Beobachter: Gratulation, Herr Muggli. Sie sind der beste Prediger im Land. Wie fühlt sich das an?
Thomas Muggli: Danke für die Blumen. «Bester Prediger im Land» klingt zwar schmeichelhaft, aber so würde ich das nicht formulieren. Ich habe den diesjährigen Ökumenischen Predigtpreis gewonnen. Das hat mich natürlich gefreut. Die Konkurrenz ist ja gross. Es können alle Predigenden der Landes- und Freikirchen im deutschsprachigen Raum mitmachen.

Beobachter: Wie hat Ihre Gemeinde in Wolfhausen/Bubikon ZH reagiert?
Muggli: Es war herzig. Sie haben einen Empfang organisiert, es gab viele Gratulationen und nette Worte.

Beobachter: Die Jury würdigte Ihre besondere Sichtweise auf Judas. Was haben Sie Neues am biblischen Verräter entdeckt?
Muggli: Der Karfreitag, der Tag, an dem Jesus am Kreuz stirbt, ist eines der wichtigsten Daten des christlichen Kirchenlebens. Die ungeheuer dramatische Symbolik lädt geradezu ein zu weitschweifenden und abstrakten Überlegungen über den Sinn dieses Todes. Der durchschnittliche Kirchengänger aber kann vielleicht nicht so viel damit anfangen. Deshalb habe ich Judas ins Zentrum gestellt: Er gesteht den Hohepriestern, dass er Jesus zu Unrecht angeschwärzt hat, und will sogar das Geld zurückgeben. Judas möchte seinen Fehler wiedergutmachen. Damit übernimmt er Verantwortung für sein Handeln. Er tut mehr als die anderen Jünger, die sich aus dem Staub machen oder Jesus sogar verleugnen.

Beobachter: Wie lange müssen Sie nachdenken, bis Sie eine gute Idee für die Predigt haben?
Muggli: Für eine Predigt brauche ich etwa einen Tag. Ich lasse mich von meinen eigenen Gedanken und Grundsätzen leiten. Während der Beschäftigung mit Judas habe ich gemerkt, dass vieles von ihm auch in mir steckt.

Beobachter: Was genau?
Muggli: Habsucht, mit Enttäuschungen umgehen, Ungeduld. Wie oft habe ich schon Dinge getan, die ich bitter bereute.

Beobachter: Wollten Sie immer Pfarrer werden?
Muggli: Ich wollte eigentlich Physik studieren, träumte von einer Karriere am Cern in Genf. Dort untersucht man den Aufbau der Materie. Ich besuchte ein paar Probevorlesungen an der Uni in Zürich und sprach mit Forschenden über ihre Arbeit. Einer erzählte mir, dass er seit fünf Jahren mit einem Laser auf Atome schiesse. Es war für mich ein Schock, zu erfahren, wie wenig Physik mit dem Menschen zu tun hat. Darum entschied ich mich für Theologie.

Beobachter: Wie würden Sie einem Nichtglaubenden die Erfahrung des Glaubens beschreiben?
Muggli: Das ist jetzt grad eine schwierige Frage. Am ehesten kann man es mit einer Liebesbeziehung vergleichen. Ich spüre ein Grundvertrauen, ein Gefühl des Angenommenseins und die Gewissheit, dass nicht alles von mir abhängt.

Beobachter: Ist die Bibel das wichtigste Buch der Welt? Zumindest für Menschen, die sich spirituell weiterentwickeln möchten?
Muggli: Ja, das glaube ich schon. Je länger ich mich mit den Bibeltexten beschäftige, umso deutlicher merke ich, was für eine enorme Kraft in ihnen steckt. Sie lösen vielerlei Assoziationsketten aus und bringen mich dazu, über mich selber nachzudenken.

Beobachter: Steckt mehr als menschliches Wissen darin?
Muggli: Ich möchte das nicht dogmatisch behaupten. Die Bibel ist nicht Gottes Wort im wörtlichen Sinn.

