Einzelne fühlten sich «unwohl». Das genügte, um in Bern Musiker von der Bühne zu holen und sie in Zürich erst gar nicht auftreten zu lassen. Frisuren hatten das diffuse Unwohlsein ausgelöst, die Dreadlocks weisser Musiker. Das sei eine «kulturelle Aneignung», die schwarze Menschen verletze. Die musste weg, sofort. 

Die Veranstalter zogen die Reissleine nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst. Um nichts falsch zu machen. «Wir hatten und haben noch keine Haltung als Kollektiv zum Thema kulturelle Aneignung», erklärten die Verantwortlichen des Zürcher Lokals. Es beschleicht einen «Unwohlsein» angesichts von so wenig Rückgrat. 

«Wokeness» und ihr böser Zwilling, die «Cancel-Culture», haben jetzt auch die Schweiz mit voller Wucht getroffen. An sich fordert die in den USA erblühte Woke-Bewegung Hehres: Erwachen und Wachsamkeit – Wokeness – gegenüber Rassismus, Sexismus und anderen Übeln. Um sie im Alltag zu erkennen und zu bekämpfen.

Das heisst aber auch, dass man eine offene Auseinandersetzung darüber führt, wieso eine «kulturelle Aneignung» ein Problem sein soll. Doch das macht offenbar «unwohl». Es könnte ja rauskommen, dass man falschliegt, was die vielfältigen kulturellen Hintergründe der Dreadlocks betrifft. Und was die angeblichen Opfer angeht. Auf der Reggae-Insel Jamaika fühlt sich kaum jemand seiner Identität beraubt, wenn Weisse Dreads tragen. 

Kein Gesprächsbedarf

Dass es auch anders geht, haben die Veranstalter eines SP-Festes in Zürich gezeigt. Sie knickten nicht ein, das Reggae-Konzert mit weissem Dreadlocks-Sänger ging Ende August über die Bühne. Wer sich «unwohl» fühlte, konnte sich mit den Organisatoren austauschen – niemand kam. Dafür feierte ein schwarzer Dreadlocks-Träger und Ex-Reggae-Sänger seinen Geburtstag am Fest. Die Veranstalter wollen sich mit «kultureller Aneignung» weiter befassen. Hoffentlich im Austausch mit tatsächlich oder angeblich Betroffenen.

Die Idee, kulturelle Ausdrucksformen als Eigentum bestimmter Ethnien zu deklarieren, ist verwegen und gefährlich. Sie zementiert kulturelle Stereotype geradezu und lenkt vom wirklichen Problem ab: der kulturellen und menschlichen Ausbeutung. Durch Modekonzerne wie Zara oder Mango zum Beispiel, die Billigstkleidung für die ganze Welt produzieren und dafür traditionelle Produkte und Muster indigener Völker schamlos kopieren.

Der wohl gewichtigste Vorwurf gegen Woke-Aktivisten aber ist die Verantwortungslosigkeit gegenüber den Folgen ihres Handelns. Was passiert nach einer Cancel-Aktion mit weissen Dreadlocks-Trägern? Verbessert sich irgendwas, wenn sie sich die Haare abschneiden? Müssen sie Nachteile in Kauf nehmen, etwa bei der nächsten Stellenbewerbung? Sind Arbeitgeber woke genug, um kruden Vorwürfen die Stirn zu bieten? 

Die Eskalation

Cancel-Culture ist ein schleichendes Gift. Und provoziert verheerende Gegenreaktionen: Kommentatoren geisseln «linken Faschismus», man will Lokale boykottieren oder Subventionen streichen. Es laufen Strafanzeigen aufgrund von «Rassismus gegen Weisse». Das sind Muster, die an unselige Verhältnisse in den USA erinnern.

Weitere «kulturelle Aneignungen» werden neue Konflikte provozieren, zeigt ein Blick über den Grossen Teich. Das aus Indien stammende Yoga zum Beispiel, die wohl grösste «kulturelle Aneignung» der letzten Jahrzehnte. Oder die beliebten Tribal-Tätowierungen, abgekupfert von Kulturen indigener Völker. Ein Identitätsdiebstahl, der gestoppt werden muss? Oder eine kulturelle Bereicherung, die Verständnis für andere Ethnien fördert und Menschen einander näher bringen kann? 

Wer wirklich woke sein will, sollte sich auch mit den Chancen kultureller Aneignung befassen, eigene Mythen und auf ewig angelegte Opferbilder hinterfragen. Debatten auf Augenhöhe helfen, Rassismus zu überwinden. Canceln aus dem Schützengraben wird sie verhindern.

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Peter Johannes Meier, Ressortleiter
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