Ein lautes «Jingle Bells» schmettert über die Langstrasse. Eine Frau mit rot geschminkten Lippen will gerade einen Schluck aus der Weinflasche nehmen, jetzt horcht sie auf. Mitten im Zürcher Party- und Rotlichtquartier hat sich eine Weihnachtsband formiert. Die Frau heisst Susanne und wollte eigentlich in die Kirche.

Doch dort stand sie vor verschlossener Tür, die Sozialarbeiter seien an Covid erkrankt. «Und das ausgerechnet heute», sagt sie, und ihre Stimme kippt ins Weinerliche. «Wo doch Weihnachten immer so schwierig ist für mich, seit meine Mutter gestorben ist.»

Zum Glück ist hier etwas los. Unter dem Vordach einer Modeboutique sind Einkaufswägeli parkiert, alle randvoll mit Päckli beladen und mit Lametta, Sternen und Schleifen geschmückt. Es ist der Verein Njira, der hier Gassenweihnacht feiert und Geschenke an Bedürftige Was wir Armen zugestehen – und was nicht Wo fängt Luxus an? verteilt.

Ein junger Mann rührt in einem grossen Topf Gerstensuppe um. Eine Studentin macht Teller, Wienerli und Brot parat. Susanne deponiert ihre Tasche und die Weinflasche neben den Musikanten am Boden und beginnt mitzusingen.

Hotdogs, Miniröcke und Regen

Die weihnächtlichen Klänge vermischen sich mit den quietschenden Bremsen des 32er-Busses, der an der Ecke Militär-/Langstrasse Prostituierte in Quarantäne «Die Frauen im Milieu werden vergessen» hält, und mit südamerikanisch angehauchter Popmusik, die aus einer Bar schallt.

Auf der anderen Strassenseite stehen ein paar Leute zusammen und diskutieren hektisch. Auf einmal scheint alles klar zu sein, Dinge wechseln die Besitzer, und alle eilen davon, während ihre «Ciao!» und «Chum jetzt!» in der Dunkelheit verhallen.

«Die Menschen auf der Gasse sollen wissen, dass jemand an sie denkt»

Laura Issler, Verein Njira

So richtig nach Weihnachten fühlt sich der Abend nicht an. Der Express-Shop gegenüber verkauft wie immer American-Hotdog-Combos. Die Schaufensterpuppen der Modeboutique tragen dieselben ultrakurzen Miniröcke wie im Sommer.

Vielleicht käme mehr Stimmung auf, wenn Schnee fallen würde. Doch es fällt seit Stunden nur leiser Regen vom Himmel.

Susanne legt das Blatt mit den Liedtexten beiseite und packt ihr Geschenk aus. Ein knallroter Strickschal und eine Bodylotion kommen zum Vorschein. Sie schlingt sich den Schal theatralisch um den Hals und fragt: «Steht er mir?»

Als ihr Laura Issler vom Verein Njira erklärt, dass das Geschenk irgendjemand in der Welt da draussen ausgesucht und für sie eingepackt hat, kann sie es kaum glauben. Sie wirkt gerührt. «Die Menschen auf der Gasse sollen wissen, dass jemand an sie denkt», sagt Issler.

Von Gott erzählen

George hat sich eine orange-braune Wollmütze ausgesucht, deren kindliche Anmutung nicht so recht zu seinem glasigen Blick und der Camouflage-Umhängetasche passen will. Der junge Rumäne ist erst seit ein paar Wochen in der Schweiz und lebt auf der Strasse.

George an den Gassenweihnachten 2021, fotografiert im Kreis 4 in Zürich.

George: «Eine schöne Aktion, aber die Menschen sollten nicht nur an Weihnachten lieb zueinander sein.»

Quelle: Joël Hunn

Weihnachten bedeute ihm viel, sagt er. Aber was seine Familie an Heiligabend macht, weiss er nicht. Er hat keinen Kontakt mehr zu ihr. Sein Blick geht ins Leere, als hätte er kurz den Faden verloren. Dann zeigt er auf die Päckli und meint: «Eine schöne Aktion, aber die Menschen sollten nicht nur an Weihnachten lieb zueinander sein.»

Sein grösster Wunsch ist es, Priester zu werden und Menschen von Gott zu erzählen. «Es gibt viele, die ihn nicht kennen.» Auf die Frage, ob er die Wollsocken brauchen könne, antwortet er lakonisch: «Wer nicht?»

Gestrickt wurden sie von Laura Isslers Grossmutter. Sie ist eine der Frauen, die für die Päckliaktion handarbeiten. Übermorgen, am 26.  Dezember, wird Laura mit ihr und ihrer ganzen Familie im Engadin Weihnachten feiern.

«Für mich sind Weihnachten und Päckli etwas mega Schönes»

Sabrina Göldi, Gründein Gassenweihnacht

Auch dieses Jahr wird die Gassenweihnacht Bedürftige stehen stundenlang für Essen an Im Schatten der Glitzerfassaden Gesprächsthema sein, sie wird Fotos zeigen und von den Menschen erzählen, denen sie heute Abend begegnet. «Der Kontrast zwischen den beiden Feiern ist extrem. Wenn man zuvor auf der Gasse war, schätzt man umso mehr, was man hat», sagt sie und giesst Tee in einen Plastikbecher.

