Das Grauen kam im Sommer 1996 ins Zürcher Pflegeheim Entlisberg zurück. Der 80-jährige Albert Mülli durchlebte den Horror immer wieder, den er im Konzentrationslager Dachau als junger Mann überstanden hatte. Mehr als drei Jahre war der Schweizer Sozialdemokrat während des Zweiten Weltkriegs dort inhaftiert gewesen. Müllis letztes Lebensjahr im Heim war qualvoll. Nach einem Hirnschlag verfolgten ihn Albträume.

«Es schmerzte uns alle sehr, wenn wir mit ansehen mussten, wie unser Vater (…) all die Gräueltaten, die er in Dachau miterlebt hatte, Nacht für Nacht in seinen Träumen erneut durchlitt», erinnern sich Müllis Töchter. Der Trost des reformierten Pfarrers habe ihm viel bedeutet, schreiben sie in den Unterlagen, die heute im Archiv für Zeitgeschichte in Zürich liegen.

Albert Mülli ist einer von Hunderten Schweizern, die an den Spätfolgen ihrer Verfolgung litten. Mindestens 723 Schweizerinnen und Schweizer überlebten Hunger, Zwangsarbeit und Misshandlungen in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Mindestens 206 Schweizer wurden dort erschossen, erschlagen oder vergast. Das belegen Akten des Schweizerischen Bundesarchivs.

Holocaust

«Es regnete Fusstritte und Ohrfeigen. Uns fror es alle erbärmlich»: Der Schweizer Albert Mülli hat sechseinhalb Jahr Nazihaft überlebt.

Quelle: Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich

Keine gewalttätige Auseinandersetzung hat in den letzten 200 Jahren mehr Schweizer Todesopfer gefordert. Doch wer die Verfolgten waren, weiss man bis heute nicht. Die rund tausend Gequälten sind von der Schweizer Geschichtsschreibung weitgehend vergessen. 

Kein Denkmal würdigt die Schweizerinnen und Schweizer, die den Nazis zwischen 1933 und 1945 zum Opfer gefallen sind. Keine Namensliste erinnert an die misshandelten Auslandschweizer, Resistance-Sympathisanten, Juden, Homosexuellen, Antifaschisten und Pechvögel. Selbst Auslandschweizer, die bloss Radio Beromünster gehört hatten, wurden «oft grausam verfolgt» und zur «Abschreckung scharf verurteilt», steht in Bundesratsakten von 1959.

Eine verhängnisvolle Reise nach Wien

Viele Schweizer Überlebende haben nach dem Krieg über den Sadismus und die Gewaltwillkür geschwiegen, denen sie in den Konzentrationslagern täglich ausgesetzt gewesen waren. Albert Mülli nicht. Der spätere Zürcher SP-Kantonsrat erzählte an Vorträgen und vor Schülern über seine Leidenszeit im Konzentrationslager Dachau.

Sein schlimmster Lebensabschnitt begann im November 1938 mit einer Zugreise. Mülli war 22, vorübergehend arbeitslos und für ein Abenteuer zu haben. Der Gewerkschafter brachte einen Koffer mit Kleidern von Zürich ins nationalsozialistische Wien, in dessen doppeltem Boden 1000 kommunistische Flugblätter versteckt waren. Dafür erhielt er 70 Franken. «Natürlich wusste ich, dass ich einen illegalen Kurierdienst machte», sagte der städtische Angestellte später.

Aus der kurzen Reise wurden sechseinhalb Jahre Nazihaft. Drei Gestapo-Männer verhafteten den Sanitärinstallateur bei der Übergabe in einem Wiener Schuhgeschäft, ein Nazigericht verurteilte ihn wegen «Vorbereitung zum Hochverrat» zu drei Jahren Gefängnis. Danach kam Mülli nicht frei, sondern in die Hölle des KZ Dachau. Als Häftling Nummer 29 331 besass er fortan keinen Namen mehr. Der Schweizer SP-Bundesrat Ernst Nobs setzte sich zwar für den Genossen Mülli ein, doch die Nazis liessen ihn nicht gehen. Erst im April 1945 befreiten ihn US-Soldaten.

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Im Konzentrationslager Dachau hatte Albert Mülli keinen Namen mehr. Er war nur noch der politische Häftling Nummer 29'331.

Quelle: Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich

Zum Essen habe es im KZ einen «Sautrank» gegeben, eine dünne Suppe aus Ausschusskartoffeln mit Schale. «Es regnete Fusstritte und Ohrfeigen. Uns fror es alle erbärmlich», erzählte Mülli viel später einer SP-Zeitung. Wer im KZ Dachau seine Arbeit nicht im Laufschritt erledigte, kassierte Peitschenhiebe. Wer schwächelte, wurde ermordet.