Beobachter: Christen der Pfingstbewegung in den USA praktizieren das rituelle Snake-Handling (Schlangenaufheben). Begleitet von rhythmischer Musik, hantieren sie im Gottesdienst mit Giftschlangen. Es heisse nämlich sinngemäss in der Bibel, wer glaube, dem könnten Schlangen nichts anhaben. Die Realität ist anders: Regelmässig werden Gläubige gebissen und sterben einen qualvollen Tod. Was macht hier die Religion mit den Menschen?
Muggli: Sollte man nicht eher fragen, was die Menschen mit der Religion machen? Mich erinnert es an den Teufel, der Jesus bedrängt. Wenn er Gottes Sohn ist, solle er es doch beweisen, indem er aus Steinen Brot mache oder sich von den Zinnen stürze. In der Bibel steht eben auch, dass man seinen Herrn nicht versuchen soll.

Pfarrer Muggli.
Quelle: Herbert Zimmermann

 «Vielleicht begegnet uns Gott nicht unbedingt dort, wo wir es erwarten.»


Thomas Muggli, Pfarrer

Beobachter: Wie kommt es, dass Religionen auch das Schlechteste im Menschen befördern können?
Muggli: Wir und viele vor uns leben und lebten in unsicheren Zeiten. Das Leben ist per se unsicher und kann jederzeit vorbei sein. Da kann es verlockend sein, wenn jemand mit Absolutheitsanspruch daherkommt und sagt: «Ich weiss alles.»

Beobachter: In der islamischen Welt scheinen heute mehr Menschen dieser Verlockung zu erliegen. Warum ist das so?
Muggli: Das Christentum ging durch den Reinigungsprozess der Aufklärung. Sie verstärkte bei den Menschen das Bewusstsein für das Recht, Macht und Autoritäten in Frage zu stellen. Aktiven Protest gegen Ungerechtigkeiten hatte bereits Jesus in der Bergpredigt gefordert. Dieser Emanzipationsprozess steht dem Islam erst bevor.

Beobachter: Sehen Sie da einen Silberstreifen am Horizont?
Muggli: Nach islamischer Glaubensvorstellung stammt der Koran Wort für Wort von Allah selbst. Das macht es sicher nicht einfacher, Kritik an den Inhalten zu äussern. Die Bibel wurde dagegen von Menschen geschrieben. Das macht die Kritik einfacher, man muss sich nämlich nicht dem Vorwurf aussetzen, man wisse etwas besser als Gott.

Beobachter: War Jesus der bessere Mensch als Mohammed?
Muggli: Neben seiner Rolle als Prophet war Mohammed auch ein politischer Führer, der verschiedene Beduinenstämme zusammenführen wollte. Jesus sagte, sein Reich sei nicht von dieser Welt. Als Kämpfer gegen Ungerechtigkeit war zwar auch Jesus ein politischer Mensch, aber er betrieb keine Parteipolitik.

Beobachter: Eine der intensivsten Szenen des Neuen Testaments ist Jesus im Garten Gethsemane, in der Nacht vor seiner Kreuzigung. Der deutsche Dichter Richard Dehmel schrieb dazu: «Und er sieht die Schaaren seiner Qualen,/ durch das Dickicht brechen bleiche Strahlen,/und sie bohren ihm die fahlen/ Dolche gierig in die glühende Stirn.» Seltsamer Gottvater, der seinen eigenen Sohn auf die Folterbank schickt.
Muggli: Hier kommen wir an die Grenzen des Sohn-Vater-Bildes. Es ist nicht der Sohn Jesus, der am Kreuz leidet. Es ist Gott schlechthin, der an der Welt leidet und durch sein Leiden die Menschheit erlöst.

Beobachter: Glauben Sie an die Auferstehung?
Muggli: Ja.

