Augen zu, Mund zu, das Herz verschlossen. Da kommt der riesige, rote Penis. Heisse Lava, die Körper und Seele versehrt. Es über sich ergehen lassen. Sich so klein wie möglich machen. Sich verstecken und besser schweigen. Das traurigste Selbstporträt der Welt. Gemalt hat es Iris Galey in einer Therapiesitzung. Es erzählt ihre Geschichte – aber nur deren Anfang.

«Ich wurde einer Mutter geboren, die keine Kinder haben wollte. Sie hat versucht, mich abzutreiben. Weil das nicht funktionierte und ich trotzdem auf die Welt kam, hasste sie mich.» Iris Galey sitzt am Küchentisch und giesst sich eine Tasse Tee ein. Sie trinkt ihn mit Milch und Zucker, wie damals zur tea time in Neuseeland. Dazu gibt es Linzertorte.

Im letzten Jahr habe sie viele Stunden an diesem Tisch verbracht, erzählt sie. Von sechs Uhr früh bis spät in die Nacht schrieb sie am nächsten Kapitel ihrer Geschichte. Jetzt ist der Laptop zu, das Manuskript beim Verlag.

Das neue Buch wird ein offener Brief an den Papst sein. Darin geht es um Missbrauch in der katholischen Kirche: «Lieber Papa Francesco». Kein Kind solle jemals solche Bilder malen müssen wie sie. Durchmachen müssen, was Iris Galey als kleines Mädchen erlebt hat.

Fünf Jahre lang schwieg sie

Als Baby wurde Iris in die Obhut zweier Kindermädchen gesteckt, kam dann in eine Pflegefamilie und schliesslich ins Kinderheim. Nach Kriegsende reiste die Familie nach England zurück, in die Heimat ihres Vaters. Jenes Vaters, der sie fortan missbrauchte. Er hielt seiner neunjährigen Tochter die Pistole an den Kopf und zwang sie, ihn sexuell zu befriedigen.

Fünf Jahre schwieg Iris, sie lächelte auf Befehl und weinte im Versteckten. Dann, bei einem Nachtessen, platzte es aus ihr heraus. Die Mutter nannte sie hysterisch, der Vater erschoss sich zwei Tage später. Iris kam ins Mädchenpensionat im Berner Oberland.

Ein Lehrer dort, ein schöner Mann, sagte ihr eines Tages: «Du armes Kind, wenn du 18 bist, heirate ich dich.» Die Ehe verlief unglücklich. Ihr erster Mann hat genau dort weitergemacht, wo ihr Vater aufgehört hatte. Er verprügelte sie, dann liess er sie fallen.

Er hält seiner neunjährigen Tochter die Pistole an den Kopf und zwingt sie, ihn sexuell zu befriedigen.

Bild aus dem Privatarchiv von Iris Galey, Schweizer Traumatherapeutin und Buchautorin

Dieses Bild malte Iris Galey in einer Therapiesitzung.

Quelle: Privat

Mit 30 heiratete Iris Galey zum zweiten Mal, in Basel. Sie würde ein «hübsches Fasnachtsschätzli» abgeben, meinte der Herr im Vorbeigehen. Galeys Mutter sagte, er solle sich doch zu ihnen setzen. Er machte der Tochter den Hof und bekam von der Schwiegermutter ein Auto geschenkt. Bald nach dem Treueschwur schlug er seine Gattin zweimal fast zu Tode.

Iris Galey hasste Sex. Sie hatte Todesangst. Es war ihr Vater, der ihr gesagt hatte: «Wenn du nicht mit jedem Mann schläfst, der das will, bist du nichts wert und musst sterben.» Während ihrer Ehe suchte sie auch auswärts Wärme, die Nähe anderer. Dabei lernte sie: Der Preis für etwas Zuneigung wird immer im Bett bezahlt. «Ich liess es über mich ergehen, damit ich nicht erfror.»

Sie wurde als Hure bezeichnet, als Spinnerin. Dabei wollte sie nur Liebe spüren, Zärtlichkeit. Ein kleines Mädchen noch immer, das Zuneigung sucht. Die Leute verstanden nicht, weshalb sie so ist, wie sie ist. Sie wurde vom Opfer zur Täterin gemacht. «Missbrauchte Kinder werden zu Menschen mit unsichtbarer Behinderung», sagt Iris Galey.

Iris Galey und ihr Vater

Sie lächelte auf Befehl und weinte heimlich: Iris Galey und ihr Vater

Quelle: Privat

Mit 35 wanderte Galey mit ihrem zweiten Mann nach Neuseeland aus. Er wurde dort Anhänger einer Sekte, und sie schrieb fünf Jahre später einen Bestseller. «Ich weinte nicht, als Vater starb» bedeutete den endgültigen Bruch mit der Familie. Ihre Mutter wollte nichts mehr von ihr wissen.