Mülli arbeitete die meiste Zeit als Sanitärmonteur in KZ-Aussenkommandos. Seinen Liebsten durfte der politische Häftling zensurierte Briefe schicken. 30 Zeilen alle zwei Wochen. Ein weiteres Privileg war, dass seine Familie ihm Pakete senden durfte – mit Dörrobst, Käse, Milchpulver, Seife, Zucker oder Verbandsstoff. Seine Mutter überwies per Post Geld ins KZ, damit ihr Sohn die Zollgebühren für die Lebensmittellieferungen bezahlen konnte. Das half ihm, die Qualen zu überleben.

Zürcher Kinder in Auschwitz ermordet

Die Schweizer Teenager Jula und Frédéric Rothschild hatten nicht so viel Glück. Sie fuhren 1942 in den Tod. Die Geschwister lebten mit ihrer Mutter Selma als Auslandschweizer in Westfrankreich. Nach dem frühen Tod ihres Vaters Samuel hatten sie 1934 ihre Heimat Zürich verlassen. An einem Mittwoch im Juli 1942 um elf Uhr nachts beendeten Gestapo-Männer und französische Gemeindepolizisten ihr gewohntes Leben abrupt. Sie sperrten die dreiköpfige Familie in der Stadt Angers in ein überfülltes Zimmer, obwohl gegen sie nichts vorlag. Als Verhaftungsgrund reichte ihr jüdischer Glaube.

Das umgehend eingeschaltete Schweizer Konsulat in Paris unternahm vorerst nichts, um die Landsleute zu befreien. Fünf Tage nach ihrer Festnahme war es bereits zu spät: Jula, Frédéric und Selma Rothschild wurden mit 839 anderen Verhafteten in Güterwaggons gepfercht und ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Auf der Selektionsrampe sortierten SS-Ärzte 41 Verschleppte als «nicht arbeitsfähig» aus und liessen sie sofort in den Gaskammern umbringen. Die übrigen Deportierten versklavten die Nazis bei ungenügender Ernährung und ohne medizinische Versorgung. Ein Tod auf Raten.

Holocaust

Müllis Mutter überwies dem Sohn Geld, mit dem er den Zoll für Lebensmittellieferungen zahlte.

Quelle: Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich

Dem 18-jährigen Frédéric wurde der Kopf rasiert, das Gepäck geraubt und die Häftlingsnummer 51'300 mit Metallnadeln in den Unterarm gestochen. Der Zürcher musste als Leichenträger die im KZ ermordeten, verhungerten und zu Tode geschundenen Menschen einsammeln und in die Leichenhalle bringen. Später sollte er in einer Maurerschule den Barackenbau lernen. Vier Monate nach seiner Ankunft im Konzentrationslager erlag der Jugendliche den Qualen. Die Todesdaten seiner 20-jährigen Schwester Jula und seiner 45-jährigen Mutter Selma sind nicht bekannt.

Als Einziger der Familie Rothschild überlebte der älteste Bruder Jean, der während des Kriegs in der Schweiz die Rekrutenschule absolvierte und hier lebte. Die Berner Behörden haben ihm anfänglich nur eine Entschädigung von 2500 Franken angeboten für den «Verlust» seiner Mutter und je 500 Franken für den Tod seiner beiden Geschwister. Das entsprach in den Nachkriegsjahren den Richtlinien.

«Nie systematisch untersucht»

Einzelne Schicksale wie jenes der Familie Rothschild haben Historiker genau rekonstruiert. Eine umfassende Forschungsarbeit über alle Schweizer KZ-Häftlinge gibt es jedoch nicht, obwohl die Verschleppten und Ermordeten in diversen Bundesratsberichten der fünfziger Jahre auftauchen. Obwohl über 1600 Personendossiers dazu im Schweizerischen Bundesarchiv lagern.

«Die Biografien der Opfer sind nie systematisch untersucht worden», kritisiert die Freiburger Geschichtsprofessorin Christina Späti. «Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema erfüllt die internationalen Standards nicht.» Selbst in wichtigen Publikationen über die Naziopfer Europas bleibe die Schweiz ein weisser Fleck. «Praktisch jedes Land widmet seinen NS-Opfern eine Gedenktafel. Nur in der Schweiz passiert nichts. Der Holocaust wird noch immer als etwas betrachtet, das ausserhalb der Schweiz liegt. Auch von Historikern.»