Zwei kichernde junge Frauen in glänzenden Plastikleggins biegen um die Ecke und lassen sich ein Geschenk in die Hände drücken. Sie bedanken sich überschwänglich. Suppe wollen sie keine, «keine Zeit!». Eine kleine Aufmerksamkeit, im Vorbeigehen. Manchmal ist es nicht mehr. Manchmal braucht es vielleicht nicht mehr.

Für ein kurzes Lächeln

Andere scheinen die Zeit zu vergessen. Man isst Suppe und Wienerli, schwatzt mit Bekannten. Am Rand der Gruppe wartet eine Mutter mit Velo, Gepäck und zwei kleinen Kindern wortlos auf ihren Mann, der sich bierselig durch die Menge quatscht.

Am Lenker ihres Velos baumeln grosse karierte Plastiktaschen, die mit allerlei Habseligkeiten gefüllt sind. Aus einer lugen vier Pizzaschachteln, deren Inhalt langsam kalt wird. Als die beiden Buben ihre Geschenke auspacken, huscht für einen Moment ein Lächeln über ihre Gesichter.

Dann stopfen sie das Spielzeug in die Tasche und schauen wieder ernst. Langsam weicht der Regen die Pizzaschachteln auf.

«Mit diesem Voneinander-Füreinander-Prinzip möchten wir eine Art Brücke bauen zwischen denen, denen es gut geht, und denen, denen es weniger gut geht.»

Sabrina Göldi

Ins Leben gerufen hat die Gassenweihnacht Sabrina Göldi. Die Psychologiestudentin arbeitete 2017 in einer Zürcher Anlauf- und Beratungsstelle und verspürte den Wunsch, den Bedürftigen etwas zu Weihnachten zu schenken. «Für mich sind Weihnachten und Päckli etwas mega Schönes», sagt sie. «Dass manche Menschen keine bekommen, hat mich traurig gemacht.»

Weil Kolleginnen sie spontan unterstützten, kamen auf Anhieb 150 Päckli zusammen. Seither wächst das Projekt von Jahr zu Jahr. Jemand machte eine Website, ein Verein wurde gegründet, eine Logistikfirma bot an, die Sammlung und Lagerung zu organisieren, Grossmütter wollten stricken, Bekannte warme Winterjacken spenden und Studierende am Weihnachtsabend mit Bedürftigen auf der Gasse feiern. «Das hat sich alles organisch entwickelt.»

Sabrina und Zwillingsschwester Nadja Göldi haben den Verein Njira 2020 ins Leben gerufen.

Sabrina und ihre Zwillingsschwester Nadja Göldi haben den Verein Njira 2020 ins Leben gerufen.

Quelle: Joël Hunn

In den vergangenen Jahren wurden jeweils über 1000 Geschenke Auf Facebook spenden Jeder Klick eine gute Tat? verteilt – nicht nur während der Gassenweihnacht an der Langstrasse, sondern auch an Notunterkünfte, Drogenanlaufstellen sowie Mädchen- und Frauenhäuser in Zürich und Bern.

Bis heute werden alle Päckli von den Spenderinnen und Spendern selbst gemacht. «Den Akt des Schenkens kann man nicht delegieren», sagt Sabrina Göldi. «Mit diesem Voneinander-Füreinander-Prinzip möchten wir eine Art Brücke bauen zwischen denen, denen es gut geht, und denen, denen es weniger gut geht.»

Gassenweihnachten 2021, fotografiert im Kreis 4 in Zürich

Andy: «Mein Geschenk werde ich erst bei meinen Eltern öffnen. Das muss so sein.»

Quelle: Joël Hunn

Das Wienerli knackt, als Andy hineinbeisst. Er ist in einen Daunenmantel gehüllt und trägt eine rote Baseballmütze, auf der «Switzerland» steht.

Eigentlich ist er auf dem Weg zu seinen Eltern ins Rheintal. Eilig scheint er es nicht zu haben. Aber eins ist sicher: Sein Geschenk wird er erst dort öffnen. «Das muss so sein», sagt er strahlend und zeigt dabei seine Zahnlücke.

 

Gassenweihnachten 2021, fotografiert im Kreis 4 in Zürich.

Zu den Weihnachtsklängen der Band gibts einen Imbiss mit Wienerli und Brot.

Quelle: Joël Hunn

Die Band stimmt «Leise rieselt der Schnee» an. Er schaut amüsiert über den Rand seines Suppentellers. Ein Mann tanzt im Regen.

Wer einem bedürftigen Menschen ein Päckli zu Weihnachten schenken möchte, findet alle Infos auf www.njira.org. Die Geschenke können an Sammeltagen und Sammelorten abgegeben oder per Post geschickt werden. Auch Geldspenden für die Durchführung der Gassenweihnacht sind willkommen.

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