Beobachter: Herr Fasel, immer mehr Kinder wachsen arm auf. Ihre Zahl ist in den letzten drei, vier Jahren sprunghaft gestiegen, von gut 100'000 auf fast 150'000. Was ist los?
Hugo Fasel: Wir beobachten schon länger, dass der untere Mittelstand ausfranst. Das bekommen besonders die Kinder zu spüren. Der Druck auf die Familien ist stark gestiegen. Wenn es, wie jetzt, starke strukturelle Veränderungen gibt, werden viele umso schneller in die Armut abgedrängt. Armut hat aber immer eine ganze Palette von Ursachen. Darauf die richtige Antwort zu finden, ist schwierig. Anders als bei der AHV oder der beruflichen Vorsorge kann man nicht nur auf zwei, drei Knöpfe drücken und hat das Problem im Griff.


Wird das Problem denn ernst genug genommen?
Als ich vor zwölf Jahren mit dem ersten Caritas-Armutsbericht zu Bundesrat Pascal Couchepin ging, lächelte er milde – und schubladisierte unser Papier. Auch heute machen noch immer nicht alle Kantone einen Armutsbericht. Man will das Problem nicht wahrhaben.


Dabei sagen alle: Arme Kinder – das darf es doch nicht geben bei uns!
Stimmt. Aber vor der Realität verschliessen leider dann doch viele die Augen. Ein Problem ist, dass man Kinderarmut bei uns in der Schweiz nicht auf den ersten Blick sieht. Man braucht dazu – etwas überspitzt gesagt – ein geübtes Auge. In Ländern wie Haiti ist das einfacher. Dort laufen arme Kinder in Lumpen herum und haben nicht genug zu essen. Armut ist immer relativ.


Was heisst das für uns in der Schweiz?
Ein Beispiel: Wenn armutsbetroffene Familien ein Handy besitzen, hört man gleich: «Wozu brauchen die das? Das ist doch Luxus.» Aber wer heute einen Job finden will, braucht ein Handy und eine E-Mail-Adresse. Ohne das hat man schlechte Karten auf dem Arbeitsmarkt. Zudem hat der Shutdown gezeigt: Kinder, die weder Laptop noch Tablet noch Internet haben, waren vom Unterricht zum Teil ausgeschlossen.


Leiden Kinder besonders unter den Folgen der Pandemie?
Leider ja. Bei Caritas haben wir seit dem Frühling deshalb zwei Dinge gemacht: Wir haben vielen Familien 1000 Franken in die Hand gedrückt. Und wenn sie mit der Miete in Rückstand waren, haben wir ihnen eine Miete bezahlt, damit sie nicht auch noch die Wohnung verlieren.


Immerhin hat sich die Krise bis jetzt nur begrenzt auf den Arbeitsmarkt geschlagen.
Dank der Kurzarbeit. Sie ist ein wunderbares Instrument. Aber wenn einer armen Familie plötzlich 20 Prozent des Einkommens fehlen, ist das fatal. Deshalb versuchen wir alles, damit diese Familien jetzt nicht in die Sozialhilfe abgleiten. Bei vielen machen schon ein paar Hundert Franken pro Monat den Unterschied aus.

«Bei uns herrscht noch immer die Vorstellung, Armut sei selbst verschuldet.»

Hugo Fasel, Ex-Direktor von Caritas Schweiz

Warum ist in der Schweiz Armut ein Tabu?
Weil bei uns immer noch die Vorstellung vorherrscht, Armut sei selbst verschuldet. Deshalb ist sie mit Scham und Schuld belastet. Es ist typisch, dass sich Armut für Ökonomen beschränkt auf Nutzen-Kosten-Analysen und das individuelle Versagen. Ihr Thema ist Erfolg und nicht der Misserfolg. Aber Armut ist ein strukturelles Problem.


Aber wir sind doch nicht am Punkt, an dem wir sagen müssen: Armut ist auch bei uns wieder vererbbar.
Doch, das sind wir. Die Annahme, dass man sich nur Mühe geben muss, und dann fährt man sozial mit dem Lift nach oben, ist für die allermeisten eine Illusion. Das birgt auch sozialpolitischen Sprengstoff. Man muss sich bewusst sein: Armut macht empfänglich für Extremismus. Leute, die sich an jeden Strohhalm klammern müssen, sind auch für Populismus sehr empfänglich. Ich fürchte, das ist ein Grund dafür, warum der heute so salonfähig geworden ist: Wer angibt, mich zu unterstützen, dem folge ich, auch wenn das auf längere Sicht der grösste Blödsinn ist.