Holocaust

«Meine Frau und ich sind interniert im Lager von Drancy. Machen Sie unverzüglich das Notwendige um uns zu befreien und uns in die Schweiz zurückzubringen. Wir stehen untern dem Schutz und der Garantie Ihres Konsulates.» André Weill Wenige Tage später werden André und Lucie Weill nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Quelle: Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, Schweizerisches Bundesarchiv

Das will die 46-jährige Professorin ändern. «Es muss ein öffentliches Bewusstsein geben, dass auch Schweizer dem Naziterror zum Opfer gefallen sind.» So könne eine direkte Verbindung zur Schweiz aufgezeigt werden. Im Minimum will Späti eine Website schaffen, die die Namen der Opfer auflistet. Schulkinder sollten dereinst lernen, dass die Naziherrschaft auch für rund tausend Schweizer fatale Folgen hatte. Unterstützung erhält Historikerin Späti von Jacques Picard, Professor für jüdische Geschichte in Basel: «Die Schweizer Holocaust-Opfer haben in der kollektiven Erinnerung noch keinen angemessenen Platz erhalten. Sie hätten ein würdiges Denkmal verdient.»

«Vegetierend wie ein Tier»

Späti wird nun die Geschichte der KZ-Häftlinge wissenschaftlich untersuchen. Ihre Recherchen über den Westschweizer KZ-Überlebenden René Pilloud sieht sie als Anfang einer systematischen Aufarbeitung. Die Gestapo verhaftete den in Frankreich lebenden Freiburger im Februar 1944, weil er zur Résistance gehört haben soll. Nach einem Jahr im KZ Mauthausen wog der 19-Jährige noch 37 Kilo.

In den letzten Tagen vor der Befreiung mussten René Pilloud und 400 andere Häftlinge auf einem Feld Kartoffeln ausgraben, wie er 1946 der Freiburger Zeitung «La Liberté» erzählte: «Der 23. April 1945 war der schrecklichste Tag für mich. Bei tiefen Temperaturen und wolkenbruchartigen Regenfällen sass ich auf der Erde, gelähmt, und konnte keine Bewegung mehr machen. Ich hatte keine Kraft mehr, die Kartoffeln ins Netz zu legen. Ich war traurig und dachte an nichts mehr, vegetierend wie ein Tier. Am Abend sammelten wir 50 Tote ein. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Viele meiner Kameraden sind gefallen. Zwei Tage zuvor wurde das Lager ‹gesäubert›, 1500 Männer sind tot, vergast in den Baracken durch die SS.» Gestorben ist auch Pillouds Schweizer Mitgefangener, der Bauer Marcel Gaillard.

«Praktisch jedes Land widmet seinen NS-Opfern eine Gedenktafel. Nur in der Schweiz passiert nicht. Der Holocaust wird noch immer als etwas betrachtet, das ausserhalb der Schweiz liegt.»


Christina Späti, Professorin Universität Freiburg

Solch tragischen Schicksalen gehen auch die drei Schweizer Journalisten Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid nach. Sie haben laufmeterweise Bundesarchivbestände durchforstet und suchen nun KZ-Transportlisten nach Schweizer Bürgern ab. Ihr Buch mit dem Arbeitstitel «Schweizer im KZ» wird im Herbst 2019 im NZZ-Verlag erscheinen und die Namen der Schweizer KZ-Opfer auflisten.

Vom Bund kommt kein Geld

Für viele Angehörige ist das eine späte Genugtuung. So schrieb Isidore Weill aus La Chaux-de-Fonds bereits im Juni 1945 an den Bundesrat: «Wieso publiziert man nicht eine Liste aller Opfer der deutschen Barbarei?» Er hatte seinen Bruder André und seine Schwägerin Lucie im KZ Auschwitz verloren, weil die Schweizer Gesandtschaft im französischen Toulouse die jüdischen Auslandschweizer nicht rechtzeitig rettete. Das Schweizer Aussenministerium gab 1956 sogar zu, «dass die Angelegenheit Weill mit einer bedenklichen Unbekümmertheit bearbeitet worden ist». Man könne froh sein, dass Isidore Weill es ablehne, «über ‹unsere Arbeit› die Öffentlichkeit zu orientieren».

Noch heute scheint es, als hätten die Bundesbehörden kein Interesse an einer Diskussion über die Schweizer KZ-Opfer. Die Schweiz präsidiert zwar dieses Jahr die internationale Holocaust-Erinnerungsallianz IHRA, die Holocaustforscher und Erinnerungsprojekte fördert. Doch das Eidgenössische Aussendepartement hat im Rahmen dieses Präsidialjahrs weder Gelder gesprochen für Abklärungen zu den eigenen Opfern noch das Thema an einer der zahlreichen Veranstaltungen erwähnt. Man unterstütze Forschungen dazu unter anderem mit Recherchehinweisen, rechtfertigt sich ein Sprecher.

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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