Beobachter: Wie ist es denn so, drüben?
Muggli: Sie meinen partymässig und so? Ich sage Ihnen: Drüben ist die Hölle los. Nein, im Ernst: Ich habe keine Ahnung. Am besten gefällt mir die Art, wie es der Apostel Thomas verdeutlicht. Er sagt, es sei für uns völlig unvorstellbar. Thomas vergleicht es mit jemandem, der zum ersten Mal ein Samenkorn sieht. Für diese Person ist es unvorstellbar, dass daraus ein riesiger Baum entstehen kann. Kurz zusammengefasst: unvorstellbar, aber bestimmt schön.

Beobachter: Dann fürchten Sie den Tod sicher nicht?
Muggli: Kommt darauf an, wann er kommt. Wenn ich jetzt stürbe, wäre das schlimm. Ich lebe nämlich gern. Das Christentum ist eine lebensbejahende Religion. Wir dürfen das mit all seinen schönen Seiten geniessen. Aus meiner Tätigkeit als Seelsorger weiss ich aber auch, dass der Tod eine Erlösung sein kann. Nämlich für Menschen, die alt und lebenssatt sind. Für sie ist es gut, wenn sie gehen können.

Beobachter: Haben Sie eigentlich ein Vorbild?
Muggli: Ja, Dietrich Bonhoeffer. Ein brillanter Theologe, dem in den dreissiger Jahren eine grosse Karriere in den USA bevorstand. Bonhoeffer aber zog es vor, nach Nazideutschland zurückzukehren und gegen Hitler zu kämpfen. Er wurde am 5. April 1943 verhaftet und starb am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg.

Beobachter: Da kann man sich im Vergleich dazu ganz schön klein vorkommen. Oder braucht man kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man bei sich nicht die gleichen Heldenqualitäten entdeckt?
Muggli: Doch, doch. Ein bisschen schlechtes Gewissen kann nicht schaden. Aber die Bibel ist ja voll von Figuren, die jämmerlich fehlen und versagen. Angefangen bei Josef, der seine Frau grad zweimal dem ägyptischen Haremsleiter verkauft, bis zu Petrus, der Jesus verleugnet, damit er keinen Ärger kriegt.

Beobachter: Bald feiern wir Weihnachten. Was bedeutet das Fest für Sie?
Muggli: Mit der Geburt Jesu beginnt vor mehr als 2000 Jahren ein komplett neues Projekt. Es ist eine radikal neue Gottesvorstellung, weit weg vom strafenden Gott des Alten Testaments, der Wohlverhalten einfordert und belohnt. Der Gott des Neuen Testaments lässt sich in der Gestalt Jesu von Maria gebären, irgendwo in der kalten Pampa draussen. Gott wird zum hilflosen Kind in der Krippe. Die Welt nimmt von Jesus in seinen ersten 30 Lebensjahren keinerlei Notiz – bis er dann von Johannes getauft wird. Ein unglaublicher Machtverzicht des Gottessohns.

Beobachter: Warum denn kommt Jesus in der kalten Pampa zur Welt und nicht in der besten Geburtsklinik seiner Zeit? Was soll uns das sagen?
Muggli: Vielleicht, dass uns Gott nicht unbedingt dort begegnet, wo wir es erwarten. Aber dass es sich lohnt, das warme Feuer zu verlassen und sich auf den Weg zu machen.

Der Ökumenische Predigtpreis
Predigtpreis
Quelle: ZVG

Der reformierte Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm, 55, gewann als erster Schweizer nach Kurt Marti den Ökumenischen Predigtpreis. Mit dem Preis werden seit dem Jahr 2000 Predigten von besonderer Qualität ausgezeichnet – aus allen Landes- und Freikirchen im deutschsprachigen Raum (mit im Bild: Alexandra Pook, ausgezeichnet für die beste Traupredigt). Muggli studierte reformierte Theologie in Zürich und ist seit 1997 Pfarrer in Bubikon ZH. Seine Freizeit widmet er der Familie, dem Bergsteigen und der Musik.

Die besten Artikel – Woche für Woche
«Die besten Artikel – Woche für Woche»
Tina Berg, Redaktorin
Der Beobachter Newsletter