», die durchaus auch mal ein gewisses Mass an Rücksichtslosigkeit verlangt habe, scheint so gar nicht zu dem sanften, feingliedrigen Mann zu passen, der in seinem Bauernhäuschen am Tisch sitzt. 

In der Stube stehen mehrere Katzenkratzbäume – Ferraro züchtet Bengalkatzen. Man erhält den Eindruck, dass er den Tieren mehr Zuwendung angedeihen lässt als sich selbst. Seine Kleidung ist eher zufällig. Das Haus ist trotz kühlen 13 Grad Aussentemperatur ungeheizt. Auch essen könnte er etwas mehr. 

«Es stimmt, ich war und bin mir nicht so wichtig.» Das habe den Vorteil, dass er seiner Situation auch Gutes abgewinne, weniger hadere mit dem Schicksal. «Ich sehe diesen Unfall auch als Chance.» Er sei gelassener geworden, entspannter, demütiger. Gezwungen, sich ein wenig mehr Sorge zu tragen. 

Das grosse Rätsel bleibt

Eine der ersten Massnahmen zu Hause sei gewesen, das Katzenfutter aus dem oberen Schrankfach weiter nach unten zu verlagern. «Aber ich kann mein Leben weitgehend selbst meistern, dafür bin ich unendlich dankbar.» 

All die Dinge, die seine Verletzung verunmöglicht – etwa Golfspielen, Brustschwimmen oder Ringturnen –, habe er sowieso nie gemacht. Er grinst: «Und Ambitionen, Schwingerkönig zu werden, habe ich auch nicht.» Bei der Arbeit will er wieder Gas geben. «Ich tue alles, um möglichst wieder voll einsatzfähig zu werden.»

Ein ungelöstes Geheimnis ist der Recherchierjournalist bis heute nicht angegangen: Wie es zu dem Unfall kam und was danach geschah. «Ich werde wohl nie herausfinden, was wirklich passiert ist. Es war ja niemand dabei.» Aber vielleicht wolle er das auch gar nicht. «Die Furcht, dass die Erinnerung an die Schmerzen, an die Angst, an den ganzen Schrecken zurückkommen könnte, ist wohl noch grösser als meine Neugier.»