Dafür hörte ihr jetzt die Welt zu. Iris Galey trat im Radio auf, hielt Vorträge an Schulen und nahm 1987 am ersten internationalen Inzestkongress in Zürich teil.

Die Mutter hat sie oft grundlos ins Gesicht geschlagen. Ihr Vater hat sie vergewaltigt. Und trotzdem sagt Iris Galey heute, sie habe den beiden vergeben. Das hat mit dem Dalai Lama zu tun. Und mit der Entdeckung der Liebe. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz, mit 63 Jahren, liess sie sich zur Traumatherapeutin ausbilden.

«Achte auf das Geistige, die Seele»

Iris Galey verbrachte Zeit in einem Kloster in Indien, wo sie sich mit der buddhistischen Lehre auseinandersetzte. Das Leben, sagt sie, sei ein grosses Buch mit vielen Kapiteln. In jedem dieser Kapitel müsse man eine Prüfung bestehen.

«Ich hätte aufgeben können, mich im Selbstmitleid ertränken. Ich habe mich aber gefragt: Weshalb muss ich das durchmachen? Die Antwort lautet: Achte nur auf das Geistige, die Seele, und weniger auf das Materielle. So habe ich die Liebe begriffen.»

Ihre Bücher helfen traumatisierten Menschen weltweit, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Sich nicht mehr zu schämen und zu verstecken. Iris Galey hat das Tabuthema Inzest auf den Tisch gebracht. Und seither viele Nachahmerinnen und Nachahmer gefunden. Zuletzt etwa in Frankreich, wo Camille Kouchner in ihrem Buch «La Familia Grande» die sexuellen Übergriffe ihres berühmten Stiefvaters öffentlich machte und eine grosse Debatte über Inzest lostrat.

Der lange Weg zurück zur Fröhlichkeit

Auch wenn Iris Galey ihren Frieden gefunden hat – ihr nächstes Buch, der offene Brief an den Papst, handelt dennoch von der Wut. Der Wut auf eine Kirche, in der es Missbrauch gab und gibt Zögerliche Aufarbeitung der sexuellen Übergriffe Die Kirche spielt auf Zeit – zulasten der Opfer . Die Menschen in Gläubige und Ungläubige unterteilt. Die aus Stein, Gold und Prunk besteht, die Scheiterhaufen, Ablassbriefe und Folter im Namen Gottes kannte.

Das Buch erzählt aber auch von einer Heilung. Darüber, was es alles gebraucht hat, damit sich Iris Galey nach all den Jahren zur Fröhlichkeit durchkämpfen konnte. Sie widmet es der Lebensfreude, die sie auf der anderen Seite des Schmerzes fand.

Neben dem Küchentisch hängt ein mit einem Blumenkranz bemaltes Holzbrett an der Wand. Darauf geklebt ist ein Foto, darunter steht: 23.11.2012. An diesem Tag heiratete Iris Galey zum dritten Mal.

Während sie an diesem Nachmittag in ihrer Wohnung in einem Basler Aussenquartier ihre Geschichte aufs Tonband spricht, sucht Peter im Hintergrund die Erinnerungsstücke hervor, die während dieser Reise zusammengekommen sind. Etwa das weisse Tuch, das ihr der Dalai Lama um den Hals gelegt hatte, seinerzeit in Dharamsala.

Iris Galey und ihr Schweizer Partner

Nach einer Reise zum Dalai Lama gaben sie sich das Jawort: Iris Galey und ihr Schweizer Partner

Quelle: Privat

Galey besuchte Peters Chorprobe, und Peter sah sie sofort. Als Lokführer hatte er fast ein bisschen Angst, ihr, der Bestsellerautorin und Therapeutin, zu schreiben. Der Zufall sorgte dafür, dass sie sich wieder über den Weg liefen. Und irgendwann nahm er den Mut zusammen, vor ihr auf die Knie zu gehen und sie um ihre Hand zu bitten.

Sie, die Versehrte, zögerte erst. Er gab ihr Zeit. Nach einem weiteren Aufenthalt beim Dalai Lama gaben sich die beiden das Jawort.

«Ich hätte aufgeben können. Doch ich habe die Liebe begriffen.»

Iris Galey, Erfolgsautorin

Als Nächstes steht ein Filmdreh an. Iris Galey macht mit bei einem Projekt der Regisseurin Barbara Miller («Female Pleasure»), in dem es um den sexuellen Missbrauch von Kindern in der eigenen Familie geht. Wegen Corona wurden die Arbeiten letztes Jahr unterbrochen. In der Schublade befinden sich Notizen für weitere Schreibstunden am Laptop.

Iris Galey, vor ein paar Wochen erst 85 geworden, sagt, sie werde nie müde, und lächelt. Ein Lächeln, das nicht mehr gespielt ist. «Ich will anderen Mut machen», sagt sie. Das sei wohl ihre Aufgabe in diesem Leben.

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Peter Aeschlimann, Redaktor
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