Was läuft in der Sozialpolitik falsch?
Sozialpolitik, wie wir sie verstehen, müsste vor allem national stattfinden. Aber der Bundesrat weigert sich bis heute, ein Armutsprogramm aufzusetzen, das diesen Namen verdient. Man hat es sogar noch zusammengestrichen, von zehn Millionen auf zwei. Das sind lächerliche Dimensionen.


Was muss sich ändern?
Der Bund muss sich an der Finanzierung beteiligen. Erst dann wird es echte Fortschritte geben und damit auch Verbesserungen für die Kinder. Es ist wie bei den Kitas: Erst als sich der Bund eingemischt hat, ist etwas passiert.


Dann muss aber noch einiges geschehen: In der EL-Revision, die 2021 in Kraft tritt, wurde die Kinderunterstützung gekürzt.
Deshalb unterstützen wir auch die Idee von Ergänzungsleistungen (EL) für Familien, wie sie bereits in vier Kantonen umgesetzt wird. Während der Corona-Zeit haben wir auch ins Parlament getragen, dass Direktzahlungen von einer Milliarde Franken für Familien notwendig sind; der Vorstoss ist noch nicht behandelt. Damit Familien nicht in die Sozialhilfe kippen, müssen sie gestützt werden, indem sie Anspruch auf EL haben – wie Rentner.

«Jedes Kind hat Anspruch darauf, in unsere Gesellschaft integriert zu werden.»

Hugo Fasel, Ex-Direktor von Caritas Schweiz

Mit Müh und Not wurde eben erst die Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose eingeführt. Nun fordern Sie bereits einen weiteren Ausbau des Sozialstaats. Ist das nicht naiv?
Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Es geht nicht um den Ausbau des Sozialstaats, sondern um eine Investition in unsere Kinder, die ihr ganzes Berufsleben noch vor sich haben. Es ist eine Investition in eine funktionierende Gesellschaft. Man darf nie vergessen: Kinder können nichts dafür, dass ihre Eltern arm sind. Das müssen auch die individualistischen Götter der Ökonomie endlich zur Kenntnis nehmen. Jedes Kind hat Anspruch darauf, in unsere Gesellschaft integriert zu werden. Die neue Kinderarmut ist aber ein Rückfall in alte Zeiten und untergräbt fundamental das Prinzip der Chancengleichheit.


Kennen Sie persönlich arme Familien?
Ohne das könnte ich diesen Job nicht machen. Man kann nicht über Armut sprechen, ohne betroffene Menschen und ihre Probleme persönlich zu kennen.


Wie kommt der Kontakt zustande?
Es kommt immer wieder vor, dass mich die Leute anrufen. Man weiss ja: Der Fasel ist offen für alle. Das geht dann etwa wie bei jener Nonne, die aus ihrem Orden austreten wollte, kurz vor der Pensionierung. Sie bekomme nur eine Minimalrente, aber sie besuche Kranke und gehe auf Begräbnisse – viele gaben ihr ein Fünfzigernötli. In der Corona-Zeit gab es aber keine Beerdigungen mehr, keine Krankenbesuche. Sie brauchte Hilfe. Bei solchen Geschichten ist es nicht damit getan, sie am Telefon zu hören oder in einer Mail zu lesen. Man muss zusammensitzen und sich Zeit nehmen.


Sie sind soeben als Caritas-Direktor zurückgetreten. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Auch wenn ich mich jetzt wieder beklagt habe: Insgesamt geht es vorwärts. Bei meinem Amtsantritt vor zwölf Jahren hat niemand über Armut in der Schweiz gesprochen. Jetzt gibt es keine Weihnachtszeit mehr, ohne dass das Thema diskutiert wird. Ich bin schon etwas stolz darauf, dass das der Caritas gelungen ist.


Wie fällt Ihre persönliche Bilanz aus?
Esoteriker würden sagen: Es ist sehr viel Energie zurückgekommen. Ich hatte das Glück, die gesellschaftlichen Realitäten eins zu eins aufnehmen zu können. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Und ich gebe jetzt ja nur den institutionellen Teil meiner Arbeit ab, mein Engagement bleibt. Die Harddisk kann man bei mir nicht mehr umprogrammieren.


Was ist Ihnen nicht gelungen?
In der Klimafrage weiterzukommen. Wie die Armut ist auch das Klima eine Frage der Gerechtigkeit: Der Norden produziert CO2, der Süden hat die negativen Folgen. Es ist uns bisher nicht genügend gelungen, die Klimafrage mit der sozialen Frage zu verknüpfen. Hier gibt es noch sehr viel zu tun.

Zur Person

Hugo Fasel, 65, ist nach zwölf Jahren im Amt auf Ende Oktober als Direktor von Caritas Schweiz zurückgetreten. Davor war der Freiburger langjähriger Nationalrat der CSP.

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