Aufgezeichnet von Nicole Krättli:

«Die meisten Leute vermuten, es sei ein Kulturschock, wenn man als Arzt in einem Entwicklungsland arbeitet. Doch die eigentliche Herausforderung ist das Zurückkommen. Wir haben hier modernste Spitäler, beste Geräte, Unmengen an Medikamenten – und erzielen häufig doch keine besseren Resultate.

Ich habe seit 2000 insgesamt fünf Jahre ehrenamtlich im Ausland gearbeitet. Das hat eher zufällig angefangen. Ein Gastarzt, der mit mir im Unispital Zürich gearbeitet hatte, lud mich in seine Heimatstadt Wuhan im Osten Chinas ein. Dort operierte ich einige seiner Patienten. Das wurde live in die Nebenräume übertragen. Rund 80 Ärzte schauten zu. Danach bekam ich etliche Anfragen, ob ich nicht auch in diesem oder jenem Spital operieren würde, um so den Mitarbeitern neue Techniken beizubringen.

Alle Augen sind auf mich gerichtet

Wenn man in einem Operationssaal in Usbekistan, Myanmar oder Kambodscha steht, fühlt es sich an wie auf einer grossen Bühne im Scheinwerferlicht. Alle Augen sind auf einen gerichtet, jede Bewegung wird notiert und analysiert. Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen.

In der Schweiz oder in Deutschland habe ich ein Team, mit dem ich schwierige Entscheide diskutieren kann. Aber in Entwicklungsländern bin ich ganz allein auf mich gestellt. Ich muss allein entscheiden, ob ein Patient eine Chance hat oder nicht. Ich muss dann Risiken eingehen, muss improvisieren, Praktiken ausprobieren, die ich noch nie zuvor angewandt habe – all das ist im Auslandseinsatz an der Tagesordnung. Es ist eine Medizin ohne stupide Guidelines.

Es gibt natürlich auch Situationen, in denen man Nein sagen muss. Etwa wenn die minimal notwendigen Geräte nicht vorhanden sind oder wichtige Medikamente fehlen. 

Die Ärzte hofften, dass ich ihnen vor Ort zeige, was mit den vorhandenen Mitteln möglich ist. Bemerkenswert ist, dass in diesen Ländern durchaus Kliniken existieren, die über eine solide technische Ausrüstung verfügen. Doch häufig mangelt es am notwendigen Wissen und an der nötigen Erfahrung. Ich verzweifle manchmal fast, wenn ich sehe, wie viele Millionen der Westen in Gebäude, Apparaturen und Instrumente investiert, aber chronisch vergisst, dass es auch Fachleute braucht, die sie bedienen können.

«Viele Todesfälle könnten schon mit minimal besserem Wissen vermieden werden.»


Paul Vogt, Herzchirurg

Ich habe so viele Nachfragen erhalten, dass ich mich entschloss, eine Stiftung zu gründen. Heute arbeiten mehr als 120 Leute für die EurAsia Heart Foundation. Dank den Spendengeldern können wir den Ärzten die Organisation abnehmen und ihre Reisespesen decken. Andere Organisationen rücken bei Katastrophen überfallartig aus, wir sind längerfristig vor Ort und versuchen, die täglichen Katastrophen abzuwenden. 

Meist gehen wir in die schlechtesten Kliniken, wo die Ärmsten der Armen behandelt werden. Häufig muss die ganze Familie Geld zusammenlegen, wenn ein Kind krank wird. Falls es dann wegen einer schlechten Behandlung trotzdem stirbt, müssen die Hinterbliebenen nicht nur mit dieser Tragödie leben, sie haben auch noch ihr ganzes Hab und Gut verloren. Viele Todesfälle könnten schon mit minimal besserem Wissen vermieden werden.

In all den Jahren sind viele Geschichten in Erinnerung geblieben. Etwa die einer Familie aus dem Kaukasus, die ihr ganzes Geld zusammengespart hatte, um den kranken Sohn behandeln zu lassen. Er wurde 22-mal hospitalisiert. Erfolglos. Die letzte Chance sei eine Operation in Deutschland, sagte man der Familie. Kostenpunkt: 85'000 Euro. Wir schauten ihn uns an und entschieden, ihn in einer Klinik in St. Petersburg für den lokalen Ansatz von 2500 Franken zu operieren. Heute geht es ihm gut. Er schickte mir letzthin eine SMS aus dem Kaukasus.

Ein unbeschreibliches Gefühl

Bei einer Mission in Usbekistan wurden uns 100 Kinder gezeigt, die von allen anderen Kliniken als hoffnungslose Fälle abgestempelt worden waren. Wir versuchten es dennoch und operierten Kind um Kind um Kind. Das Gefühl nach solchen Einsätzen ist unbeschreiblich.

Doch es geht nicht so sehr darum, dass wir selber operieren. Wir machen es den lokalen Ärzten zwei- oder dreimal vor, anschliessend versuchen sie es selbst, und wir assistieren. In jedem Land gibt es gute Ärzte. Ihnen fehlen manchmal aber wichtige Tricks und Kniffe. Solches Personal bilden wir fertig aus und entsenden es anschliessend in noch benachteiligtere Regionen. Wenn wir unseren Job gut machen, braucht es uns irgendwann nicht mehr. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg.»

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